Alle die Bonaventura mehr als flüchtig kennen, wissen von der Begeisterung des Nachtwächters für „Moby-Dick“ und insbesondere auch für die Übersetzung des Buches durch Friedhelm Rathjen. Anfang des Jahrhunderts gab es um die Publikation dieser Übersetzung eine Art von Walkampf, als im Auftrag des Hanser-Verlags Rathjens Übersetzung von Matthias Jendis so weit ins sogenannte Lesbare bearbeitet wurde, dass Rathjen seinen Namen mit dieser Fassung nicht mehr verbunden wissen wollte. Es erschienen daraufhin relativ kurz nacheinander zwei Versionen der Rathjenschen Übersetzung: Bei Hanser die geglättete Fassung als Übersetzung von Matthias Jendis, bei Zweitausendeins eine mit Einverständnis des Übersetzers durch Norbert Wehr lektorierte Fassung der letzten Fassung, die Rathjen im Jahr 2001 erstellt hatte. Diese lektorierte Fassung durchlief weitere Ausgaben bei Mare, im Fischer Taschenbuch und zuletzt bei Jung und Jung.1
Nun ist auch dieser letzte Druck vergriffen, und Rathjen bietet in seiner eigenen Ǝdition RejoycE den von keinem Lektorat angetasteten Text seiner Übersetzung an, also in etwa so, wie er nach seinem Willen schon 2001 hätte erscheinen sollen. Rathjen selbst betont, dass diese Edition keine Distanzierung von der lektorierten Übersetzung darstellen soll und wohl nur für einen kleinen Kreis von Interessierten gedacht sein kann, so dass sie auf einmalig 99 nummerierte und vom Übersetzer signierte Exemplare beschränkt wurde. Wer sich zu diesem Kreis zählt oder wer auch nur neugierig ist, kann das Buch im stationären Buchhandel oder auch per E-Mail direkt beim Verlag bestellen.
Herman Melville: Moby-Dick; oder: Der Wal. Die ungehobelte Ur-Übersetzung von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2025. Bedruckter Pappband, limitiert auf 99 Exemplare, 595 Seiten. 100,– €.
Eine ausführlichere Einschätzung des Walkampfs findet sich in meiner Besprechung der Ausgabe bei Jung und Jung. ↩︎
Das erste Buch, das ich von George Sand lese, und auch diesmal nicht um der Autorin, sondern der Übersetzerin willen. Der Eindruck, den es gemacht hat, ist zwiespältig:
Einerseits kann man Sand nur in ihrer Selbsteinschätzung zustimmen: „Ich schreibe leicht und gern.“ Das Buch ist offenbar rasch und ohne großen Anspruch auf formale Kunstfertigkeit geschrieben, sprich: Es handelt sich im Grunde um anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur, wie sie in jedem Zeitalter verfasst und mehr oder weniger rasch vergessen wird. Die sprachliche Qualität des Originals kann ich nicht wirklich beurteilen; allerdings nehme ich an, dass die grammatikalischen und stilistischen Ecken und Kanten des deutschen Textes von der Autorin beabsichtigt und von der Übersetzerin getreulich übertragen wurden. Das allein ist schon kein kleiner stilistischer Aufwand.
Andererseits enthält der Roman Passagen, die einen ernsthaften Versuch einer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und ihren Folgen darstellen, wie auch immer man sich zur Darstellung und der Figurenrede stellen möchte. Die Meinungen, die aufeinanderprallen, bleiben im Grunde naiv, aber sie sind den Figuren und ihrer sozialen und politischen Stellung angepasst, und so kann man sie gelten lassen. Und natürlich ist Nanon eine auch 1872 noch außergewöhnliche Protagonistin, wenn ihr ihr Schicksal auch ein bisschen zu sehr von der Autorin zurechtgeschrieben wurde.
Erzählt wird die Geschichte als Ich-Erzählung der Bäuerin Nanon, 1775 geboren, bald Waise, die bei einem Großonkel aufwächst und nun im Jahr 1850 auf ihr Leben zwischen 1789 und 1795 zurückblickt. Sie ist inzwischen reich und lebenssatt, Mutter und Großmutter, trägt den Titel einer Marquise – „Ich bleibe Bäuerin. Auch ich habe meinen Standesstolz!“ (S. 344) –, kommt mit ihren Freunden und Verwandten sowohl des ersten als auch des dritten Standes aus und ist überhaupt die ideale Mutter der Nation. Wie das alles gegen jede Wahrscheinlichkeit gekommen ist, kann man getrost selbst nachlesen; die Fabel ist so gut oder schlecht erfunden, wie jede beliebige von Dumas oder Sue.
Am meisten leidet der Roman aus heutiger Sicht wohl unter der fast vollständigen inneren Konfliktlosigkeit der Protagonistin, die ebenso gut wie langweilig bleibt. Natürlich ist sie – wie die meisten Protagonisten des 19. Jahrhunderts – wesentlich Verkörperung eines Ideals; der einzige Zweifel, den sie hegt, entspringt aus ihrer demütigen Selbsteinschätzung, dass sie nicht gut genug ist für den Mann, den sie liebt, wodurch sie natürlich gerade geadelt wird. Tritt man also einen Schritt zurück, so ist das alles recht schematisch und an keiner Stelle wagt die Autorin einen echten Konflikt mit der Vorurteilen ihrer Zeit: „Wenn Émilien mein Gatte ist, wird er auch mein Gebieter, und ich gehorche ihm gern.“ (S. 343) Wenn das wenigstens als ironisch markiert wäre, aber so wäre es besser fortgelassen worden, denn die Lücke ersetzte die Plattitüde mehr als vollständig.
Ich hatte es schon gesagt: „zwiespältig“ – eine historisch interessante Lektüre, sowohl was die Französischen Revolution als auch was die Literargeschichte angeht. Dennoch sollte man nicht zu viel Außergewöhnliches oder wirklich Originelles erwarten, aber auch keine Abenteuerscharteke à la Dumas – hier weiß die Autorin das Schlimmste gerade noch zu verhindern.
George Sand: Nanon. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2025. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 495 Seiten. 38,– €.
Zu Eça de Queirós existiert eine literarhistorische Anekdote, die ein Licht auch auf den hier besprochenen Roman wirft: Als 1988 Hans Magnus Enzensberger zwei Romane des Portugiesen in der Anderen Bibliothek herausgab („Treulose Romane“, Nördlingen: Franz Greno, 1988) verzichtete er bei „Basilio“ (O Primo Basilio, 1878) darauf, die vollständige Übersetzung durch Rudolf Krügel (1957) wieder abzudrucken, sondern griff auf die stark gekürzte Übersetzung von Helmut Hilzheimers (1956) zurück und rechtfertigte diese Wahl unter Rückgriff auf die harsche Kritik des Romans durch den Autor selbst. Wenn man das einmal im Kopf hat, fällt es schwer, sich nicht ein ähnliches Vorgehen für „Die Maias“ zu wünschen.
„Die Maias“ (1888) gilt heute als Eça de Queirós’ Hauptwerk und brachte ihm zumindest in der deutschen Literarhistorie den Ruf ein, der portugiesische Thomas Mann zu sein. Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte Carlos de Maias, des Spätlings einer alten portugiesischen Adelsfamilie, der sich, nachdem seine Mutter mit einem Italiener wegläuft und sich sein Vater daraufhin selbst tötet, in jungen Jahren entschließt, ein eher bürgerliches Leben zu führen, und deshalb Medizin studiert und sich nach der unter Adeligen üblichen Europareise 1875 als praktischer Arzt in Lissabon niederlässt. Er bezieht zusammen mit seinem Großvater, bei dem er nach dem Tod des Vaters aufgewachsen ist, ein herrschaftliches Stadthaus, und obwohl er „wirklich die ernste Absicht zu arbeiten“ hat, versumpft er sehr bald im Müßiggang. Die einzige ernsthafte Beziehung, die er hat, ist die zu seinem Jugendfreund João da Ega, einem zwar begabten, aber immer nur dilettierenden Schriftsteller. Der Autor möchte dieses Freundespaar als eine Variante des Paares Faust und Mephisto verstanden wissen, was aber angesichts der Fabel des Romans nur eher eine vage Parallele bleibt. Dennoch muss man wohl feststellen, dass die Beziehung dieser beiden Männer das eigentliche Zentrum des Romans bildet, wenn sich das Buch auch gern als Familien-, Liebes-, Gesellschafts- und erotischer Roman ausgeben möchte.
Dem Müßiggang überlassen folgt Carlos nach einigem Widerstand dann doch dem Vorbild Egas und beginnt eine Affäre mit einer verheirateten Frau, nur um ihrer, wie er erwartet hatte, nach kurzer Zeit überdrüssig zu werden. Nahezu gleichzeitig begegnet er einer anderen Frau, die ihn auf den ersten Blick tief fasziniert. Die Männerwelt Lissabons (also eigentlich nur Carlos, Ega und ein weiterer Mann) vermutet in ihr eine verheiratete Brasilianerin, was sich aber als komplett falsch erweist. Als der vermutete Ehemann in Geschäften für Monate nach Brasilien reist und Frau und Tochter in Lissabon zurücklässt, kommt es rasch zu einer Bekanntschaft zwischen Carlos und Maria, die ihn zuerst in seiner Funktion als Arzt in ihr Haus bittet. Es stellt sich heraus, dass Maria nur die Geliebte des Brasilianers ist, ihre Tochter einen anderen zum Vater hat, der Maria aber auch nicht geheiratet hatte, bevor er im Krieg von 1870/71 auf französischer Seite gefallen ist. So scheint nichts einem glücklichen Leben im Wege zu stehen, und Carlos verzichtet nur aus Rücksicht auf das Standesbewusstsein seines Großvaters auf eine sofortige Heirat.
Natürlich muss diese vollkommene Liebe – „Alles an ihr war stimmig, gesund, vollkommen … Und wie köstlich musste bei dieser äußeren Erhabenheit erst die Glut ihrer Leidenschaft sein!“ – scheitern: Eine wie zufällig in Lissabon auftauchende Randfigur unterrichtet Ega von der den beiden Liebenden (aber leider nicht dem aufmerksamen Leser) unbekannten Tatsache, dass Carlos und Maria Geschwister sind. Die ganz große Tragödie bleibt zwar aus – wie überhaupt immer wieder bedeutende Skandale sorgfältig vorbereitet und dann im entscheidenden Moment gerade noch abgewendet werden –, aber Carlos’ Großvater stirbt über der Enthüllung an einem Schlaganfall, Carlos begibt sich auf eine Weltreise, Maria wird von ihm nach Frankreich geschickt, wo sie spät eine vernünftige und friedliche Ehe findet. Nach zehn Jahren kehrt Carlos für einige Zeit nach Lissabon zurück, und auf der letzten Seite versucht er mit Ega noch die letzte Straßenbahn zu erreichen, die ihnen vor der Nase weggefahren ist.
In all das eingeflochten finden sich diverse Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben Lissabons, nicht ohne Witz und hier und da auch ironische Schärfe, aber nicht gehaltvoll genug, um diesen Roman von über 800 Seiten tatsächlich zu tragen. Als Leser des 20. Jahrhunderts hat man das alles schon sehr bald verstanden, versteht auch die erste und zweite Wiederholung des gesellschaftlichen Leerlaufs, aber dann wird das Ganze doch zu langatmig. Sicherlich quält der Autor uns mit den endlosen Wiederholungen, weil sie eben ihn und seinen Protagonisten endlos quälten, aber soweit geht die Sympathie denn doch nicht, dass man das wirklich mit ihnen durchleben möchte. Nicht dass das Buch komplett ohne Witz wäre:
Das unerträgliche am Realismus [gemeint sind hier die Romane Zolas] seien sein wissenschaftliches Gehabe, seine prätentiöse, sich von einer fremden Philosophie ableitende Ästhetik und die Berufung auf Claude Bernard, den Experimentalismus, den Positivismus, auf Stuart Mill und Darwin, wenn es um eine Wäscherin ging, die mit einem Schreiner schlief!
S. 202
Nur sind solche Stellen, die, wie ich gern zugebe, für manches entschädigen, leider viel zu selten.
José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. München: Hanser, 2024. Leinenband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 944 Seiten. 44,– €.
»Hast du jemals Proust gelesen?« fragte er sie. »Ich hab’s versucht, aber er langweilt mich.« »Er ist wirklich außergewöhnlich.« »Möglich! Aber er ist mir zu langweilig: all diese Sophisterei! Er hat keine Gefühle, er hat nur endlose Worte über Gefühle. Ich bin diese überheblichen Mentalitäten leid.«
D. H. Lawrence
In der Welt von Madame Swann
Wir alle sind gezwungen, einige kleine Dummheiten in uns zu nähren, um die Wirklichkeit erträglich zu machen.
Der zweite Band des Zyklus setzt unmittelbar dort ein, wo der erste aufgehört hatte: Bei der Liebe des Erzählers Marcel zu Gilberte Swann. Es gelingt ihm wider Erwarten Zugang zur Familie Swann zu finden (wie zuvor schon erwähnt, stehen sich die Familien des Erzählers und der Swanns nicht mehr nahe) und ein regelmäßiger Gast bei Gilbertes Tee-Gesellschaften zu werden. Außerdem wird er trotz seinen jungen Jahren ein Mitglied des Salons von Odette Swann, die sich langsam, aber sicher in der Gesellschaft nach ober arbeitet. Auch als sich Marcel nach einer verärgerten Reaktion Gilbertes entschließt, sie nicht mehr wiedersehen zu wollen, verbleibt er im Umfeld von Madame Swann. Dort lernt er auch den von ihm hochgeschätzten Schriftsteller Bergotte persönlich kennen, dessen Person zwar in einer radikalen Widerspruch zu dem Bild steht, das sich Marcel anhand der Lektüre der Werke von ihm gemacht hat, der aber den jungen Mann schätzt und ein wichtiger Einfluss auf dem Weg Marcels zu seinem eigenen Schriftstellertum wird.
Weite Strecken dieses Teils sind gefüllt mit Reflexionen, Hoffnungen und Fantasien Marcels, die sich aus seiner Trennung von Gilberte ergeben, die immer und immer wieder gewendet und neu formuliert werden. Dagegen bleibt Marcels offensichtliches Interesse an Madame Swann von einer erzählerischen Durcharbeitung weitgehend verschont.
Ländliche Namen: Das Land
Vielleicht sind ja manche Meisterwerke unter Gähnen entstanden.
Der zweite Abschnitt dieses zweiten Buches spielt in Balbec, einem fiktiven Seebad, in das der Erzähler mit seiner Großmutter reist, um seine schwächlichen Gesundheit auf die Sprünge zu helfen. Der Erzähler hatte sich alnge schon danach gesehnt, die Kirche von Balbec zu sehen, von der er schon lange phantastische Vorstellungen hegt; abermals wird er von der Realität zuerst enttäuscht, dann aber von einem ästhetisch profunderem Geist angeleitet, das Besondere im Allgemeinen zu erkennen. Im Wesentlichen lernt der Erzähler außer drei Männern (Robert von Saint-Loup, den Baron von Charlus und den Maler Elstir) eine Gruppe junger Mädchen kennen, von denen er sich nach einigem Hin und Her in eine verliebt: Albertine. Er versucht sie zu küssen, sie klingelt nach dem Personal.
In den ästhetischen Reflexionen findet sich hier der Übergang von der Architektur – zuvor in der Hauptsache repräsentiert durch Kirchen – zur Malerei – repräsentiert durch die Figur Elstirs, einer Mischung hauptsächlich aus Whistler und Turner mit ein wenig Monet und Manet –, der, wie zuvor der Schriftsteller Bergotte, als zeitweiliger Nestor des jungen Erzählers fungiert.
Es liegt natürlich an mir, aber auch nach 1.300 Seiten kann ich mich nicht für den Erzähler interessieren. Das Buch wird ein klein wenig lebendiger, als Albertine auftritt, deren Sprache den Text wie ein frischer Wind durchweht. Aber so gleich geht es wieder über Seiten und Seiten hinweg um Ereignisse, Figuren und Gedanken, die mir vollständig gleichgültig bleiben. Wie überaus fein ziseliert, wie überaus langweilig. Es wird nun eine erhebliche Weile dauern, bevor ich den dritten Band in die Hand nehmen werde.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 2: In Schatten junger Mädchenblüte. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 834 Seiten. 32,95 €.
Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor.
Theodor W. Adorno
Ich habe mich bislang mit dem Einstieg in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehr schwer getan. Seit meiner Studienzeit (in der meine damalige Freundin den gesamten Zyklus in vergleichsweise kurzer Zeit komplett gelesen hat) sind mehrfache Anläufe zur Lektüre immer wieder gescheitert. Ich habe dafür zum einen der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens die Schuld gegeben, mit deren Deutsch ich mich nie recht anfreunden konnte, auch nicht nach der Überarbeitung der Übersetzung durch Luzius Keller; ich habe mich stets bemüht, aber wie der Dichter sagt: „Du hast nun die Antipathie!“ Und nun extra noch Französisch zu lernen, wäre doch ein zu fantastischer Einfall gewesen. Zum anderen bin ich immer erneut an dem mir nur schwer verdaulichen ersten Teil Combray gescheitert, dessen Handlungslosigkeit ich noch tolerieren konnte, dessen selbstverliebte Tendenz zu Klatsch und Tratsch ich aber nicht die ironische Distanz abgewinnen konnte, die Proust vermutlich dem französischen Text mitgegeben hat. Auch hier schien die Übersetzung wenigstens für mich nicht gut genug.
So habe ich es mit großer Freude gesehen, dass bei Reclam seit 2013 mit schöner Regelmäßigkeit die sieben Bände der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erschienen. Die ersten Kritiken waren zwar nicht gut, da die meisten Kritiker aber zugleich die mir sprachlich widrige Rechel-Mertens lobten, derweil sie Fischer schmähten, hatte ich den unbelehrten Verdacht, dass diese Kritiken wenigstens an meiner zukünftigen Lektüre würden vorbeigeschrieben sein. Und so habe ich im vergangenen Jahr sehr, sehr langsam begonnen, endlich einen Einstieg in die „Recherche“ zu finden.
Combray
Auch in mir sind viele Dinge zerstört worden, von denen ich geglaubt hatte, sie währten ewiglich, und neue haben sich aufgebaut, die neue Schmerzen und Freuden hervorbrachten, die ich damals nicht hätte erahnen können, ganz so wie mir die alten schwer verständlich geworden sind.
Dieser erste der drei Teile des ersten Bandes liefert sowohl eine poetologische Hin- als auch eine praktische Durchführung des Grundthemas Erinnerung, das den gesamten Zyklus bestimmt. Der vorerst noch namenlose Ich-Erzähler beginnt mit den halb traumhaften Bewusstseinszuständen beim Einschlafen über der abendlichen Lektüre im Bett, in denen sein Schlafzimmer in Combray, wo er die Sommer seiner Kindheit und Jugend zusammen mit seinen Eltern im Haus seiner Tante Léonie zugebracht hat, eine wiederkehrende Rolle spielt, und kommt dann zu dem berühmten Moment, als ihm der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine die Erinnerung an die gesamte Zeit in Combray zurückbringt. Die sich anschließende Darstellung dieser Erinnerungen ist, wie bereits gesagt, weitgehend handlungsfrei und kreist um zahlreiche Motive: Klatsch und Tratsch seiner Tante über die Bewohner des Städtchens, die Hypochondrie der Tante, die seit Jahren die meiste Zeit im Bett zubringt, ihre Köchin Françoise und deren Hass-Liebe zur Tante, der Nachbar Swann und seine Tochter Gilberte, die erste Verliebtheit des Erzählers, seine frühen sexuellen Sehnsüchte, seine Lektüre und sommerliches Nichtstun, Spaziergänge in der Umgebung und die damit einhergehende Naturerfahrung, die Bewunderung von Kircharchitektur und -fenstern und auch das Interesse an historischen Figuren und der Sphäre des Adels, die der Erzähler vorerst noch als einen entrückten halb historischen, halb gesellschaftlichen Hintergrund empfindet.
Nun verstehe ich auf einer abstrakten Ebene sehr wohl, warum all das so gestaltet ist, und warum es zwar beliebig erscheint, angesichts des Grundthemas aber nur so sein kann, wie es ist, aber es ist mir bei der aktuellen Lektüre auch klar geworden, dass mein hauptsächliches Problem mit Combray nicht in der Übersetzung wurzelt, sondern dass mich die Figuren zu wenig interessieren. Es wird im letzten Drittel dieses ersten Teils besser, wenn das jugendliche Ich des Erzählers soweit herangereift ist, dass erste Reflexionen zur Natur und vage sexuelle Empfindungen auftauchen, doch das Provinzielle und insbesondere das Personal Combrays ist mir zu fad. Natürlich habe ich den Verdacht, dass dieser erste Teil im Rückblick bzw. bei einem zweiten Durchgang nach der Gesamtlektüre des Zyklus einen komplett anderen Eindruck machen wird. Dennoch stellt Combray für mich eine echte Hürde beim Einstieg in den Romanzyklus dar.
Eine Liebe von Swann
»Er ist ja nicht direkt hässlich, wenn Sie so wollen, aber auf irgendeine Weise lächerlich: dieses Monokel, dieses Toupet, dieses Lächeln!«
Es dürfte bekannt sein, dass es sich bei diesem zweiten Teil des ersten Bandes um einen Roman im Roman handelt: Im Zentrum steht die erste Zeit der Verliebtheit Charles Swanns, den wir aus Combray als alten Bekannten und Nachbarn der Familie des Erzählers kennen, in die junge Odette de Crécy, mit der er in Combray verheiratet ist und eine Tochter hat. Swann selbst ist gesellschaftlich ein Wanderer zwischen den Welten, stammt aus einer reichen jüdischen Familie, verlebt sein Erbe, arbeitet als freier Kunsthistoriker und verkehrt in allen gesellschaftlichen Schichten von Paris bis zu den sogenannten höchsten. Er ist ein Frauenheld, bevorzugt normalerweise junge Frauen aus der Arbeitsschicht, verschaut sich aber in Odette, auch wenn sie eigentlich nicht seinem Frauentyp entspricht.
Um sie regelmäßig sehen zu können, beginnt er im Salon des Ehepaars Verdurin zu verkehren, das sich mit einem kleinen Kreis aus Akademikern und Künstlern umgeben hat, zu dem auch Odette eher zufällig gehört. Odette lässt sich von diversen Männern aushalten und erweist im Gegenzug wohl auch regelmäßig Liebesdienste, was Swann aber für lange Zeit zu ignorieren versteht, bis es zu einer konstanten Quelle der Eifersucht für ihn wird, als er bei Odette aus der Rolle des Favotiten herauszufallen beginnt. Weder nach seinem Bildungsstand noch seinem sonstigen gesellschaftlichen Umgang passt Swann in den Kreis der Verdurins, so dass hier ein distanziertes Portrait des Großbürgertums entsteht. Ergänzt wird dieses gesellschaftliche Bild durch einen Abend bei der Marquise von Saint-Euverte, deren Einladung Swann nur folgt, um sich von seinem Unglück mit Odette abzulenken. Dieser künstlerische Abend – es wird ein junger Pianist vorgeführt – liefert eine bitterböse, detaillierte Satire der Hautevolee.
Die Erzählung – die interessanterweise offenbar ebenfalls vom Erzähler von Combray erzählt wird, der hier quasi als auktorialer Erzähler auftreten muss – endet, ohne dass der innere Konflikt Swanns, der Odette offensichtlich weiterhin liebt und sich zugleich in seiner Eifersucht nicht von ihr lösen kann, während sie längst zu anderen Männern weitergezogen zu sein scheint, aufgelöst wird. Die Leser erfahren nicht, wie es dazu gekommen ist, dass Swann Odette geheiratet hat, was ihn in den Augen seiner Nachbarn in Combray gesellschaftlich ruiniert hat, während Swann in Paris tatsächlich auch weiterhin in den höchstens Kreisen geschätzt wird und dort verkehrt.
Ländliche Namen: Der Name
… wenn eines Tages in diesem meinem allzu wohlbekannten, geringgeschätzten Leben Gilberte die ergebene Dienerin werden würde, eine praktische und bequeme Mitarbeiterin, die mir am Abend bei der Arbeit helfen und in meine Veröffentlichungen die Seitenzahlen eintragen würde.
Der dritte Teil des Romans erzählt in der Hauptsache von der Liebe des etwa 15-jährigen Ich-Erzählers zu Gilberte Swann, die er regelmäßig zu sportlichem Spiel in den Champs-Élysées trifft, während zwischen den beiden Familien der Jugendlichen kein gesellschaftlicher Kontakt mehr besteht. Ergänzt wird dieser Hauptteil durch eine Einleitung, die dem Teil seinen Titel gibt, in dem der Erzähler von seinen frühen Fantasien um Ortsnamen herum (Balbec, Florenz, Venedig) berichtet, und einer Art von Epilog, in dem das Hauptthema Erinnerung wieder aufgenommen wird und der Erzähler einen sentimentalen Blick auf Erinnerung an die Jahre seiner Jugend wirft:
Die Wirklichkeit, die ich gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es genügte schon, dass Madame Swann nicht völlig unverändert im gleichen Augenblick erschien, und die Avenue war eine andere. Die Stätten, die wir gekannt haben, gehören nicht allein der räumlichen Welt an, in die wir sie der Einfachheit halber einbetten. Sie waren nur ein schmales Segment inmitten der zusammenhängenden Eindrücke, die unser damaliges Leben ausmachten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.
S. 584 f.
Wie schon gesagt ist dieser erste Teil der Recherche extrem handlungsarm; selbst Eine Liebe von Swann, in dem noch am ehesten so etwas wie eine traditionelle chronologische Entwicklung gefunden werden kann, ist zum Großteil gefüllt mit Reflexionen und Schilderungen innerer Zustände. Die Erzählung ist in allen Teilen sowohl inhaltlich als auch formal bewundernswert dicht, wenn auch nicht frei von Redundanzen. Es wird sich zeigen müssen, ob diese Art von Innerlichkeit über alle sieben Bände des Romans tragen wird.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 694 Seiten. 29,95 €.
„David Copperfield“ (1849/50) ist wahrscheinlich der beliebteste Roman von Charles Dickens und gehört damit auch zu den am häufigsten ins Deutsche übersetzten (die Wikipedia-Seite führt, die vorliegende Übersetzung eingeschlossen, zwanzig deutschsprachige Übertragungen bzw. Bearbeitungen auf). Nun legt Melanie Walz, deren Übersetzungen ich bislang durchweg gelungen fand, eine weitere deutsche Fassung vor, die leider nur als oberflächlich und fehlerhaft bezeichnet werden kann. Es handelt sich dabei nicht nur um Stellen, bei denen man stilistisch anderer Auffassung sein kann, sondern leider um zahlreiche Fehler, die sich nur mit einer zu flüchtigen Übersetzungsarbeit und einem mangelhaften Lektorat erklären lassen:
Seite (Walz)
Original
Übersetzung Walz
79
to have any duties imposed upon you that can be undertaken by me.
um dich Aufgaben zu unterziehen, die ich nicht übernehmen kann.
123
but I did them, there being no Mr. and Miss Murdstone here, and got through them without disgrace.
aber es gelang mir, weil kein Mr. Murdstone und keine Miss Murdstone zugegen waren, und [ich] kam gut zurecht.
165
I had my own old plate, with a brown view of a man-of-war in full sail upon it, which Peggotty had hoarded somewhere all the time I had been away,
Ich bekam meinen eigenen alten Teller mit einer braun getönten Ansicht eines Kriegsschiffs unter vollen Segeln, das [recte: den] Pegotty während meiner Abwesenheit irgendwo versteckt hatte
216
informing her, I recollect, that I never could love another,
und wie ich mich erinnere, erklärte mir [recte: ihr], dass ich nie eine andere lieben würde
324
As she would not hear of staying to dinner, lest she should by any chance fail to arrive at home with the grey pony before dark;
Da sie nicht zu überreden war, zum Essen zu bleiben, um auf keinen Fall [zu verfehlen,] mit dem grauen Pony vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukommen,
327
and almost as stiff and heavy as the great stone urns that flanked them, and were set up, on the top of the red-brick wall, at regular distances all round the court, like sublimated skittles, for Time to play at.
und fast so steif wie die großen steinernen Vasen, die daran entlang in regelmäßigen Abständen auf der roten Ziegelmauer thronten, sinnbildhafte Figuren, mit denen die Zeit Kegel spielen durfte. [recte: veredelte Kegel, auf dass die Zeit mit ihnen spiele]
327
and his shoes yawning like two caverns on the hearth-rug.
Schuhen, die [auf dem Kaminvorleger] wie zwei Höhlen gähnten
Zu diesen eindeutigen Fehlern kommen noch zahlreiche Stellen hinzu, über die man sich zumindest streiten müsste. Natürlich kann eine solche Ansammlung von Ungenauigkeiten ganz verschiedene Ursachen haben, besser machen die möglichen Erklärungen aber die Übersetzung selbst leider nicht.
Ich habe daher zu Beginn des 16. Kapitels die Lektüre eingestellt. Ein großer Aufwand wurde leider vertan!
Charles Dickens: David Copperfield. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Hamburg: Rowohlt, 2024. Pappband, Lesebändchen, 1295 Seiten. 45,– €.
The helpfull thought for which you look is written somewhere in an book.
Vorausblickend auf Edward Goreys einhundertsten Geburtstag am 22. Februar 2025 druckt der Aufbau Verlag einen hübschen Sammelband, herausgegeben, eingeleitet und um ein biographisches und thematisches Gorey-ABC ergänzt von Walter Moers. Gorey war ein us-amerikanischer Illustrator und Autor, der durch seinen charakteristischen Stil bereits zu Lebzeiten eine Berühmtheit geworden ist – im deutschsprachigen Raum hat ihn der Diogenes Verlag bekannt gemacht –, nun aber ein wenig in Vergessenheit zu geraten und zu einem unter Lesern allgemein bekannten Geheimtipp zu werden droht.
Die Auswahl ist repräsentativ und die Übersetzungen durch Walter Moers sind durchweg gelungen, das Gorey-ABC kenntnisreich und bezogen auf den Erscheinungsort mehr als vollständig. Es ist ein gutes Zeichen, dass Moers sich nicht scheut, unter seine Übersetzungen der Verse Goreys die englischen Originalzeilen zu setzen. Auch Goreys Arbeit als Umschlag- und Merchandise-Gestalter wird angemessen dokumentiert (letzteres in Zusammenarbeit mit der Gorey-Sammlerin Silvia Stolz). Ergänzt wird all das durch ein Interview Goreys mit Clifford Ross, das, soweit ich sehe, hier wohl zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Dem Band liegt außerdem eine goreysche Illustration von Walter Moers mit dem oben zitierten Motto bei.
Ein Band für Gorey-Sammler und alle, die skurrilen Humor und die Stimmung viktorianischer Schauergeschichten lieben – hier lässt sich eine echte Entdeckung machen!
Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen. Vorgestellt und mit Übersetzungen von Walter Moers. Sonderband der Anderen Bibliothek. Berlin: Aufbau, 2024. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 432 Seiten Kunstdruckpapier (215 × 230 mm). 68,– €.
Jedem sein eigenes Schicksal, geformt von Leidenschaft und Empfindung.
Zum 100. Todestag Joseph Conrads legt Manesse seinen Roman „Nostromo“ (1904) in einer neuen Übersetzung vor. Bereits Conrad selbst hatte das Gefühl, der Roman habe eine neue Epoche in seinem Erzählen eingeleitet, und viele Kritiker sind dieser Einschätzung gefolgt. Der Roman ist denn auch ungewöhnlich genug geraten und braucht eine ganze Weile, bis er in Fahrt kommt, nur um dann seine rattlin’ good story plötzlich wieder abzubrechen und zu einem mehr historisierenden Erzählen zurückzukehren.
Erzählt wird im Wesentlichen von den Ereignissen in und um Sulaco herum, einer fiktiven Hafenstadt im ebenso fiktiven südamerikanischen Staat Costaguana (was soviel wie Palmenküste heißen kann; allerdings hat guano auch noch eine andere Bedeutung). Costaguana zerfällt in eine Zentral- und eine Westprovinz, die durch einen hohen, unwegsamen Gebirgszug voneinander getrennt sind. Sulaco ist zu Zeiten der Segelschiffe aufgrund seiner sehr windstillen Bucht ein eher verschlafener Hafen von untergeordneter Bedeutung, bekommt aber durch die aufkommende Dampfschifffahrt und die erfolgreiche Wiedereröffnung einer lokalen Silbermine eine ganz neue Bedeutung. Die Lizenz zur Ausbeutung der Mine hat Charles Gould, der als Kind in Europa erzogen worden ist und dort auch studiert hat, von seinem englischstämmigen costaguanischen Vater geerbt, und die Mine zu einem Erfolg zu machen, ist ihm ein wenig zur fixen Idee geworden.
Doch Costaguana ist politisch instabil, und die in der Zentralprovinz ansässige rechtsliberale, republikanische Regierung, die selbst durch den Umsturz einer Tyrannei an die Macht gekommen ist, wird wiederum vom Militär gestürzt. In der Westprovinz bricht bei den Landbesitzern und Charles Gould eine milde Panik aus. Zwar schickt man eine zusammengewürfelte Armee aus, um sich der Bedrohung entgegenzustellen, aber die revolutionären Truppen halten sich nicht an den Plan der Verteidiger, sondern steuern über See und Berge Sulaco und seinen vermeintlichen Schatz an Silber direkt an. Diesen hat man allerdings kurz vor Ankunft der feindlichen Truppen auf einen Leichter verladen und in stockfinsterer Nacht hinaus in die Bucht geschickt, auf dass er in einen Nachbarstaat gerettet und von dort aus zur Finanzierung der Konterrevolution, vielleicht sogar zum Erringen der staatlichen Unabhängigkeit der Westprovinz dienen möge.
Erst mit diesem Rettungsversuch des Schatzes bekommt nach ca. 240 von 520 Seiten der Titelheld Nostromo endlich seine entscheidende Rolle zugeschrieben. Es handelt sich um einen genuesischen Seemann namens Giovanni Battista Fidanza, der in Sulaco gestrandet ist. Dort ist er aufgrund seines großspurigen und freigiebigen Auftretens und auch wegen seines Erfolgs bei Frauen zu einer Art Volksheld geworden (bei seinem ersten größeren Auftritt gestaltet Conrad ihn als einen Operetten-Don-Juan), der allgemein nur unter seinem Spitznamen Nostromo (einem verschliffenen nostro uomo) bekannt ist. Nostromo, der alles kann und alles wagt, ist der rechte Mann um den Silberschatz in der Nacht herauszuschmuggeln; er hat außerdem noch Martín Decoup an Bord, einen Journalisten und politischen Schwärmer, dem von den heranziehenden Truppen sicher der Tod droht, und einen Blinden Passagier, der an sich nicht weiter von Bedeutung ist, aber noch eine entscheidende Nebenrolle zu spielen hat.
Es ist nicht nötig, die eigentliche Handlung zu referieren und so den Erstlesern die Spannung zu rauben. Wichtig ist nur, dass der Abenteuerroman Episode bleibt. Vorangegangen ist eine gründliche Historie der jüngsten Vergangenheit Costaguanas sowie eine ausführliche Schilderung der Hauptcharaktere und ihrer Vorgeschichten (mit Ausnahme Nostromos, der, wie schon gesagt, in der ersten Hälfte des Buches beinahe nur als Randfigur vorkommt). Dabei ist diese erste Hälfte in einer mäandernden Erzählweise verfasst, die sich von Figur zu Figur hangelt und dabei weder Rücksicht auf eine strenge Chronologie, noch auf Vollständigkeit zu nehmen scheint. Trotzdem entwickelt sich mit der Zeit ein reiches und komplexes Bild Sulacos und seines politischen und gesellschaftlichen Umfeldes. Wie ebenfalls bereits gesagt, endet das Buch ähnlich historisierend wie es anfängt, wenn auch mit einer dramatischen, kaum vorhersehbaren Schlusspointe.
Alles in allem ein außergewöhnlicher Roman, der zwischen Fiktion und alternativer Geschichte, wie man das heute wohl nennt, seinen Weg sucht; ein geadelter Räuberroman, wenn man so will. Die Neuübersetzung ist angenehm zu lesen; an keiner Stelle merkt man ihr an, dass sie von zwei Übersetzern erstellt wurde. Auch haben sich Verlag und Übersetzer nicht dem herrschenden Zeitgeist gebeugt und heute politisch inkorrekte Ausdrücke, die Conrad wie selbstverständlich verwendete, abgeschwächt oder gar überschrieben. Auch sind die den Text durchsetzenden spanischen Wörter stehen geblieben (ein kleines Glossar am Ende hilft jenen, denen das Spanische fremd ist). Einzig, dass man den Untertitel “A Tale of the Seaboard” hat entfallen lassen, hat mich ein wenig irritiert.
Ein durchweg gelungenes Memento zur Feier Conrads!
Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 536 Seiten. 38,– €.
Wer mehr als dreimal hintereinander «warum?» sagt, muss entweder Sokrates sein oder ein Idiot.
Ludwig Hohl
Die Platonische „Apologie“ ist wahrscheinlich der meistgelesene philosophische Primärtext überhaupt: Nicht nur wird er seit langem als einer der Einführungstexte in die Philosophie gebraucht, sondern zusätzlich dient er als Lektüre im Unterricht des Altgriechischen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass er bereits in zahlreichen Übersetzungen vorliegt und in regelmäßigen Abständen neu übersetzt wird. So auch hier durch den seit einigen Jahren sehr aktiven Kurt Steinmann für die Manesse Bibliothek.
Wie den meisten Lesern bekannt sein dürfte, handelt es sich bei der „Apologie“ um die Wiedergabe dreier Reden, die Sokrates im Jahr 399 v.u.Z. bei dem gegen ihn geführten Prozess wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend gehalten hat. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Reden von seinem Schüler Plato zwar nicht wörtlich, aber doch weitgehend authentisch aufgezeichnet wurden. Da von einer recht zeitnahen Publikation der platonischen Schrift nach Prozessende ausgegangen werden darf, hätte es zahlreiche direkte Beobachter des Prozesses gegeben, die auf eine grobe Verfälschung der sokratischen Reden hätten hinweisen können.
Die längste Rede ist die erste, direkt gegen die Anklage und die Ankläger gerichtete. Hier findet sich Sokrates berühmteste Auseinandersetzung mit der problematischen Natur menschlichen Wissens, die sich im Volksmund ebenso pauschal wie falsch in dem Pseudo-Zitat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ zusammengefasst findet. Etwas ausführlicher gesagt: Ausgangspunkt ist die Behauptung des Orakels von Delphi, Sokrates sei der Weiseste der Sterblichen, was diesen dazu veranlasst habe, das Wissen seiner Mitmenschen zu prüfen, um das Orakel zu widerlegen. Leider habe nun aber seine Aktivität nur dazu geführt, dass er, bei wem er auch nachgefragt habe, nur auf unzureichendes Wissen gestoßen sei. Daher sei die Aussage des Orakels so zu verstehen sei, dass Sokrates deswegen der Weiseste sei, weil er, obwohl auch er nicht wirklich etwas wisse, sich im Gegensatz zu seinen Mitmenschen nicht einbilde, über wirkliches Wissen zu verfügen. Allerdings habe er sich mit seinem insistierenden Nachfragen viele Feinde geschaffen, er sei sogar zu einer Karikatur in der Komödie des Aristophanes geworden, und dies sei es, was ihm diese Anklage eingebracht habe. Doch diene er mit seiner Suche nach der Wahrheit nur dem Gott und werde das auch in Zukunft so tun.
Streng betrachtet ist die Sokratische Argumentation windig: Natürlich hat ihn der Spruch des Orakels zu nichts verpflichtet; natürlich ist es schlicht Hybris, seinen Zeitgenossen auf dem Markt und anderen öffentlichen Plätzen zum Vergnügen der Umstehenden ihre Inkompetenz oder wenigstens ihre mangelnde Schlagfertigkeit nachzuweisen. Aber ebenso natürlich sollte dies nicht die Grundlage für einen Gerichtsprozess mit einem möglichen Todesurteil als Ergebnis sein.
Es ist in der Rezeptions-Tradition zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es sich Sokrates erst mit der zweiten Rede mit seinen Richtern verdirbt. Nachdem er nach der ersten Rede mit einem recht knappen Ergebnis für schuldig befunden wurde, konnte der Angeklagte in der zweiten Rede zum Strafmaß sprechen. Er macht dabei klar, dass er eine staatlich finanzierte Speisung für die angemessenste Strafe für seine Dienste am Athener Volk halte, er lässt sich aber letztendlich dazu herab, eine Geldstrafe zu beantragen, von der er sagt, seine reichen Freunde hätten zugesagt, sie zu entrichten. Erst diese Rede, so die allgemeine Auffassung, habe die Richter bewogen, das Todesurteil zu verhängen.
Zur Rezeption der „Apologie“ gehören zwei weitere Platonische Dialoge: „Kriton“, in dem die Gründe des Sokrates ausgeführt werden, warum er das Urteil der Richter annimmt und sich der Exekution nicht durch Flucht entzieht und warum es besser ist, Unrecht zu erleiden als auszuüben. Und „Phaidon“, in dem die Hinrichtung Sokrates’ geschildert wird verbunden mit einer Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele und darüber, dass das Leben des Philosophen eines auf den Tod hin sei. Es wäre sehr schön, wenn Kurt Steinmann auch diese beiden Dialoge neu übersetzte und so die kleine Trilogie dieser wichtigen Grundtexte für die europäische Tradition auch in den schönen Ausgaben der Manesse-Bibliothek zu Verfügung stünde.
Wie zu erwarten war, ist Steinmanns Übersetzung tadellos (an einer einzigen Stelle habe ich einen sprachlichen Lapsus gefunden), gut lesbar und in einem modernen, aber durchaus nicht nachlässigem Deutsch verfasst. Die Anmerkungen zum Text sind vereinzelt etwas überflüssig, da sie nur das paraphrasieren, was ohnehin im Text steht, insgesamt aber durchaus hilfreich für den Leser, der sich ohne Kenntnisse der kulturellen und juristischen Voraussetzungen des Prozesses an die Lektüre macht. Das Nachwort hat man mit Otto Schily einen Juristen schreiben lassen, was angesichts des philosophischen Sumpfes keine schlechte Idee ist, aber nur dazu führt, dass Schily die zu diskutieren Kernfrage „Was ist Wahrheit?“ (Pontius Pilatus) zwar anspricht, sich aber gleich anschließend den üblichen Ausreden zuwendet. Hier wäre eventuell eine Einordnung durch einen Althistoriker oder Philologen glücklicher gewesen.
Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzt von Kurt Steinbach. Manesse Bibliothek. Zürich: Manesse, 2023. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 182 Seiten. 24,– €.
Vor knapp vier Jahren habe ich Lord Jim in der Übersetzung durch Manfred Allié hier vorgestellt und das Buch, mit Ausnahme der Ausstattung, sehr gelobt. Nun hat in diesem Jahr der Hanser Verlag eine Neuübersetzung durch Michael Walter, einen der besten Übersetzer aus dem Englischen, vorgelegt. Ich habe Walters Übersetzung jetzt kursorisch gelesen und stichprobenhaft beide Übersetzungen und das Original miteinander verglichen.
Auf Manfred Allíe war ich zuerst durch seine Übersetzung von Das Herz der Finsternis gestoßen, die sich als erste Übersetzung erfolgreich darum bemühte, den Ton des englischen Originals ins Deutsche zu transportieren. Nun stellt Lord Jim andere Anforderungen an den Übersetzer, aber ich fand, auch hier hatte sich Allíe aufs Beste bewährt. Trotzdem muss ich nun zugeben, dass die Lektüre von Walters Übersetzung eine reine Freude ist. Sein Deutsch ist von einer erstaunlich schlichten Eleganz, mit nautischen Begriffen durchsetzt, so wie es sich auch bei Conrad findet; vielleicht ist die Lektüre ein wenig zu widerstandslos, wenn man es mit dem Original vergleicht, aber es ist hier ein herausragendes Sprachkunstwerk gelungen. Beim Vergleich mit dem Original fällt auf, dass Walter im Zweifel immer versucht, in Struktur und Wortwahl sehr nah am Original zu bleiben. Ich würde von der Übersetzung Allíes nicht abraten, aber wer es sich leisten kann, sollte – auch weil er das unvergleichlich viel schönere und besser gemachte Buch erhält–, unbedingt zur Übersetzung von Michael Walter greifen.
Joseph Conrad: Lord Jim. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Hanser, 2002. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten Dünndruck. 36,– €.