Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Zum vorläufigen Abschluss meiner Dostojewskij-Lektüre noch einmal eine Rückkehr fast ganz zum Anfang: Im Januar 2019 hatte ich hier die vor der Reihe der letzten sechs Romane entstandenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch in der damals aktuellsten Übersetzung Swetlana Geiers besprochen. Dieser vergleichsweise kurze Text, der eine Mischung aus essayistischer Reflexion und fiktiver autobiografischer Erinnerung des Erzähler liefert, war bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet worden und wurde in seiner Bedeutung als thematische Vorschule zahlreicher Themen, die dann in den „fünf Elefanten“ entfaltet werden sollten, erst viel später begriffen. Ich selbst habe es als die Eröffnung des psychologischen Labors Dostojewskijs bezeichnet.

Im Jubiläumsjahr legt nun Manesse in seiner Bibliothek eine Neu­über­set­zung des Textes durch Ursula Keller vor. Zum Inhalt des Buches sei auf die frühere Besprechung verwiesen; das muss hier nicht wiederholt werden. Was Stil und Wortwahl angeht, unterscheiden sich die beiden Über­­­set­­­zun­­gen allerdings deutlich. Gleich auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung Kellers oft konkreter und bildhafter im Ausdruck:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z. B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.
Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Geier, S. 7 f.

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich. Ich glaube ich bin leberkrank. Eigentlich habe ich nicht die geringste Ahnung, woran ich erkrankt bin, und weiß nicht einmal sicher, worunter ich leide. Ich bin nicht in Behandlung und war auch nie in Behandlung, obwohl ich Medizin und Ärzten Respekt entgegenbringe. Zugleich bin ich über die Maßen abergläubisch; nun, wenigstens so sehr, dass ich der Medizin Respekt entgegenbringen. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch.) Nein, mit Verlaub – ich will mich aus reinem Trotz nicht in Behandlung begeben. Und genau das werden sie wohl nicht verstehen wollen. Nun, aber ich verstehe es. Ich vermag Ihnen, selbstredend, nicht zu erklären, wem ich mit diesem Trotz das Leben schwer machen; ich weiß sehr genau, dass ich den Ärzten ja damit, dass ich nicht bei ihnen in Behandlung bin, «keinen Haufen vor die Tür» setze; ich weiß selbst am besten, dass sich mit alledem nur mir ganz allein schade und niemandem sonst. Und trotzdem – wenn ich nicht in Behandlung bin, so ist das reiner Trotz. Die Leber ist krank, soll sie doch noch kränker werden!

Keller, S. 9 f.

Von der Frage des zusätzlichen bzw. fehlenden Absatzes abgesehen, erscheint es schon als deutlicher Unterschied, ob der Erzähler sich aus Bosheit oder Trotz der ärztlichen Behandlung verweigert, ob er den Ärzten dadurch nicht schadet oder ihnen keinen Haufen vor die Tür setzt. Solche Unterschiede finden sich kontinuierlich durch den ganzen Text hindurch, begleitet von weiteren seltsamen Phänomenen wie zum Beispiel Klammern, die an unterschiedlichen Stellen des Textes geschlossen werden. Leider hindert mich meine Unkenntnis des Russischen daran, mehr zu tun, als auf diese durchaus eklatanten Unterschiede hinzuweisen. Ein kritisches Urteil muss andernorts gefällt werden. (Für Hinweise auf ein kompetentes Urteil sei gleich hier im Voraus gedankt!)

Wenigstens muss der Neuübersetzung von Ursula Keller attestiert werden, dass sie den Text an zahlreichen Einzelstellen und im Ganzen ver­ständ­li­cher und differenzierter zu übersetzen scheint, dass die durchweg außergewöhnlichen Gedankengänge des Erzählers in ihr weniger obskur und dunkel erscheinen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Aus dem Russischen von Ursula Keller. München: Manesse, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 312 Seiten. 25,– €.

Fjodor Dostojewskij: Böse Geister

Kurz, alles war sehr unklar, sogar verdächtig.

Im Jahr 1872, bald nach Dostojewskijs Rückkehr nach Russland aus Westeuropa, wohin er 1867 vor seiner drückenden Schuldenlast geflohen war, erschien der vierte seiner letzten sechs Romane. Die deutschen Übersetzungen tragen in diesem Fall ungewöhnlich viele verschiedene Titel, von dem wohl bekanntesten Die Dämonen über Die Besessenen und Die Teufel bis zu den Bösen Geistern der hier besprochenen Übersetzung von Swetlana Geier aus dem Jahr 1998. Der Titel bezieht sich auf eine Stelle aus dem Lukas-Evangelium (8, 32–36), an der Jesus eine Zahl böser Geister aus einem Besessenen austreibt und in eine Herde Schweine bannt, die sich daraufhin in einen nahegelegenen See stürzt und sich selbst ersäuft. Dostojewskij, respektive sein Ich-Erzähler und Chronist des Buches, der Beamte Anton Lawrentjewitsch – der Leser erfährt seinen Nachnamen nicht – setzt diese Stelle als Motto an den Anfang des Buches. Sie fügt dem Roman neben den ohnehin reichhaltig vorhandenen In­ter­pre­ta­tions­an­sät­zen einen weiteren, selbst schon vieldeutigen hinzu.

Die Haupthandlung spielt in der russischen Provinz während der 1870er Jahre. Der Roman beginnt allerdings mit der Erzählung des Lebens des Gelehrten Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, der kurzzeitig als Hochschul-Dozent tätig war, den Hauptteil seiner Karriere aber als Hauslehrer und später Vertrauter im Haushalt der Generalswitwe Warwara Petrowna Stawrogina verbracht hat. Er gilt als ein kritischer und scharfer Kopf, was aber mehr an der bürgerlichen Harmlosigkeit seiner Umgebung liegt als an seinem übermäßig scharfen Verstand. Er stellt im Gegenteil eine recht böse Satire sowohl auf das gesellschaftliche als auch das politische Klima im Russland Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Stepan Trofimowitsch ist ein etwas wirrer, von der französischen Aufklärung durchtränkter Schwätzer, der als Einäugiger unter Blinden den intellektuellen König gibt.

Das erste Drittel des Romans erschöpft sich nach der Schilderung des frühen Lebens und Wirkens Stepan Trofimowitschs weitgehend in einer Schilderung des provinziellen Lebens der oberen Hundert einer Gouvernements-Hauptstadt. Etwas Tempo kommt erst in den Roman als die Generation der Kinder Warwara Petrownas und Stepan Trofimowitschs auftaucht, um die herum die weitere Handlung konstruiert wird. Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin erweist sich als ein ausschweifender Nihilist, der letztlich aber doch immer wieder mit seinem Gewissen kämpft. Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij ist dagegen der staatsumstürzlerische Revolutionär, der im Laufe des Romans eine gewaltige Menge dummes Zeug reden darf – nur darin erweist er sich ganz als Sohn seines Vaters. Beide haben eine gemeinsame Vorgeschichte als sie im Roman auftauchen, waren zeitgleich in Westeuropa unterwegs und tauchen nun aus vorerst unklaren Gründen in der Stadt ihrer Eltern auf.

Werchowenskij gehört bald zum Hofstaat der Frau des Gouverneurs, unterhält aber auch intensive Kontakte zur kleinbürgerlichen Schicht der Stadt, in der er eine Fünfergruppe organisiert, die er als eine von unzähligen revolutionären Zellen ausgibt, die alle zusammen in naher Zukunft das politische Chaos und damit den Staatsumsturz herbeiführen sollen. Das eigentliche Ziel seiner zahlreichen Aktivitäten ist aber die Ermordung des Studenten Schatow, der einst der geheimen Organisation angehört hatte, sich nun aber losgesagt hat und als potentieller Verräter beseitigt werden soll. Stawrogin dagegen hat private Probleme: Er hat sich aus einer Laune heraus heimlich mit der geisteskranken Schwester eines lokalen Alkoholikers verheiratet, ist allerdings in eine andere Frau – Jelisaweta Nikolajewna Tuschina – verliebt, hat eine mehr als brüderliche Beziehung zu der Ziehtochter seiner Mutter – Darja Pawlowna Schatowa, der Schwester des Studenten, der ermordet werden soll – und außerdem eine Vorgeschichte, die ihm schwer auf dem Gewissen liegt. Eigentlich möchte Stawrogin ein ganz harter Kerl sein, aber tatsächlich erweist er sich wie so viele der später aus ihm entwickelten Abziehbilder als ein sentimentaler, selbstmitleidiger Bursche, der seine Ängste und Leidenschaften nicht unter Kontrolle zu halten versteht.

Dieser Ausgangskonflikt – der sich wohlgemerkt überhaupt erst in der Mitte des über 900-seitigen Romans langsam abzeichnet – wird auf durchaus beeindruckende Weise durchgearbeitet und wenigstens zum Teil zum Ende geführt. Wie immer geht es Dostojewskij aber wesentlich nicht um die konkrete Handlung, sondern um den Konflikt der europäischen Geistesströmungen seiner Zeit, ihrem Gegensatz zum orthodox-christlichen Russland der historischen Tradition – von dem nirgends auch nur erwogen wird, ob es denn jemals irgendwo oder irgendwann existiert hat – und der fatalen Lage, in die sie die europäische Kultur allgemein und das Russische Reich im Besonderen gebracht haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Roman nicht nur mit der Lebensgeschichte Stepan Trofimowitschs beginnt, sondern auch mit seiner Verwandlung in einen evangelistischen Don Quixote endet.

Erzählerisch ein erstaunliches Meisterstück, das mit einem unglaublich langsamen Beginn zu einem furiosen Ende mit zahlreichen Toten gelangt, zugleich eine hübsche Satire auf das provinzielle Russland seiner Zeit und ein besorgtes Manifest zur Säkularisierung und Trivialisierung der Welt des 19. Jahrhunderts. Vielen heutigen Lesern wird der Roman unrettbar zu lang sein, anderen ideologisch zu fragwürdig, aber trotz aller Berechtigung solcher Bedenken rate ich allen ernsthaften Lesern, sich auf dieses Buch einzulassen.

Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 21998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 967 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 17,– €.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Wir sind Totgeborene, werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, und das gefällt uns immer besser und besser. Wir bekommen Geschmack daran. Bald werden wir so weit sein, daß wir von einer Idee gezeugt werden.

Die vergleichsweise kurzen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) entstanden unmittelbar vor der Serie der letzten sechs Romane Do­sto­jews­kijs, die wir als seine Hauptwerke betrachten. Viele seiner späteren Themen und Motive tauchen hier bereits auf oder werden wenigstens angespielt. In der Hauptsache aber dürfte wichtig sein, dass hier eine ideologische Lebenshaltung der Zeit auf ihre Konsequenzen hin durchgespielt wird; mit diesem Buch wird quasi das psychologische Labor Dostojewskijs eröffnet.

Erzähler ist ein namenloser, 40-jähriger Mann, der seit einiger Zeit keiner Arbeit mehr nachgeht, da er von einer kleinen Erbschaft leben kann. Er bewohnt schon lange das im Titel besagte Kellerloch und wendet sich mit seiner Niederschrift an ein fiktives Publikum, angeblich um seine Erzählung zu konzentrieren. Allerdings muss die gesamte Schrift im Verdacht stehen, eine rhetorische Verteidigung seiner Existenz vor einer inneren moralischen Jury zu sein.

Der Text zerfällt in zwei Teile: Der erste ist eine essayistische Reflexion des Erzählers seiner eigenen Existenz, der zweite Teil erzählt einige nur scheinbar anekdotische Erlebnisse, die bereits 16 Jahre zurückliegen. Der erste Teil beginnt mit folgender Selbstbeschreibung:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit.

Ein solcher Auftakt steht aller romantischen Romantradition diametral entgegen. Auch in weiteren Verlauf dieses essayistischen Teils kokettiert der Ich-Erzähler mit seiner Verworfenheit, wobei die meisten seiner Eigenschaften, die er als besonders schlecht anführt, von den meisten Menschen, die sich für normal halten würden, wohl geteilt werden: Ehrgeiz, Argwohn, Empfindlichkeit und so weiter. Was ihn allerdings aus der Masse tatsächlich heraushebt, ist seine Feier der Verzweiflung und Aus­sichts­lo­sig­keit, die ihm ein Leiden bereiten, das er tief zu genießen vorgibt. Dieser essayistische Teil ist von tiefer Widersprüchlichkeit geprägt: Einerseits betrachtet sich der Erzähler als klüger, gebildeter, reflektierter als seine normalen Mitmenschen, andererseits verwandelt er die Verachtung, die ihm seine Mitmenschen offensichtlich entgegengebracht haben, in den Genuss von Rachsucht und Bosheit, die aber merkwürdig abstrakt bleiben.

Im Rahmen dieser psychologischen Selbststilisierung des Erzählers werden auch philosophische Probleme erörtert: Willensfreiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Rationalität werden in lockerer und weitgehend un­sys­te­ma­ti­scher Weise besprochen. Das Menschenbild, das dabei zutage tritt, kann man wohl als eine Art von Ad-hoc-Nihilismus verstehen, die sich aber nicht bis zur endgültigen und ausdrücklichen Verneinung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Werte durcharbeitet; es ist daher kein Wunder, dass dieses Buch auf Friedrich Nietzsche einen so großen Eindruck gemacht hat.

Schon gut, schon gut, ich mag ein Schwätzer sein, ein harmloser, lästiger Schwätzer, wie wir es ja alle sind. Aber was soll man denn tun, wenn die einzige und direkte Bestimmung eines jeglichen klugen Menschen in Schwatzen besteht: das heißt darin, mit Vorsatz leeres Stroh zu dreschen.

Der umfangreichere zweite Teil schildert, wie schon gesagt, einige Anekdoten aus dem Leben des 24-Jährigen, die sein berufliches, gesellschaftliches und emotionales Versagen konkret vorführen. Er soll zum einen so etwas wie eine praktische Demonstration der zuvor theoretisch erörterten Lage des Erzählers sein, zum anderen liefert er in aller Kürze einen negativen Entwicklungsroman, der die Entstehung der Isolation des Erzählers von der ihn umgebenden Gesellschaft musterhaft vorführt.

Nur im allerletzten Absatz des Buches taucht so etwas wie eine neutrale Instanz auf, die einen distanzierteren Blick auf das Erzählte andeutet:

Übrigens sind hier die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch nicht zu Ende. Er konnte es nicht lassen und setzte sie fort. Aber auch uns will scheinen, daß man hier ohne weiteres aufhören kann.

Dieses „uns will scheinen“ ist die einzige Stelle, in der sich der Autor vom Inhalt des Buches distanziert. Dass es Dostojewskij später verstanden hat, auch diese letzte, neutrale Herausgeber-Fiktion noch fortzulassen, macht nicht wenig von der Bedeutung seiner späten Romane aus.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Fischer Klassik 90102. Frankfurt/M.: Fischer, 2011. Broschur, 162 Seiten. 11,– €.

Janne Teller: Nichts

978-3-446-23596-0Bereits im Jahr 2000 in Dänemark erschienen, ist das Buch im skandinavischen Raum angeblich kontrovers diskutiert worden und nun auch auf Deutsch erschienen. Erzählt wird die Geschichte einer 7. Schulklasse im kleinen Ort Tæring, in der der Schüler Pierre Anthon zur Entdeckung der Konsequenzen des Nihilismus vordringt: »Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.« Wie die meisten nihilistischen Schwätzer geht Pierre Anthon nun aber nicht zum Nichtstun über, sondern wird zum Propheten des Nihilismus, der seinen Mitschülern auf die Nerven geht.

Da seine Mitschüler philosophisch ebenso unbelehrt sind wie der Prophet (und wahrscheinlich auch die Autorin), entwickeln sie ein Projekt zu seiner Widerlegung: In einem aufgegebenen Sägewerk tragen sie einen Haufen von Gegenständen zusammen, die Bedeutung haben. Damit niemand schummelt, legt jeder Schüler jeweils für einen anderen fest, was für denjenigen von Bedeutung ist und was er hergeben muss. Zu Anfang sind die Opfer am Altar der Bedeutung harmlos, aber mit der Zeit übertrumpfen sich die Vorschläge: Die Unschuld von Sophie, der Sarg mit dem toten Bruder von Elise, ein abgeschnittener Hundekopf und zum Schluss der abgeschnittene Zeigefinger Jan-Johans, des Gitarrenspielers der Klasse.

Nach diesem letzten Opfer fliegt das Projekt der Schüler auf. Nun muss der Leser eine wahrscheinlich satirisch gemeinte Darstellung der modernen Medienlandschaft durchlaufen. Nachdem die Autorin auch das abgekaspert hat, kommt es zum Showdown: Der Prophet Pierre Anthon wird mit dem – inzwischen vom New Yorker MOMA als Kunstwerk angekauften – »Berg der Bedeutung« konfrontiert, aber da er (und wahrscheinlich die Autorin) kein ganz so großer Schwachkopf ist wie seine Mitschüler, macht er sich über deren hilflosen Versuch, Bedeutung anzuhäufen, zu Recht lustig. Er wird daraufhin von seinen Mitschülern ebenso zu Recht erschlagen und Leiche und Berg der Bedeutung anschließend verbrannt. Um ihren Kult um die Bedeutung abzuschließen, sammeln die Schüler schließlich die Asche ihrer Jugend ein und jeder kriegt ’ne Flasche.

Der Text funktioniert überhaupt nur, da er im pseudonaiven Ton einer der Mitschülerinnen erzählt ist. Jeder Hauch nur einer ernsthaft erwachsenen Perspektive würde den ganzen Unfug des Buches augenblicklich zusammenbrechen lassen. Es ist kein Wunder, dass ein solches Buch in einem Land, das Peter Sloterdijk für einen Philosophen hält, auf den Bestsellerlisten landet.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: Hanser, 2010. Broschiert, 140 Seiten. 12,90 €.