Ian McEwan: Am Strand

Eine längere Erzählung, in deren Zentrum die Hochzeitsnacht eines jungen, englischen Ehepaars steht. Die Hochzeitsreise hat sie nach Dorset geführt, wo sie in einem Hotel in der Nähe von Chesil Beach Quartier nehmen. Es ist der Juli 1962, und McEwan betont die zeitliche Nähe der erzählten Ereignisse zum Umbruch der Sexualmoral Ende der 60er-Jahre. Die Jungvermählten, Florence und Edward, scheinen auf den ersten Blick beide über keine erheblichen sexuellen Erfahrungen zu verfügen: Zwar masturbiert Edward offensichtlich exzessiv, aber Florence hat einen heimlichen Ekel vor den Vorstellungen, die sie von sexuellen Handlungen zwischen den Geschlechtern hat.

So beginnt diese Hochzeitsnacht unter schlechten Voraussetzungen: Während Edward sich an der Schwelle zur Erfüllung seiner sexuellen Wünsche wähnt, sieht sich Florence einer angstbesetzten Probe ihrer Liebe zu Edward gegenüber. McEwan behandelt die konkrete Situation selbst mit einigem psychologischen Geschick. Statt seine Protagonisten geradewegs auf die sich abzeichnende Katastrophe zusteuern zu lassen, schiebt er einen Augenblick echter Erregung als retardierendes Moment in den Gang der Ereignisse ein: Mehr zufällig berührt Edward bei einem ungeschickten Griff an den Oberschenkel seiner Frau dabei eines ihre Schamhaare, und sein hin- und herstreichelnder Daumen versetzt sie für einen Moment lang in einen Zustand, der sie ihre Angst vergessen lässt. Aber dann verdirbt Edward alles: Weil er den Reißverschluss am Kleid seiner Frau nicht öffnen kann, bricht er alle weiteren Zärtlichkeiten ab, entkleidet sich und versucht, ohne weitere Umstände zum Vollzug zu kommen. Florence, im Bewusstsein ihrer ehelichen Pflicht, greift nach seinem Glied und versucht, es in sich einzuführen. Bei dem Versuch erleidet Edward, der sich für die bevorstehende Hochzeitsnacht seit einer Woche der Masturbation enthalten hatte, einen vorzeitigen Samenerguss, den er nur als ein eklatantes Versagen begreifen kann. Florence wiederum ekelt sich vor dem sich über sie ergießenden Samen Edwards so sehr, dass sie aufspringt und aus dem Zimmer flieht.

Später findet Edward Florence am Strand wieder, und es kommt zum Streit. Florence eröffnet Edward einen Plan, den sie sich schon vor der Hochzeitsnacht zurechtgelegt hatte: Edward soll jegliche Freiheit genießen, sich mit anderen Frauen sexuell auszuleben, dabei aber mit ihr zusammenleben und sie lieben. Edward kann dies im Augenblick nur als einen Zynismus und Betrug an sich und seiner Liebe begreifen, und so kommt es zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden.

McEwan füllt diese kleine Studie mit den Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten auf und rundet sie mit einer kurzen Erzählung ihrer weiteren Schicksale ab. Am spannendsten an der Geschichte von Florence dürfte ihr enges Verhältnis zu ihrem Vater sein, von dem der Text offenlässt, ob es sich um eine platonische Vater-Tochter-Liebe handelt, wie sie sich wohl in vielen Fällen entwickelt, oder ob diese Liebe in einen Missbrauch gemündet ist, den Florence komplett aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Letzteres bleibt aber Spekulation, die der Text höchstens nahelegt, aber nicht tatsächlich stützt.

McEwan lässt aber von Beginn an keinen Zweifel daran, dass es sich für ihn wesentlich um eine Geschichte mangelnder Kommunikation handelt:

Sie waren beide jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. Einfach sind sie nie.

Wie oben bereits gesagt, ist die Nähe zur sogenannten Sexuellen Revolution nicht zufällig gewählt: McEwan konfrontiert die heutige Lage an der sexuellen Front – wie sie inzwischen in der Literatur gehandelt wird – mit der Situation, in der sich junge Menschen noch vor knapp 50 Jahren normalerweise befanden. Dies ist eine reizvolle Folie, und der Autor verzichtet bewusst auf jeglichen expliziten Kommentar der vorgeführten Differenz.

Ein gehaltvolles kleines Buch, das McEwan einmal mehr als einen Autor von außergewöhnlichem psychologischem Einfühlungsvermögen zeigt.

Ian McEwan: Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2007. Leinenband, 208 Seiten. 18,90 €.

Ian McEwan: Zwischen den Laken

mcewan_laken Sammlung von sieben routiniert und gekonnt erzählten Geschichten McEwans, von denen drei (Zwei Fragmente, Hin und Her und Psychopolis) bereits zuvor bei Diogenes veröffentlicht worden sind. Der Band hat kein wirklich einheitliches Thema, wenn sich auch die meisten mehr oder weniger zentral um das Thema Sexualität drehen. Sie umfassen stilistisch eine deutliche Bandbreite, so dass kein geschlossenes Bild der Sammlung entsteht. Die Übersetzungen scheinen – soweit sich das vom deutschen Text ablesen lässt – anspruchsvoll und sorgfältig gearbeitet zu sein.

Pars pro toto hier ein paar inhaltliche Hinweise: Pornographie erzählt von einem jungen Mann, der im Sexshop seines Bruders arbeitet. Nebenher hat er Verhältnisse zu mindestens zwei Frauen, die aber nichts voneinander wissen. Nun zwingt ihn eine Geschlechtskrankheit, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und als er wieder Kontakt zu seinen Damen aufnimmt, erwartet ihn eine Überraschung …

Der kleine Tod erzählt von einem sehr erfolgreichen Londoner Geschäftsmann, der sich eines Tages in eine Schaufensterpuppe verliebt und mit ihr einige glückliche Wochen verbringt. Dann allerdings schöpft er Verdacht, dass sie ihn mit seinem Fahrer betrügen könnte und verfällt einer zunehmend tiefen Verzweiflung. So absurd die Grundkonstellation auf der einen Seite zu sein scheint, so realistisch gerät die aus ihr entwickelte Beziehungsgeschichte. Diese Erzählung stellt sicherlich das humoristische Prunkstück der Sammlung dar.

Die Titelerzählung erzählt von einem geschiedenen Schriftsteller, den die beginnende Pubertät seiner bei seiner Frau lebenden Tochter in einige Verwirrung stürzt. Der Titel In Betwen the Sheets stammt übrigens aus dem Rolling-Stones-Song Live With Me, der in der Erzählung auch zitiert wird.

Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Bernhard Robben. detebe 21084. Zürich: Diogenes Verlag , 2008. 224 Seiten. 8,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

lolita

Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.