Drei Symposien

… und sie seien genötigt worden, ohne jede Ordnung Unmengen von Wein zu trinken.

Bei der sogenannten Symposienliteratur handelt es sich um das antike Pendant zur Talkshow: Der Autor lässt mehr oder weniger berühmte Zeitgenossen zusammenkommen, die sich bei Gelegenheit eines abendlichen Festes mehr oder weniger intelligent über philosophische, politische oder auch einfach nur tagesaktuelle Themen unterhalten. Dabei tut es in der Antike wenig zur Sache, ob diese Gespräche tatsächlich so stattgefunden haben, so wie es heute wenig zur Sache tut, ob die Politiker das tatsächlich glauben, was sie von sich geben, oder ob irgend etwas von dem Gesagten richtig ist.

Urmuster aller Symposienliteratur sind – wenigstens aus unserer Sicht – zwei Texte: Das Platonische »Gastmahl« und das sich offensichtlich auf diesen Text beziehende Buch Xenophons mit demselben Titel. Allerdings sind diese beiden Vorlagen von höchst unterschiedlichem literarischen Gewicht, was man besonders deutlich spürt, wenn man beide unmittelbar nacheinander liest. In beiden tritt als zentrale Figur der Philosoph Sokrates auf, der aber von beiden Autoren, die beide das lebende Vorbild persönlich gekannt haben, sehr unterschiedlich geschildert wird; doch dazu später noch ein paar Sätze.

978-3-15-018435-6Platons »Symposion« nimmt den Sieg des Philosophen und Schriftstellers Agathon, eines der Schüler des Sokrates, mit seiner ersten Tragödie bei einem der Feste zu Ehren des Dionysos (wahrscheinlich im Jahr 416 v. u. Z.) zum Anlass für ein abendliches Gelage. Es ist der Tag nach dem Sieg; bereits am Vorabend haben der Dichter und einige seiner Freunde ein ausschweifendes Fest gefeiert, von dem die nun im Hause des Agathon zusammenkommenden Freunde noch gezeichnet sind. Man beschließt deshalb gleich zu Anfang des Festes, heute Mäßigkeit walten zu lassen und sich nicht wieder so zu besaufen wie am Vortag. Stattdessen will man lieber ein kultiviertes Gespräch pflegen, wozu der Sokrates-Schüler Phaidros das Thema vorgibt: den Gott Eros, dessen Kult unverständlicher Weise nicht seiner umfassenden Stellung im Kosmos entspreche.

Am Fest nehmen vorerst außer dem Gastgeber und den schon erwähnten, Sokrates und Phaidros, drei weitere Gäste teil: der Adelige Pausanias, der Arzt Eryximachos und der Komödienautor Aristophanes. Es wird beschlossen, dass jeder der Anwesenden reihum eine Rede auf den Eros halten solle, wobei der Gott Dionysos selbst als Schiedsrichter angerufen wird, der am Ende entscheiden solle, wer die beste Rede gehalten habe.

Phaidros, der das Thema vorgeschlagen hat, beginnt: Er erklärt Eros für die älteste aller Gottheiten, der es zu verdanken ist, dass überhaupt Ordnung (κόσμος) aus dem ursprünglichen Chaos entstanden sei. Insofern sei Eros der Ursprung aller anderen Götter und ihm sollte als alles durchdringendes Prinzip gehuldigt werden. Phaidros’ sehr allgemein gehaltenen Ausführungen folgt die Rede des Pausanias, der zwischen zwei Formen des Eros unterscheiden möchte: Ebenso wie sich die himmlische Aphrodite (A. urania) von der gewöhnlichen Aphrodite (A. pandemos) unterscheide, so auch der sie jeweils begleitende Eros. Der himmlische Eros verkörpere im Gegensatz zum gewöhnlichen eine reine, sexuelle Befriedigung verachtende Liebe, wie sie vorzüglich im Verhältnis von Männern und Knaben zueinander vorkomme. Diese Ausführungen dienen im wesentlichen als propädeutische Hinführung zu den Gedanken des Arztes Eryximachos, der berufsbedingt grundsätzlich physiologisch argumentiert: Für ihn ist der wahre Eros eine Frage der Harmonie von einander widerstrebenden Prinzipien. In allem gelte es das rechte Maß zu finden, um, wie in der Musik, das Auseinanderstrebende in Einklang zu bringen.

Auch dies erweist sich letztlich nur als eine Hinführung zur Erzählung des Aristophanes: Der Komödiendichter erfindet ad hoc eine Mythologie der Sexualität, die sicherlich zu den meist rezipierten Stellen der antiken Literatur gehört: Der Mensch habe in prähistorischer Zeit in drei Geschlechtern existiert, einem weiblichen, einem männlichen und einem androgynen. Um die Menschen für ihren Übermut gegen die Göttern zu bestrafen und sie daran zu hindern, den Himmel zu stürmen, habe Zeus sie geteilt. Aus ihrer vierbeinigen, runden Form habe er sie zu zweibeinigen Wesen gemacht, die nun unter der Drohung einer nochmaligen Teilung in Furcht vor den Göttern existieren. Aus dieser Teilung resultiert die Leidenschaft des Eros, da alle Menschen nun auf der Suche nach ihrem fehlenden Gegenpart sind, mit dem sie sich wieder zu vereinigen suchen. Diejenigen deren Ursprung ein männlicher Vierbeiner gewesen sei, suchten ihre Ergänzung als Mann bei Männern, so wie die Frauen von rein weiblichem Ursprung die Liebe der Frauen suchten; die Androgynen neigen verständlicher Weise zum jeweils anderen Geschlecht. Hier werden nicht nur homo- und heterosexuelle Liebe als gleichwertig und aus gleichem Ursprung stammend begriffen, sondern dies ist auch die erste Stelle der Weltliteratur an der weibliche und männliche Homosexualität als wesenhaft identisch beschrieben werden. Diese schlichte Fabel ist von erstaunlicher Klarheit und öffnet sich leicht zahlreichen deutenden Zugriffen.

Den Abschluss des rhetorischen Vorspiels bildet eine Lobrede des Agathon auf den Eros als jüngsten, schönsten und glückseligsten Gott, der sogar als König der Götter bezeichnet wird. Besonders die Charakterisierung des Eros als Jüngstem unter den Göttern, die in direktem Widerspruch zu der anfänglichen Rede des Phaidros steht, macht klar, dass die Reden in ihrer Gesamtheit einen kompletten dialektischen Zyklus durchlaufen haben und als eine durchkomponierte Einheit aufgefasst werden sollen. Es folgt als nächster Schritt die Rede des Sokrates, der Eros nicht als Gott, sondern als Dämon (δαίμων) definiert. Wie sooft bei Platon macht Sokrates dezidierte inhaltliche Aussagen nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern er zitiert, was andere gesagt haben. In diesem Fall handelt es sich um eine der wirkungsmächtigsten Frauenfiguren der Antike: die Priesterin Diotima, die angeblich den jungen Sokrates über die Mysterien des Eros belehrt habe.

Eros, so lehrt sie, ist ein Sohn von Mangel (Πενία) und Ausweg (Πόρος), von daher schon in seinem Ursprung als ein Mangelwesen bestimmt. Gerade weil es ihm an all dem mangelt, was ihm Agathon gerade als wesenhaft zugeschrieben hat, strebt er beständig danach, es zu erreichen: Er ist nicht schön, nicht vollkommen, nicht glückselig und besonders nicht unsterblich und daher auch nicht göttlich, sondern ein Zwischenwesen zwischen den sterblichen Menschen und unsterblichen Göttern. Aus dem Streben des Eros nach der Unsterblichkeit folgt auch das Bedürfnis der ihm verwandten Sterblichen nach Ruhm und ihr Verlangen, sich in ihren Kindern und Kindeskindern fortzuzeugen. Auch der platonische Aufstieg des Philosophen von der Schönheit der Körper über die Schönheit der Seelen und der Schönheit der Erkenntnis schließlich zur Erkenntnis der Idee der Schönheit selbst folgt direkt aus dem dem Eros verdankten Streben nach der Aufhebung des prinzipiellen Mangels der körperlichen, endlichen Existenz.

Sokrates wird in seinen Ausführungen unterbrochen durch die unerwartete Ankunft des volltrunkenen Alkibiades. Alkibiades tritt geschmückt mit allen Attributen des Gottes Dionysos auf, und er ist enthusiasmiert vom Wein. Seine Aufgabe ist es, die abschließende Rede des Symposions zu halten, in der durch ihn hindurch der Gott Dionysos selbst Sokrates als die ideale Verkörperung des Eros auszeichnet: Auch er ermangelt der Schönheit und Weisheit, strebt aber in jedem Moment seines Lebens nach ihnen. Er sucht Erkenntnis zu erlangen, verachtet die Genüsse und Anfechtungen der körperlichen Existenz, wie sein Verhalten in Liebesdingen und unter den harten Anforderungen des Krieges unter Beweis gestellt hat. Nach dieser Lobrede geht das Symposion in ein allgemeines Besäufnis über, in dem sich Sokrates einmal mehr als der einzige beweist, der dem Gott Dionysos nicht unterliegt. Als alle schon schwer betrunken mit Schlaf kämpfen oder ihm bereits erlegen sind, ist er noch immer munter:

Die Hauptsache sei jedoch gewesen, dass Sokrates sie genötigt habe zuzugeben, dass es die Aufgabe ein und desselben Mannes sei, sich auf die Dichtung von Komödien und Tragödien zu verstehen, und dass der professionelle Tragödiendichter auch Komödiendichter sei. Zu diesem Eingeständnis genötigt, seien sie – nicht richtig in der Lage zu folgen – eingenickt.

Diese letzte Bemerkung allein, die noch einmal das den ganzen Text bestimmende Spiel von Ernsthaftigkeit und ironischer Distanzierung, von Scherz und Philosophie, von hohler Rhetorik und tiefsinniger Allegorie zusammenfasst, ist eine der wundervollsten Stellen der antiken Literatur. Das ganze Stück ist von einer Ausgewogenheit der Komposition, von einer zugleich formalen Strenge und inhaltlichen Leichtigkeit, dass man lange suchen muss, um ihm etwas literarisch annähernd gleichrangiges an die Seite zu stellen.

978-3-15-002056-2Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt dagegen das »Gastmahl« Xenophons. Seine in Teilen gewollt wirkende Kunst- und Anspruchslosigkeit ist seit der Antike immer wieder als Indiz für den Realismus des Stücks gedeutet worden. Noch eine der neueren, populären Editionen der sokratischen Schriften Xenophons (Eichborn, 1998) will die Frage, ob es sich dabei um ein getreues Abbild der athenischen Gesellschaft und besonders des Sokrates handelt, zumindest unentschieden lassen. Dabei wurde bereits in der Spätantike der Nachweis geführt, dass es sich beim »Gastmahl« Xenophons um eine ebensolche Fiktion handelt wie beim platonischen. Im Gegensatz zum platonischen Text fehlt jeder Versuch einer durchgängigen Komposition, ja, literarische Härten werden der realistischen Wirkung halber bewusst im Kauf genommen.

Das Gastmahl findet in diesem Fall im Hause des reichen Kallias statt, dessen Hauptlebensinhalt es war, das väterliche Erbe durchzubringen, was ihm wohl auch mehr oder weniger gelungen zu sein scheint. Kallias befindet sich mit dem jungen Autolykos, einem erfolgreichen Sportler, in den er verliebt ist, und dessen Vater auf dem Weg von einem Pferderennen nach Hause, als er unterwegs zufällig auf Sokrates und eine Gruppe seiner Begleiter trifft und sie zu einer Feier in seinem Hause einlädt. Sokrates ziert sich ein wenig, da Kallias sonst ausgiebig Umgang mit den Sophisten pflegt, will ihn aber letztlich nicht vor den Kopf stoßen und nimmt die Einladung daher an. Dort angekommen werden erst einmal Tanz und Flötenspiel der herbeigeholten Unterhaltungskünstler rezensiert, bevor man eine allgemeine Gesprächsrunde darüber eröffnet, auf welche seiner Fähigkeiten oder Eigenschaften jeder Gast besonders stolz ist. Dabei zeichnet sich Sokrates vor allen anderen durch seine auf den ersten Blick paradoxe Antwort aus, er sei auf seine Fähigkeiten als Kuppler besonders stolz. Die Erklärungen der einzelnen Gäste zu ihren Fähigkeiten werden von den anderen durch zahlreiche teils witzige, teils spöttische Anmerkungen kommentiert. Bei den Ausführungen des Sokrates versucht sich Xenophon dann in einer Parodie der platonischen Dialoge, indem er den Sokrates in der üblichen Manier Fragen stellen lässt, die die anderen Gäste stur immer erneut nur mit der einzigen Phrase πάνυ μὲν οὖν – einer im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Häufung dreier bestätigender Wörter, ungefähr wie aber selbst doch freilich – beantworten.

Nach einem weiteren Zwischenspiel der kleinen Animationstruppe versucht Xenophon, sein »Symposion« in unmittelbare Konkurrenz zum platonischen zu stellen, indem er Sokrates eine ausführliche  und gelehrte Rede zum Lobe des Gottes Eros halten lässt, die nicht nur inhaltlich, sondern auch ihrem Grundcharakter nach allem widerspricht, was wir aus den platonischen Frühschriften an Darstellungen des Sokrates kennen. Diese Rede führt zudem die gesamte Anlage der Erzählung als eine über ein geselliges Zusammensein derartig in eine Sackgasse, dass Xenophon sich nur mit einer höchst hölzernen Wendung aus ihr zu retten weiß:

Damit endete diese Gespräch. Autolykos – es war bereits Zeit für ihn – stand zu einem Spaziergang auf, und sein Vater Lyon wollte mit ihm hinausgehen, als er sich noch einmal umdrehte  und sagte: »Bei der Hera, Sokrates, du scheinst mir ein Mensch von sittlichem Adel zu sein!«

Nichts in diesem »Gastmahl« kann auch nur für einen Moment ernsthaft mit dem konkurrieren, was das platonische Vorbild bietet. Sein Witz ist vergleichsweise platt, seine Figurengestaltung mehrheitlich eindimensional, wenn nicht gar einfältig, sein Moralisieren naiv und ohne jeden Esprit. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Schriftsteller deutlich überhebt, indem er versucht mit einem Autor in Konkurrenz zu treten, dem er weder literarisch noch inhaltlich das sprichwörtliche Wasser reichen kann. Über eine rein historische Ebene hinaus ist dieser Text schlicht eine Enttäuschung.

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Vergleichsweise erfrischend ist Lukians Parodie auf die Symposienliteratur: Bei ihm kommen die vortrefflichsten Vertreter diverser philosophischer Schulen bei der Hochzeit der Kinder zweier Geldadliger zusammen. Diese führenden Köpfe der Stadt sind während des Festes in der Hauptsache damit beschäftigt, einander gegenseitig schlecht zu machen und sich nach Möglichkeit die besten Stücke auf der Tafel wegzuschnappen. Das ganze endet denn auch konsequent in einer großen Schlägerei, aus der fast alle Beteiligten mit erheblichen Blessuren hervorgehen: einem der Philosophen fehlen am Ende die Nase und ein Auge, die er in der Hand vom Schlachtfeld des Symposions trägt, was einen seiner philosophischen Kollegen nur zu einer höhnischen Bemerkung mehr veranlasst. Lukians Erzähler wenigstens zieht eine nützliche Lehre aus dem Geschehen:

Ich für meinen Teil habe mir diese Moral daraus gezogen: daß es für einen, der kein Freund von bösen Händeln ist, eine gefährliche Sache sei, sich mit Philosophen dieses Schlages zu Gast bitten zu lassen. [Übers. v. Christoph Martin Wieland]

Vielleicht sollte man doch dem ein oder anderen heutigen Talkshow-Gast die Lektüre wenigstens des lukianschen »Gastmahls« ans Herz legen …

Platon: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. RUB 18435. Stuttgart: Reclam, 2006. Broschur, 215 Seiten. 5,– €.

Xenophon: Das Gastmahl. Griechisch/Deutsch. Hrsg. u. übers. von Ekkehard Stärk. RUB 2056. Stuttgart: Reclam, 1986. Broschur, 127 Seiten. 4,– €.

Lukian: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Julia Wildberger. RUB 18377. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 95 Seiten. 3,– €.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance

When you’ve got a Chautauqua in your head, it’s extremely hard not to inflict it on innocent people.

978-0-06-058946-2Eines der Bücher, die auf meiner imaginären Liste der frühen Lektüren stehen, die ich noch einmal lesen will. Zwar habe ich versucht herauszufinden, wann genau ich dieses Buch gelesen habe, konnte aber zu keinem genauen Ergebnis kommen. Ich vermute, dass es 1977 oder 1978 gewesen sein muss, also bevor ich zum ersten Mal Philosophie-Unterricht hatte, denn die Passage über Kants »Kritik der reinen Vernunft« hätte später bei mir sicherlich zu einer heftigen Abwertung des Buches geführt; so habe ich sie wahrscheinlich nicht besonders gut verstanden und dementsprechend rasch vergessen.

Die größte Überraschung der erneuten Lektüre war die Einsicht, dass es sich hier wesentlich nicht um einen Roman handelt (so habe ich das Buch Ende der 70-er Jahre gelesen), sondern um eine Mischung aus weitgehend autobiographischem Bericht und philosophischem Essay. Der essayistische Anteil ist bewusst populär behandelt und wird von Pirsig an die Tradition der Chautauquas angeschlossen.

Den erzählerischen Rahmen bildet in der ersten Hälfte des Buches eine Motorradtour, die der autobiographische Ich-Erzähler zusammen mit seinem Sohn Chris und zwei Bekannten, Sylvia und John, nach Bozeman in Montana unternimmt. In der zweiten Hälfte besteigt er zusammen mit Chris einen Berg und setzt anschließend mit ihm die Motorradtour fort. Der Erzähler hat vor vielen Jahren an der Universität von Bozeman Rhetorik unterrichtet, dann aber offensichtlich eine schizophrene Episode durchlebt, während der er in der Psychiatrie mit einer Elektroschock-Therapie behandelt und geheilt wurde. Die Fahrt nach Bozeman ist somit zugleich eine Reise in die eigene, weitgehend vergessene Vergangenheit und zurück zu einem früheren Ich, das den Namen Phaedrus trägt und sich, je weiter die Handlung fortschreitet, immer deutlicher wieder im Erzähler manifestiert. Der sich immer mehr in den Vordergrund drängende essayistische Anteil ist vorgeblich der Versuch des Erzählers, die von Phaedrus entwickelte philosophische Theorie vorzuführen, wobei der Erzähler betont, dass er sie aus fragmentarischen Erinnerungen und Notizen habe rekonstruieren müssen.

Das philosophische Brett, das hier gebohrt wird, ist recht dünn: Es handelt sich um einen handgreiflichen Versuch in klassischer Metaphysik. Ausgehend von seiner eigenen Unfähigkeit, auf den Begriff zu bringen, was Qualität ist, obwohl er sie erkennen kann und sie ein wesentliches Ziel seiner Lehrtätigkeit darstellt, fasst der Rhetoriklehrer Phaedrus den Entschluss, Qualität sei eine nicht zu definierende essentielle Eigenschaft der Welt, die der dualistischen Teilung in Subjekt und Objekt vorausgehe. Diese all eine Qualität sei überhaupt die Verbindung zwischen allen wirklichen Philosophien der Welt und der westliche Irrweg der rationalistischen Analyse, den wesentlich Platon und Aristoteles erstmals beschritten hätten, sei von Übel und verantwortlich für das Unbehagen in der technischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Man sollte nicht erwarten, dass dies tatsächlich irgendwie begründet wird; das verhindert allein schon der Charakter der Darstellung als fragmentarische Rekonstruktion. Auch fällt Phaedrus, obwohl er angeblich die »Kritik der reinen Vernunft« gelesen hat, nicht ein, dass dieser Begriff sich in der Kantischen Kategorientafel findet. Überhaupt beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie auf den Mathematiker Poincaré, die einzigen wissenschaftstheoretischen Gedanken, die zitiert werden, stammen von Albert Einstein. Der Rest erschöpft sich in Namedropping, und das obwohl Phaedrus sich, man höre und staune, ein ganzes Jahr lang mit Philosophiegeschichte beschäftigt. Auch die auf den letzten 100 Seiten stattfindende Diskussion der Philosophie der griechischen Antike ist geprägt von einem unzureichenden Verständnis der antiken Problemstellungen.

Für jemanden, der sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auskennt, dürfte aber am witzigsten sein, dass bereits 1953 ein Buch erschienen ist, das die gesamte metaphysische Gymnastik dieses Buches obsolet macht: Hätte Phaedrus einen wohlmeinenden Freund gehabt, der ihm Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« in die Hand gedrückt hätte, wäre ihm wohl der Wahnsinn und uns gut 500 Seiten erspart geblieben.

Nett ist das Plädoyer für die hauptsächlich am Beispiel der Motorradwartung demonstrierten sekundären Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Sorgsamkeit, Konzentration und Geläufigkeit. Dies sind die angenehmsten Passagen dieses sich ansonsten bei aller vorgeblichen Demut selbst weit überschätzenden Textes. Sie sind es neben dem Titel wohl auch, die das Buch zum Bestseller haben werden lassen.

Insgesamt eine enttäuschende Wiederbegegnung.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. An Inquiry into Values. New York: Harper, 172006. Broschur, 540 Seiten. 5,20 €.

Plato: Phaedrus

Come here, then, noble creatures, and persuade the fair young Phaedrus that unless he pay proper attention to philosophy he will never be able to speak properly about anything.

Eins führt zum anderen: Da der »Phaidros« in »Der Tod in Venedig« aus thematischen Gründen eine prominente Stellung inne hat und er außerdem für das oben auf dem Stapel der wieder einmal zu lesenden Bücher liegende »Zen and the Art of Motorcycle Maintenance« von Bedeutung ist, habe ich den Dialog wieder einmal aus dem Schrank geholt. Erklärungsbedürftig ist aber wohl, warum hier eine englische Übersetzung gelesen wurde. Ich habe während des Studiums angefangen, griechische Klassiker auf Englisch zu lesen, zuerst weil es keine halbwegs preiswerte und vollständige deutsche Aristoteles-Ausgabe gab und zudem zahlreiche der erreichbaren deutschen Übersetzungen nicht unwesentlich ein Ergebnis christlicher Lektüre sind. Da als Alternative eine weitgehend vollständige und ordentlich übersetzte englische und altgriechische Ausgabe in der Loeb Classical Library vorlag, war dies fast selbstverständlich meine Wahl. Später bin ich dann auch bei Platon auf die Loeb-Ausgabe umgestiegen, da die Schleiermacher-Übersetzung selbst in der verwässerten modernisierten Form höchstens Altphilologen Vergnügen bereitet, die ebenso leicht das Original lesen könnten, und auch die Meiner-Ausgabe das Problem der gleichzeitigen Lesbarkeit und Korrektheit nicht wirklich zufriedenstellend löst. In letzter Zeit stellt die zweisprachige Ausgabe in der Universalbibliothek von Reclam eine gute deutschsprachige Platon-Ausgabe zur Verfügung, doch kommt diese Edition nur quälend langsam voran. Jedenfalls lese ich seit dem Studium die antiken philosophischen Klassiker bevorzugt in englischen Übersetzungen, auch da mein Altgriechisch nie so gut war, dass ich die Originale auch nur einigermaßen flüssig lesen könnte.

Der »Phaidros« gehört wahrscheinlich nach dem »Symposion« zu den meist rezipierten Dialogen Platons und ist nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch unter Schriftstellern seit der Neuzeit von bedeutendem Einfluss. Das liegt zum einen an der über weite Strecken vergleichsweise lockeren Diktion, zum anderen aber sicherlich auch daran, dass der philosophische Diskurs hier durch die Interaktion zwischen den Dialogpartner Phaidros und Sokrates und den Ort des Dialogs (der klassische locus amoenus) offensichtlich in einen literarischen Rahmen eingepasst ist.

Grundthema des Dialogs ist die Bestimmung dessen, was Liebe sei. Anlass ist eine Rede des Lysias über die Liebe, die Phaidros bei sich hat, als er Sokrates vor den Toren Athens trifft. Da es ein heißer Tag ist, suchen die beiden in einem den Musen geweihten Hain den Schatten auf, und Phaidros liest Sokrates die Rede des Lysias vor, von der er zuerst in höchsten Tönen schwärmt. Sokrates ist von ihr allerdings weniger angetan und entwickelt spontan zwei Gegenreden über dasselbe Thema. In einer davon findet sich die Bestimmung der Liebe als der höchsten von drei Sorten des Wahnsinns, die die Götter den Menschen eingeben. Von hier ausgehend entwickelt Sokrates die Allegorie vom Seelenwagen: Die dreigeteilte menschliche Seele gleiche einem Wagen, der von zwei Pferden gezogen werde. Das weiße, gute Pferd dränge zum Himmel und dem Reich der Ideen, das dunkle Pferd der Leidenschaft dagegen ziehe den Wagen erdwärts und hin zur konkreten Welt. Die dritte Komponente, die den Wagen lenkende Vernunft, versuche dieser beiden Tendenzen Herr zu werden und entgegen den störenden Leidenschaften den Seelenwagen hin zur Philosophie und zur Erkenntnis der Ideen zu lenken.

Anschließend wendet sich Sokrates der Kritik der zeitgenössischen Rhetorik-Lehrer zu. Es folgt eine Zusammenfassung der aus den Frühdialogen bereits bekannten Kritik an der sogenannten Sophistik, der vorgeworfen wird, sich nicht wirklich um die Erkenntnis der Wahrheit zu bemühen, sondern sich mit Vorstufen wahrer Erkenntnis zu begnügen und andere von der Hinwendung zur wirklichen Erkenntnis durch ihre Irrlehren abzuhalten. Es folgt eine Kritik des geschriebenen Wortes, wie sie ähnlich auch im berühmten Siebten Brief Platons zu finden ist, hier exemplifiziert an einem altägyptischen Mythos von der Erfindung der Schrift durch den Gott Theuth. Mit der berühmten Definition der Philosophen als »Liebhaber der Weisheit«, einem verhaltenen Lob des jungen Rhetors Isokrates und einem gemeinsamen Gebet der beiden Gesprächspartner schließt der Dialog.

Wie oft bei Platons Dialogen kann sich der halbwegs selbstständige Leser des Gefühls nicht erwehren, dass zu den verhandelten Themen noch so manches zu sagen wäre und zahlreiche der Argumente des Sokrates, die Phaidros widerstandslos schluckt, bei weitem nicht so überzeugend sind, wie sie erscheinen sollen. Da der Dialog sich selbst aber zugleich als nicht besonders ernstzunehmende intellektuelle Spielerei einordnet, stößt jede systematische Kritik ins Leere. Von daher geschieht es ihm wahrscheinlich recht, in der Neuzeit besonders häufig Schriftsteller angeregt zu haben.

Plato: Phaedrus. In: Plato in Twelve Volumes I. With an english translation by Harold North Fowler. Cambridge: Harvard University Press, 151982. Leinen, Fadenheftung, 583 Seiten. 24,– $.

Claus Priesner: Geschichte der Alchemie

978-3-406-61601-3Eine kurze, leider aber auch etwas kurzatmige Geschichte der Alchemie von den antiken Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Der Autor ist Chemiker und, soweit es die Alchemie im engeren Sinne angeht, fraglos kompetent und von erfrischend nüchterner Grundhaltung zu seinem Thema. Sobald es aber über den engen Umkreis des Hauptthemas hinausgeht, wird die Darstellung rasch oberflächlich, was den Autor aber nicht hindert, auch anspruchsvolle Thesen mit starkem Selbstbewusstsein zu formulieren:

Die Vorstellung, dass sich geistig-kulturelle Entwicklungen sprunghaft, in Form abrupter Paradigmenwechsel vollziehen wird hier eindrucksvoll ad absurdum geführt. Mit anderen Worten: Das Schlagwort von der «Scientific Revolution», das Thomas S. Kuhn mit seinem gleichnamigen Buch 1962 berühmt machte, eignet sich nicht zur Beschreibung historischer Prozesse […].

Andere Formulierungen, insbesondere dann, wenn es um philosophische Inhalte im engeren Sinne geht, geraten auch gern einmal zur Stilblüte:

Descartes entwickelte eine universelle Methode zur Erforschung der Welt, nämlich das rationale Denken.

Welche Methode mögen da wohl Platon oder Aristoteles verwendet haben?

Sieht man von dieser grundsätzlichen Schwäche ab, ist das Büchlein für einen ersten Überblick recht gut geeignet. Insbesondere die Darstellung der Genese und frühen Entwicklung der Alchemie in Ägypten und Griechenland überzeugt. Ebenso ist der Übergang zur modernen Chemie gut und auch für chemische Laien verständlich dargestellt. Da das Büchlein als kurze und sachliche Darstellung der Geschichte der Alchemie weitgehend konkurrenzlos sein dürfte, kann es wohl oder übel empfohlen werden.

Claus Priesner: Geschichte der Alchemie. Beck’sche Reihe 2718. München: C. H. Beck, 2011. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe …

… des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Mein Leben ist, als würde man mich damit schlagen.

978-3-596-17218-4Das Prosa-Hauptwerk des wichtigsten portugiesischen Lyrikers des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist der Text wohl in der Hauptsache zwischen 1929 und 1934, wobei sich Pessoa wahrscheinlich darüber im Klaren war, dass kaum Aussichten bestanden, ihn veröffentlichen zu können. Überliefert wurde er in der berühmt-berüchtigten Truhe in Pessoas Nachlass, aus der peu à peu das Gesamtwerk hervorgegangen ist. Die Originalausgabe erschien erst 1982, die vollständige deutsche Übersetzung 2003 bei Amman.

Wie bei einem großen Teil seiner übrigen Werke wird auch »Das Buch der Unruhe« einem fiktiven Autor zugeschrieben. Allerdings betont Pessoa, dass es sich bei Bernardo Soares nicht um ein vollständiges Heteronym handelt:

Auch wenn sich Bernardo Soares von mir in seinen Vorstellungen, seinen Gefühlen, seiner Art zu sehen und zu verstehen unterscheidet, so doch nicht in der Art, in der er sie äußert. Er ist eine andere Persönlichkeit, der ich durch meinen mir eigenen natürlichen Stil Ausdruck verleihe, dabei unterscheidet uns einzig der unvermeidbar besondere Ton, der sich zwangläufig aus der Besonderheit seiner Emotionen ergibt.
Die [anderen heteronymen] Autoren […] haben nicht nur andere Vorstellungen und Gefühle als ich, sondern greifen auch auf einen anderen Stil und eine andere Kompositionstechnik zurück. Hier ist jede einzelne Person nicht nur unterschiedlich erdacht, sondern auch vollkommen unterschiedlich beschaffen. Daher ist [bei ihnen] auch der Vers bestimmend. Sich in Prosa zu andern [sic!] ist weit schwerer. [Anhang, S. 553]

Pessoa wählt die Form der Herausgeberfiktion, um seinen erfundenen Autor einzuführen: In einem kurzen Vorwort beschreibt er, wie er Soares kennengelernt habe und dass ihm das Buch aus dem Nachlass des Autors zur Veröffentlichung anvertraut wurde.

Schon der Versuch, das Buch einem bestimmten Genre zuzuordnen, stößt auf Schwierigkeiten. Soares selbst, dem das Vorwort ein Alter von »ungefähr dreißig Jahren« zuschreibt, bezeichnet es als eine »Autobiographie ohne Ereignisse«; dem ersten Blick präsentiert es sich als ein lückenhaftes Tagebuch – der erste Eintrag ist auf den 9.3.1930 datiert, einer der letzten auf den 26.7.1934 –, beim weiteren Lesen scheint es sich jedoch mehr um eine Mischung aus Tage- und Notizbuch zu handeln, wofür es mit knapp 450 Seiten allerdings sehr umfangreich ist. Auch scheint Soares alles, was er schreibt, eindeutig für andere Leser zu schreiben, wenn er auch zweifelt, ob das Buch jemals veröffentlicht werden wird. Um das Buch zu beschreiben, ist man geneigt, aufzuzählen was es nicht ist, bzw. was sein Autor nicht tut: Er erzählt keine Geschichte, er gibt keine Autobiographie im klassischen Sinne, er scheint kein zentrales Thema zu haben, andererseits aber eine gewisse Anzahl von Motiven immer und immer wieder zu thematisieren, ohne dass irgend eine Art von Fortschritt zu erkennen wäre, er liefert abgerissene Gedanken zu philosophischen, religiösen und mystischen Themen, ohne Anspruch auf eine einheitliche Theorie oder auch nur Widerspruchsfreiheit.

Womit sich Bernardo Soares dagegen ausführlich beschäftigt, ist er selbst. Er arbeitet als Hilfsbuchhalter in einer Textilfirma, wohnt in einem kleinen Zimmer in Lissabon, geht regelmäßig spazieren und er – schreibt. Da es aufgrund seines weitgehend einsamen und äußerlich eintönigen Lebens kaum irgendwelche Ereignisse zu berichten gibt, sind es seine inneren Erlebnisse, seine Gefühle und Gedanken, die den Stoff des Schreibens liefern. Als sei dies nicht schon wenig genug, zweifelt Bernardo Soares überhaupt daran, irgendetwas zu sagen zu haben:

Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe. [S. 25]

Soares ist ohne jede Ambition, glaubt nicht an das Handeln, misstraut seinen Gefühlen, träumt unbestimmte Träume und bewundert den Himmel, registriert Hitze und Regen, doch nichts scheint ihn wirklich zu berühren:

Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Glasscheibe. So deutlich ich das Leben auch erkenne und verstehe, berühren kann ich es nicht. [S. 91]

Außer der reinen Chronologie, dem eher zufälligen Nacheinander der einzelnen Einträge – die deutsche Ausgabe hat 481 Einträge auf knapp 450 Seiten – scheint es kaum eine Ordnung zu geben. Doch je länger man liest, desto besser erkennt man, dass die wiederkehrenden Motive mit großer Sorgfalt ausgewählt sind: So ist Soares natürlich alles andere als zufällig ein Buchhalter, also einer der die Geschäftsgänge aufzeichnet, ohne selbst Geschäfte zu machen. Und natürlich fasziniert ihn immer wieder der Himmel, denn der Himmel ist stets derselbe, aber an jedem Tag ein anderer. Und ebenso selbstverständlich sind Träume für Soares wichtig, nicht nur als Gegenwelt zu dem von ihm verachteten und zugleich ersehnten Leben, sondern auch als der Ort einer ungesteuerten Kreativität, eines Schöpfens ohne Ziel mit Handlungen ohne Sinn und weltliche Bedeutung.

Zu Anfang meiner Lektüre dachte ich, dass ein solches Buch nicht funktionieren kann, dass ein solches Konzept keine 450 Seiten Text trägt. Aber ich wurde eines besseren belehrt. Wenn ich auch der Meinung bin, dass eine Überarbeitung für eine Publikation und damit eine Verdichtung dem Buch sicher gut getan hätte, muss ich zugestehen, dass ich bis zur letzten Seite fasziniert gewesen bin und auch sicherlich noch weitere 100 Seiten dieser Prosa gelesen hätte, ohne zu murren.

Ein Buch sicherlich nicht für alle Leser, besonders nicht für jene, die Handlung, Spannungsbogen und eine Heldin bzw. einen Helden  von einem Buch erwarten. Es ist eher für Leser geschrieben, die mit einem Autor in aller Ruhe ein Gespräch führen möchten.

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Fischer Taschenbuch 17218. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 32008. 574 Seiten. 12,95 €.

Auch die gebundene deutsche Erstausgabe bei Amman ist immer noch lieferbar!

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis

3-498-06215-8Roman um eines der Heteronyme Fernando Pessoas: Ricardo Reis wurde am 19. September 1887 in Porto geboren. Er besuchte dort eine Jesuitenschule und erhielt eine klassische Schulbildung. Reis wurde Mediziner und verdiente seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich als praktizierender Arzt. Nach Gründung der portugiesischen Republik 1919 ging er nach Brasilien ins Exil. Seine Dichtung folgt klassischen Vorbildern; sein Lieblingsbuch waren dementsprechend die Satiren des Horaz.

José Saramagos Buch lässt Ricardo Reis in den letzten Tagen des Jahres 1935 nach Portugal zurückkehren; Fernando Pessoa ist etwa einen Monat zuvor verstorben. Reis kommt in einem kleinen Hotel mit Blick auf den Tejo unter, und sein erster Gang durch die Stadt führt ihn zum Grab Fernando Pessoas, dessen Tod wohl der eigentliche Anlass seiner Rückkehr ist. Sehr bald nach dem Besuch am Grab stellt sich zum ersten Mal der Geist Pessoas leibhaftig im Hotelzimmer Ricardos ein. Pessoa legt Reis gegenüber eine etwas spöttische Grundhaltung an den Tag; besonders mokiert er sich darüber, dass der lebenslange Einzelgänger nun gleich mit zwei Frauen anbändelt bzw. anzubändeln versucht: Reis beginnt eine Affäre mit Lídia, einem Zimmermädchen des Hotels, das zufällig denselben Namen trägt wie die fiktive Geliebte seiner Gedichte, und verliebt sich außerdem in Marcenda, ein junges, körperlich leicht behindertes Mädchen, das zusammen mit seinem Vater regelmäßig im Hotel zu Gast ist.

Reis, der in Brasilien zu einigem Wohlstand gekommen zu sein scheint, lässt sich eine Weile lang treiben, durchstreift Lissabon, betrachtet Denkmäler, liest Zeitungen, dichtet auch hin und wieder einige Verse. Erst eine Vorladung der Polizei, die erfahren möchte, welche Absichten der Herr Doktor mit seiner Rückkehr nach Portugal verbindet, rüttelt ihn auf. Er beschließt sich wenigstens zeitweilig in Lissabon niederzulassen, sucht sich eine Wohnung am Miradouro de Santa Catarina, nicht nur, weil sich dort eine Statue des Adamastor findet, sondern auch, weil der Blick auf den Hafen Lissabons für das letzte Kapitel des Romans von Bedeutung ist. Zudem sucht er sich eine Stelle als Vertretungsarzt, da er sich noch nicht entschließen kann, eine eigene Praxis zu eröffnen.

Auch in der neuen Wohnung führt er das Verhältnis mit Lídia weiter, die an ihren freien Tagen nicht nur mit dem Senhor Doktor das Bett teilt, sondern ihm auch den Haushalt führt. Ebenso verfolgt er seine Verliebtheit zu Marcenda weiter, so weit sogar, dass er ihr einen schließlich Heiratsantrag macht, den sie ablehnt, um sich von Ricardo auf Nimmerwiedersehen zu trennen. Die einzige andere Person, von der Reis regelmäßig Besuch bekommt, ist der Geist Pessoas, der aber immer mehr schwindet und ihm erklärt, es brauche nicht nur neun Monate, um zur Welt zu kommen, sondern ebenso lange um endgültig aus ihr zu verschwinden. Als Lídia schwanger wird und sich entschlossen zeigt, das Kind auszutragen, zeigt sich einmal mehr Ricardos Zögerlichkeit: Eine Heirat mit Lídia kommt für ihn gar nicht in Betracht, aber auch für eine Adoption kann er sich nicht entscheiden.

Der Roman endet in der Nacht vom 8. auf den 9. September 1936: Am 8. September unternahmen die Matrosen dreier portugiesischer Kriegsschiffe den Versuch einer Meuterei gegen das Regime Salazar, die aber bereits im Hafen von Lissabon blutig scheiterte. Einer der getöteten Matrosen ist Lídias Bruder, ein aktiver Kommunist und einer der Anführer der Meuterei. Bevor Ricardo Lídia noch einmal wiedersieht, holt ihn in der Nacht Fernando Pessoa ab und beide begeben sich gemeinsam zum Friedhof.

Diese alles in allem sehr schlichte, bruchlos zwischen Realismus und Fantastik wechselnde Fabel stellt Saramago vor den Hintergrund der politischen Entwicklung Portugals, Spaniens und Europas im Jahr 1936. In Spanien gewinnen die Kommunisten die Wahl, was innerhalb kurzer Zeit zu einem Militärputsch und dem Spanischen Bürgerkrieg führt. In Deutschland und Italien herrschen Faschisten, mit denen das Salazar-Regime weitgehend sympathisiert. Die portugiesische Öffentlichkeit ist von nationalem Pathos und Sendungsbewusstsein durchdrungen, fürchtet aber auch, dass die spanischen Unruhen auf Portugal übergreifen könnten. Zugleich ist die zivile Gesellschaft Portugals von Furcht und polizeilicher Gewalt gezeichnet.

Sprachlich ist das Buch über weite Strecken von erstaunlich langen, schwingenden und musikalischen Sätzen geprägt, die nach kurzem Einlesen zumindest bei mir einen regelrechten Sog entwickelten. Ich kann die Wirkung des Originals aufgrund mangelnder Sprachkenntnis nicht beurteilen, muss aber auch ohne das dem Übersetzer Rainer Bettermann das Kompliment machen, dass hier ein beeindruckendes und hoch originelles Sprachkunstwerk gelungen ist.

Für mich eine echte Entdeckung, die meine stofflich begründeten Vorurteile gegen Saramago nahezu vollständig über den Haufen geworfen hat. Dies wird in meiner Lesegeschichte nicht das letzte Buch von ihm bleiben.

José Saramago: Das Todesjahr des Ricardo Reis. Aus dem Portugiesischen von Rainer Bettermann. Reinbek: Rowohlt, 21998. Pappband, 496 Seiten. Derzeit nur als rororo 22308 für 9,90 € lieferbar.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier

978-3-8031-1236-1Kleiner dialogischer Essay um einen Anarchisten, der aus lauter Konsequenz zum Egoisten und aus lauter Egoismus zum Bankier geworden ist. Wahrscheinlich ist es ironisch gemeint, wahrscheinlich auch politisch, vielleicht sogar humoristisch. In jedem Fall ist es aber unerheblich, da keiner der verwendeten Grundbegriffe – Natur, Freiheit, Gesellschaft, Fiktion, Anarchie, Tyrannei, Egoismus – auch nur im Ansatz definiert wird. Von daher bleibt alles im Bereich der Beliebigkeit kaffeehäuslichen Intellektuellengebrummels. Wer sowas mag, um sich einen sonnigen Nachmittag im Garten seines Häuschens in der Toscana zu vertreiben, dem sei es empfohlen. Die anderen mögen die Zeit sinnvoller nutzen.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Übersetzt von Reinhold Werner. Berlin: Wagenbach, 2006. Leinen, Fadenheftung, 89 Seiten. 13,90 €.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa

978-3-446-23107-8Kurze biografische Erzählung, deren Inhalt der Titel bereits umreißt. Die Erzählung beginnt mit der Fahrt Pessoas ins Krankenhaus am Abend des 28. November 1935 und endet mit seinem Tod aufgrund einer Leberzirrhose am 30. In dieser Zeit wird er von den wichtigsten seiner Heteronyme besucht: Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares, Ricardo Reis und António Mora kommen einer nach dem anderen, um sich von ihrem Autor zu verabschieden. Dabei erlaubt sich Tabucchi besonders bei Ricardo Reis massive Eingriffe in dessen Biografie: Er sei gar nicht, wie Pessoa bestimmt hat, nach Brasilien ausgewandert, sondern sei aufs Land gezogen und habe sein Leben als Provinzarzt verbracht. Warum Tabucchi versucht, Reis als Angeber hinzustellen, wird aus der Erzählung heraus nicht klar; ich bezweifle auch sehr, dass er erhebliche Gründe dafür hat.

Wie in vielen Fällen von biografischen Fiktionen überzeugt auch diese am Ende nicht. Das beginnt mit der immer problematisch bleibenden Notwendigkeit, die Voraussetzungen der geschilderten Situation in den personal gehaltenen Text einzuflechten, was dazu führt, dass man den Protagonisten lauter Sachen denken und sagen lässt, die normalerweise in seinem Kopf nichts zu suchen hätten. Und das endet nicht bei der Frage, für wen – außer dem Autor – eine solche Erzählung eigentlich gedacht sein soll: Der uniformierte Leser versteht den Witz nicht, der informierte zuckt mit den Schultern und vergisst es gleich wieder.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1998. Broschur, 67 Seiten. 9,90 €.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?

978-3-446-20963-3Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten,  die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.

Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa

3-250-10282-2 Crespos Buch ist die umfangreichste Biografie des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, die auf Deutsch vorliegt. Sie ist erstmals 1988 in Barcelona erschienen und wurde 1996 auf Deutsch vorgelegt, wohl schon mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse 1997, bei der Portugal Gastland war. Die von mir gelesene deutsche Erstausgabe ist sprachlich an einigen Stellen sehr mangelhaft; ob und wie weit das in der »korrigierten« Taschenbuchausgabe bei Fischer 1998 behoben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das Buch ist für einen deutschen Leser, der sich nicht schon zuvor mit der portugiesischen Literatur auseinandergesetzt hat, keine leichte Kost, da Crespo einige literarhistorische Kenntnisse schlicht voraussetzt. So werden Begriffe wie z. B. Saudosismus oder Paulismus weitgehend als bekannt vorausgesetzt. Dem gemeinen deutschen Leser empfehle ich daher, sich durch die Lektüre einer portugiesischen Literaturgeschichte (etwa der von Helmut Siepmann) etwas vorzubereiten. An anderen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass auch Crespo nicht so genau weiß, worüber Pessoa gerade redet, was ihn  allerdings nicht hindert, sich seitenweise darüber auszulassen.

Auch was die Darstellung des Werks Pessoas angeht, wünschte man sich an vielen Stellen weniger abgehobenes Palaver und mehr konkrete Information. So findet sich an keiner Stelle eine systematische Darstellung aller von Pessoa verwendeten Heteronyme. Der Leser würde gerne erfahren, welche Heteronyme Pessoa überhaupt verwendet hat, in welcher Reihenfolge sie wahrscheinlich entstanden sind, welche biografischen Daten über sie vorliegen und welche Charakteristika ihre Werke voneinander unterscheidet. Ich will nicht sagen, dass sich nicht ein bedeutender Teil dieser Informationen im Buch finden lässt, nur eben hier und da, so wie es dem Autor gerade in den Sinn gekommen ist.

Wie schon angedeutet, verbessert sich diese Lage auch dadurch nicht, dass zumindest die deutsche Erstausgabe sehr flüchtig übersetzt und produziert worden ist. Es finden sich zahlreiche schlicht ungrammatikalische Sätze, die weder dem Übersetzer noch dem Lektorat hätten entgehen dürfen.

Insgesamt ein recht schlechtes Buch, das aber leider im deutschen Sprachraum konkurrenzlos geblieben zu sein scheint. Beide Ausgaben sind inzwischen lange vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Aus dem Spanischen und Portugiesischen von Frank Henseleit-Lucke. Zürich: Ammann, 1996. Pappband, 496 Seiten, davon 16 mit Abbildungen.