Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

Wieland in Oßmannstedt

978-3-937434-23-0Kleines Heft aus der Reihe »Menschen und Orte«, die ich bislang noch nicht kannte. Bekanntlich erwarb Christoph Martin Wieland 1797 ein Landgut in Oßmannstedt in der Nähe Weimars, um sich, ohne rechten Erfolg, als Landwirt zu versuchen. Das Haus ist, nachdem es zuletzt als Schule gedient hatte, von der Stiftung Weimarer Klassik zu Anfang des 21. Jahrhunderts endlich renoviert und die ehemals winzige Gedenkstätte (zwei Räume) erweitert worden, um den Begründer des Weimarischen Musenhofs an dieser Stelle angemessen präsentieren zu können. Der Ort ist natürlich allein deshalb wichtig, weil Wieland dort zusammen mit seiner Frau Dorothea und der »Seelentochter« Sophie Brentano in einem der schönst gelegenen deutschen Dichtergräber liegt.

Das nur 32 Seiten starke Heft enthält zahlreiche Abbildungen und Fotographien, und in der sie begleitenden, kenntnisreichen Biographie lassen sich auch vom Kenner noch nette Funde machen:

Mit Sorge betrachtete er [Wieland] die zunehmende Schwäche Dorotheas. Vierzehn Kinder hatte sie ihm geboren. „Es wären noch mehr geworden, wenn sich die Eheleute nicht zeitlebens gesiezt hätten“, hatte Goethes Freundin Charlotte von Stein gespottet.

Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt. Text: Bernd Erhard Fischer. Photographien: Angelika Fischer. Berlin: Ed. A·B·Fischer, 2008. 32 Seiten, geheftet. 7,80 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (8)

Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu tun noch zu denken haben.

Christoph Martin Wieland

Christoph Martin Wieland (1733–1813)

wielandEr war der erste ernsthafte deutsche Übersetzer Shakespeares, Gründungsvater des Weimarischen Musenhofs, väterlicher Freund Goethes und Heinrich von Kleists, Romanautor von Rang, Griechen- und Römerfreund und bedeutender Übersetzer antiker Autoren, Herausgeber einer der wichtigsten deutschen literarischen und politischen Zeitschriften, des »Teutschen Merkur« – alles in allem eine der herausragenden Gestalten der Literatur seiner Zeit und doch heute nur noch wenig gelesen. Sehr zu Unrecht, wie ich meine.

»In Deutschland«, schreibt Arno Schmidt, »haben wir ja ein ganz einfaches Mittel, einen intelligenten Menschen zu erkennen. […] Wenn er Wieland liebt.« Und auch die Antwort, die Schmidt auf diesen provokanten Satz folgen lässt, dürfte heute noch ebenso zutreffen: »er sagte würdig: ›Ich kenne ihn nicht‹.«

Dabei ist das sehr schade und gar keine Frage von Bildung oder Intelligenz, sondern einfach eine des Lesevergnügens. Wielands Romane und Verserzählungen sind von einem ausgesuchten Humor, sind gedankenreich und wortgewaltig. Manche Literaturgeschichte versucht Wieland als Spätling des Rokoko abzutun, aber damit wird man seiner literarischen Beweglichkeit und seinem aufklärerischen Geist keineswegs gerecht.

Wer war Christoph Martin Wieland?

Er wird 1733 als Sohn eines Pfarrers in der Nähe von Biberach geboren und erhält eine gute Schulbildung. Zum ersten Studium geht er nach Erfurt, wo er sich für die Philosophie einschreibt, die ihn zeitlebens begleiten und beschäftigen wird. Später studiert er noch zwei Jahre Jura in Tübingen und lebt dann für einige Jahre in Zürich, wo er unter anderem als Hauslehrer arbeitet. In diese Zeit fällt auch seine Liebe zu seiner Cousine Sophie Gutermann, mit der er sich zwar verlobt, die diese Verlobung aber löst, um Georg Michael Frank von La Roche zu heiraten. Unter ihrem Ehenamen Sophie von La Roche wird sie eine der führenden Autorinnen in Deutschland werden.

Wieland kehrt 1760 nach Biberach zurück und beginnt ernsthaft an seiner Karriere als Autor zu arbeiten. Es entstehen in rascher Folge die Übersetzungen von 22 Stücken William Shakespeares, die die erste Grundlage für die näherer Bekanntschaft der deutschen Leser mit diesem »dritten deutschen Klassiker« bilden. 1764 erscheint sein erster großer Roman: »Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva«, ein Märchen im Geiste des »Don Quixote«. Und nur zwei Jahre später folgt »Die Geschichte des Agathon«, eine moralische Erzählung in griechisch-antikem Gewand; nach diesem Muster wird Wieland noch zahlreiche Erfolge schreiben. 1769 übersiedelt Wieland zurück nach Erfurt und tritt dort eine Stelle als Philosophie-Professor an. Im September 1772 verpflichtet ihn die Weimarer Herzogin Anna Amalie als Erzieher ihres bereits 15-jährigen Sohnes Carl August. Wieland nimmt dieses finanziell verlockende Angebot an, das ihm für den Rest seines Lebens eine Grundversorgung durch den Weimarer Hof garantiert.

Leben in Weimar und Oßmannstedt

Wieland ist es, der die Bekanntschaft Carl Augusts mit Goethe anregt und vermittelt, die schließlich ab 1775 zur Entstehung des Weimarischen Musenhofs führt. Wieland arbeitet auch nach seiner Entlassung als Prinzenerzieher unermüdlich weiter: Es folgen seine Übersetzungen des Horaz und des Lukian, für den »Teutschen Merkur« entstehen zahllose Aufsätze zu aktuellen politischen und philosophischen Themen und er schreibt weitere Romane und Versepen: Der satirische Roman »Die Abderiten« (bis heute eine hoch vergnügliche Lektüre!), die Verserzählung »Oberon«, der an Lukian angelehnte Dialogroman »Peregrinus Proteus«, »Agathodämon«, und nicht zuletzt der sehr wichtige Roman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«, der so etwas wie das philosophische Vermächtnis Wielands enthält.

Unterdessen hat Wieland 1803 ein Landgut in der Nähe Weimars, in Oßmannstedt, erworben und hofft, damit die Einkommenslage seiner Familie verbessern zu können, was sich aber auf lange Sicht als Illusion erweist. In Oßmannstedt besuchen ihn Heinrich von Kleist, der zu der Zeit mit seiner Tragödie »Robert Guiskard« ringt, und die unglückliche Sophie Brentano, die Enkelin seiner Jugendliebe Sophie von La Roche und Schwester Clemens Brentanos, die im September 1803 in Oßmanstedt stirbt und auch dort auf dem Gute Wielands beigesetzt wird. Die Grabstätte liegt in einem Ilmbogen und nimmt später auch Wielands Ehefrau und schließlich ihn selbst auf. Die Grabstätte blieb bis heute unversehrt und ist eines der schönsten Dichtergräber der Deutschen Klassiker.

1803 verkauft Wieland das Gut in Oßmannstedt und zieht für die letzten zehn Lebensjahre nach Weimar zurück. 1808 kommt er noch in den »Genuss«, in Erfurt dem französischen Kaiser Napoleon beim Frühstücken zuschauen zu dürfen, ansonsten verbringt er seine späten Lebensjahre mit der Übersetzung der Briefe Ciceros. Am 20. Januar 1813 stirbt Wieland in Weimar und wird in Oßmanstedt beigesetzt.

Wieland wiederentdecken!

Schon zu seinen Lebzeiten galten Wielands Romane als ein wenig unmodern und überholt. Heute haben wir Leser die Chance, unbeeinflusst von solchen Vorurteilen einen witzigen und intelligenten Autor für uns wiederzuentdecken, von dem es viel, viel zu Lesen gibt. In den 80er Jahren gab es eine kleine Wieland-Renaissance, als Franz Greno in seinem Verlag die »Sämmtlichen Werke« Wielands in der Fassung letzter Hand in einer preiswerten Reprint-Ausgabe wieder auf den Markt brachte. Die Ausgabe dürfte heute noch zahlreich in den Antiquariaten zu finden sein. Viel Lesestoff für Neugierige und Literaturbeflissene.