Von der Höhe der Alpen (17)

I ain’t never seen ’em, but my common sense tells me the Andes is foothills, and the Alps is for children to climb! Keep good care of your hair! These here is God’s finest sculpturings! And there ain’t no laws for the brave ones! And there ain’t no asylums for the crazy ones! And there ain’t no churches, except for this right here! And there ain’t no priests excepting the birds. By God, I are a mountain man, and I’ll live ‚til an arrow or a bullet finds me. And then I’ll leave my bones on this great map of the magnificent …

Del Gue

Literaturskandal um zamonischen Großdichter

Anlässlich des gerade erschienenen Buches »Der Schrecksenmeister« hat der zamonische Autor Hildegunst von Mythenmetz schwere Vorwürfe gegen seinen Übersetzer Walter Moers erhoben. Moers antwortet schlagkräftig in der Wochenschrift »Die Zeit«. Für Leser des Buches dürfte die folgende Passage wichtig sein:

Ausgerechnet Hildegunst von Mythenmetz, der Gofid Letterkerls schmale Novelle zum dicken Roman ausbaut, sich also schamlos eines vorhandenen Fundamentes bedient, macht mir den Vorwurf des geistigen Diebstahls. Die Literaturgeschichte ist nicht arm an solchen Beispielen. Ist nicht letztendlich jede Reiseerzählung eine Odyssee? Ist nicht jedes epische Märchen ein Abklatsch der Nibelungen- oder Artussage? Jede Detektivgeschichte ist Edgar Allan Poe zu verdanken, der das Genre erfand. Und jedes Werk der Science-Fiction schuldet seine Existenz eigentlich Shakespeares Sturm. Sind deshalb alle Autoren von Märchen, von Detektiv- oder Science-Fiction-Romanen Diebe und Plagiatoren?

sternchen.jpg

P.S.: Wie wir herausfinden konnten, liegt dem Mythenmetzschen Roman wohl die Novelle »Schakal spendet Ziege« von Gofid Letterkerl zugrunde, auch wenn das Nachwort nur den viel späteren, abschwächenden Titel der Neuauflage »Echo, das Kätzchen« erwähnt.

Shortlists (2)

Warnung : »Überlegen Sie sich’s zwanzig Mal, ehe Sie irgend ‹Gesammelte Werke› kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. – Wer mehr als 1 Dutzend ‹Gesamtausgaben› besitzt, ist ein Charlatan ! – Oder aber : er hat sie nicht gelesen.«

Apodiktisch, wie wir ihn lieben, spricht hier Arno Schmidt ein hartes Wort über jene Buchlieberhaber aus, die nicht nur einen großen Teil der zu erübrigenden Zeit mit Lesen verbringen, sondern in deren Wohnungen sich die Bücherregale mit den Bildern um den Platz an den Wänden streiten und oft, zu oft gewinnen. Da wird ein neuer Autor entdeckt, und man deckt sich vorsorglich mal mit einer Werkauswahl oder eine ‹Gesamtausgabe› ein, denn es könnte ja sein, dass einen gleich morgen in aller Frühe, noch vor Öffnung der ersten Buchhandlungen oder Bibliotheken der ununterdrückbare Drang überfällt, Honoré de Balzacs »Das Alter einer schuldigen Mutter« zu lesen, und man hätte es nicht im Haus.

Deshalb als Gegengewicht zur ersten Shortlist und für alle, denen es ähnlich geht, hier als Klagegesang:

10 Autoren, für die ich gern mehr Zeit haben würde:

  1. Christoph Martin Wieland: Auch ich habe den Reprint in den goldenen Zeiten der Greno Verlages gekauft und brav die wichtigen Romane gelesen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Die Geschichte des Agathon«, die unvergleichliche »Geschichte der Abderiten« und auch den anspruchsvollen »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Und dennoch bleibt das Bewusstsein, das da noch Bände um Bände von Schätzen zu heben sind.
  2. Jean Paul: Vielleicht die subjektiv schmerzlichste Lücke. Noch zu Schulzeiten habe ich nach ¾ der »Flegeljahre« aufgegeben, dann im Studium all die kleineren Sache gelesen, damit die Hanser-Werkausgabe wenigstens nicht ganz ungenutzt herumsteht, aber mir nie die Ruhe und Zeit genommen, die großen Romane durchzugehen.
  3. Thomas Pynchon: Gerade vor ein paar Tagen habe ich noch mit einem Freund darüber gesprochen, dass meine frühe Pynchon-Lektüre so lange her ist, dass ich mich kaum daran erinnere. Ich wäre schon neugierig, wie »Gravity’s Rainbow« heute, nach beinahe 30 Jahren auf mich wirken würde. In »Mason & Dixon« bin ich irgendwo in der Mitte stecken geblieben und »Against the Day« liegt seit dem Erscheinen unangetastet hier herum.
  4. Honoré de Balzac: Auch hier vermute ich, dass wahre Schätze zu heben sind, habe aber bis auf einige Inseln keinen blassen Schimmer, was der Kontinent der »Menschlichen Komödie« birgt.
  5. Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege« war – wie bei so vielen – die »Einstiegsdroge«, und dann ist einfach immer wieder etwas dazwischen gekommen. Da muss noch einmal ganz von vorne begonnen werden.
  6. William Faulkner: Noch während des Studiums sind die blauen Bände des Diogenes Verlags ins Bücherregal gewandert und seitdem brav von Wohnung zu Wohnung mit umgezogen. Gelesen habe ich bislang einige Erzählungen, aber noch keinen einzigen der Yoknapatawpha-Romane, noch nicht einmal auf Deutsch. Statt dessen hat man irgenwann einmal den 10-bändigen Hemingway durchgelesen und ärgert sich heute über die verschwendete Zeit!
  7. Ludwig Tieck: Auch so ein Autor, bei dem man das Gefühl hat, nie an ein Ende kommen zu können, gleichgültig wieviel man auch immer von ihm gelesen hat. Wenn es nur wenigstens einmal die Novellen komplett wären …
  8. Marcel Proust: Da ist das Misstrauen gegen die deutsche Übersetzung der »Suche nach der verlorenen Zeit« die Hauptursache, dass ich beim ersten Versuch schon im Swann stecken geblieben bin. Vielleicht gelingt ein neuer Anlauf mit der überarbeiteten Fassung? Aber die Zeit, die Zeit …
  9. Johann Gottfried Herder: Auch so ein typischer Ausschnitt-Autor, also einer, von dem man immer nur die »Stellen« aufsucht und hier ein wenig in den »Ideen« schmökert und dort einige Seiten den »Briefen zur Beförderung der Humanität« folgt, sich aber nie zu einer gründlichen Lektüre entschließt, obwohl man weiß, dass von hier gewaltige Einflussströme ausgehen, denen man immer und immer wieder begegnet. Was einem allein bei Nietzsche alles auffallen könnte, wenn man Herder wirklich gründlich kennte, …
  10. Johann Wolfgang von Goethe: Ganz gleich, wieviel Goethe ich wie oft gelesen habe, das hört nicht auf …

Roger Paulin: Theodor Storm

Um Storm scheint es derzeit etwas ruhig zu sein: Außer der veralteten Rowohlt-Bildmonographie von Hartmut Vincon ist derzeit wohl keine Storms Leben vollständig beschreibende Biographie auf dem Markt. Die beiden letzten stammen, soweit ich sehe, von Georg Bollenbeck (Insel, 1988; demnächst in diesem Theater) und eben Roger Paulin, der innerhalb der Reihe der Beck’schen Autorenbücher ein Storm-Porträt abliefert.

Wie bei der Reihe üblich, ist das Buch zugleich Kurzbiographie und Werkeinführung und zielt auf eine studentische Leserschaft ab, die sich schnell einen Überblick zu einem Autor verschaffen will. Diesem Anspruch genügt das Buch vorbildlich. Paulin ist offensichtlich ein exzellenter Kenner Storms und findet bei der Besprechung ein ausgewogenes Verhältnis von Prosa und Lyrik – er schließt sich übrigens Storms Selbsteinschätzung an, einer der bedeutendsten Lyriker des 19. Jahrhunderts zu sein. Er geht bei der Erschließung der Werke von der Autorenpoetik aus und setzt Storms Dichtung von den zeitgenössischen Hauptströmungen ab, ohne sie dabei in die Kategorie Heimatdichtung abzuschieben. Auch persönliche und ökonomische Bedingungen der Produktion werden knapp, aber treffsicher thematisiert. Angesichts des derzeitigen Mangels an Biographischem zu Storm ist es trotz seinem nicht unbeträchtlichen Alter zu bedauern, dass dieses Buch von Beck nicht weiter aufgelegt worden ist.

Roger Paulin: Theodor Storm. Beck’sche Reihe 622. München: Beck, 1992. 144 Seiten.

Miniaturen (4)

Nun standen die jungen Leute, die noch in das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln des Turmes, hinter welchen sie ihre Nester hatten; im Westen über dem Haff stand ein glühendes Abendrot.

Theodor Storm
Der Schimmelreiter

Der letzte genialische Pass

genialisch

Quelle: sueddeutsche.de

Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort «das geniale Rennpferd». Es stand in einem Bericht über einen aufsehenerregenden Rennbahnerfolg, und der Schreiber war sich der ganzen Größe des Einfalls vielleicht gar nicht bewußt gewesen, den ihm der Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben hatte. Ulrich aber begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hören als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war.

Robert Musil
Der Mann ohne Eigenschaften

Horst Günther: Das Bücherlesebuch

buecherlesebuchDer Titel Bücherlesebuch ist etwas unspezifisch; im Mittelpunkt dieses Buchs steht der Gedanke, wie eine private Bibliothek aufzubauen wäre. Zwar werden auch öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken behandelt, auch dem Bibliographienwesen wird ein wenig Raum gewidmet, aber der Hauptteil des Buches besteht aus Empfehlungen zur europäischen Literatur, ergänzt um einige kurze Abschnitte zu Fachbereichen wie Philosophie, Geschichte, Jura, Naturwissenschaften, Kunst und einigen anderen. Sogar für ein Musikarchiv als Ergänzung der Bibliothek wird plädiert.

Die Stärke des Buches liegt in Günthers ganz subjektivem Ansatz, der um seine eigene Perspektive weiß, weder das deutliche Urteil scheut, noch glaubt, damit sei die Sache erledigt: »Man lege seiner Neugier keine Zügel an …« [S. 131], ist wahrscheinlich der Satz, der den Geist des Buches am besten zusammenfasst. Erfrischend ist es, etwa solche Einschätzungen zu lesen:

Was Thomas Mann betrifft, so nehme man einmal eine Seite aus dem Tod in Venedig und lege sie neben eine aus Goethes Wahlverwandtschaften und prüfe, wer schreiben kann. Er hat ja seine Verdienste, aber man lasse sich doch nicht einreden, daß ein Dokument des deutschen Zusammenbruchs wie der Doktor Faustus ein Meisterwerk sei. Er hat auf das Trauma mit einer opportunistischen Geschichtsdeutung reagiert, die dem gebildeten Philister ein Verhängnis mundgerecht vorlegt. [S. 102]

Das ist unfraglich ungerecht, aber eben von einer subjektiven Ungerechtigkeit, die aus einem Überblick heraus gewonnen ist und die Dinge in Relation zu setzen versteht. Solch klärende Subjektivität ist im Gespräch von Leser zu Leser – wohlgemerkt nicht unter Literaturwissenschaftlern, denn die sind einer höheren Objektivität verpflichtet, ohne sie in den meisten Fällen zu erreichen – meist nützlicher als abwägende Versuche, allem gerecht zu werden.

Kernstück ist eine sehr knapp gehaltene Geschichte der europäischen Literaturtradition beginnend beim Gilgamesch-Epos und endend im 20. Jahrhundert. Günthers Empfehlungen sind nicht überraschend und können sicher in ähnlicher Zusammenstellung an zahlreichen Stellen gefunden werden. Auch hier ist es der persönliche Zugriff Günthers, seine eigene Lesegeschichte, die das Buch aus der Masse heraushebt. Hier spricht – ich habe es schon gesagt – ein Leser zu Lesern, ohne Dünkel und auf gleicher Augenhöhe.

Günther behandelt sein breites Thema in kurzen, prägnanten Abschnitten, die es auch erlauben, im Buch zu blättern, kursorisch zu lesen, sich das eine anzueignen und das andere zu ignorieren. Eine kurzweilige und anregende Lektüre für alle leidenschaftlichen Leser und solche, die es erst noch werden wollen.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln: von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Wagenbach Taschenbuch 200. Berlin: Klaus Wagenbach, 1992. 166 Seiten. 8,50 €.

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

braun-litgeschEine etwas andere Literaturgeschichte will Peter Braun mit diesem Buch liefern. Es wendet sich offensichtlich an jugendliche Leser, deren Sympathien Braun im Vorwort dadurch zu gewinnen sucht, dass er feststellt, er selbst erinnere sich an keine einzige seiner Schullektüren, habe dann aber später das Lesen für sich entdeckt usw. usf. Diese Misere sei durch eine falsche Präsentation der Literatur in den Schulen zu verantworten, und seine andere Literaturgeschichte erzähle nun die spannenden Geschichten über die Autoren klassischer Werke, die in Brauns Schulausbildung nie erwähnt wurden.

So weit, so gehöft. Man kann eine solche Theorie natürlich vertreten, und ob sie viel besser oder schlechter als irgendeine andere das Phänomen beschreibt, dass die Schule aus den wenigsten Schülern gute Leser macht, mag dahingestellt bleiben. Merkwürdigerweise fehlen ähnliche Klagen über den Mathematik-Unterricht beinahe vollständig, obwohl sicherlich noch deutlich weniger gute Mathematiker aus diesem Unterricht hervorgehen als gute Leser aus dem Deutsch-Unterricht. Lassen wir das auf sich beruhen.

Brauns Ansatz ist nach diesem Auftakt berauschend unoriginell. Auch er tut nichts als das, was ein guter Deutsch-Unterricht auch tun sollte: Er stellt Autoren und behandelte Werke in den Zeithorizont ein, erzählt, warum diese Bücher für die Zeitgenossen spannend waren und was die behandelten Texte vor anderen ihrer Zeit auszeichnet. Er bedient sich dabei einer lockeren Schreibe, von der ich mir durchaus vorstellen kann, dass Jugendliche damit ganz gut zurecht kommen. Ich schlage das Buch auf und lese:

Heine war aus dem geistig engen, miefigen Deutschland nach Paris gezogen. Von dort aus schrieb er gegen die gesellschaftliche Eiszeit in Deutschland an, das in der politischen Winterstarre verharrte, die Heine zeit seines Lebens nicht ruhen ließ. »Denk ich an Deutschland in der Nacht«, schrieb er in Deutschland. Ein Wintermärchen, »dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Der Titel passte zu diesem bedeutendsten Werk Heinrich Heines. [S. 90]

Nein, das schrieb Heine nicht in Deutschland. Ein Wintermärchen, sondern im Gedicht Nachtgedanken, und selbstverständlich haben diese Zeilen auch gar nichts mit der politischen Opposition Heines gegen das bürgerliche Deutschland zu tun – auch wenn sie immer und immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert werden von all denen, die Heine im Munde führen, aber nicht in den Köpfen haben –, sondern die Nachtgedanken des Gedichtes drehen sich um die Mutter, die in Deutschland lebt und die der Dichter seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land;
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Ob nun tatsächlich Deutschland. Ein Wintermärchen Heines bedeutendstes Werk ist, mag immerhin Geschmackssache sein und soll daher nicht diskutiert werden. Doch beginnen wir mit dem Lesen vorn:

Kriegszeiten sind Notzeiten, und weil Lessing sich durchschlagen musste, wurde er Schreiber eines Generals. Die eintönigen Feldlager aber ließen ihm die Freiheit zu schreiben – und zu spielen. [S. 22]

Das ist ja verständlich: Siebenjähriger Krieg, Lessing Sekretär – nicht Schreiber; das war ein gänzlich anderer Beruf – bei einem General, da wird es wohl ein Leben in Feldlagern gewesen sein. Nun war Bogislaw von Tauentzien zwar preußischer General, aber er war wesentlich auch Stadtkommandant von Breslau, und die Belagerung Breslaus durch Gideon Ernst von Laudon im Sommer 1760 war längst vorüber, als Lessing in Breslau erscheint. Von Feldlager kann also keine Rede sein. Nun könnte man über Lessings Breslauer Zeit die spannende Geschichte von dem Verdacht erzählen, dass Lessing vielleicht in die illegalen Münzgeschäfte des Generals von Tauentzien verwickelt war, aber dazu müsste man sich eben auskennen. Doch vielleicht hat Braun ja wenigstens einige Kenntnise des Werks:

Tellheim will die Verlobung lösen, um Minna nicht ins Unglück zu stürzen. Minna greift zur List: Sie sei enterbt, weil sie zu ihm halte. Der redliche Tellheim borgt sich Geld, löst den Verlobungsring aus, den sie verpfändet hat, will Minna beistehen und heiraten. [S. 24]

Wie belieben? Minna hat einen Verlobungsring verpfändet, den Tellheim dann auslöst? Da hätte ein Blick ins Buch auch nicht geschadet. Lesen wir weiter bei Goethe:

Überall und ständig wurde von nun an geflucht, ob im Alltag oder an den Höfen, und so auch am Weimarer Hof, dessen Herzog gerade erst achtzehn geworden war, als er Goethe zu sich einlud, weil er vom Götz begeistert war.

»In Weimar geht es erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethe wie ein wilder Bursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.« Um den jungen Herzog zu zerstreuen, veranstaltete Goethe Feste, Jagden, lagerte mit ihm im Wald, badete mit ihm in eiskalten Bächen und wurde dafür belohnt.

Das geklitterte Zitat über die Weimarer Zustände stammt aus einem Brief von Johann Heinrich Voß an seine Verlobte Ernestine Boie vom 14. Juli 1776. Voß sitzt zu diesem Zeitpunkt in Wandsbek und unterhält seine Briefpartnerin mit dem neuesten literarischen Klatsch. Er selbst weiß gar nichts über die Lage in Weimar, sondern reproduziert – wie die meisten anderen auch – nur die vom erzürnten Weimarer Adel gestreuten Gerüchte, die Goethe diskreditieren sollen. Verlässlicher ist da ein Wort Wielands über diese frühe Zeit Goethes in Weimar:

[…] Göthe, dessen große Kunst von jeher darin bestand, die Convenienzen mit Füssen zu treten, und doch dabei immer klug um sich zu sehn, wie weit ers gerade überal wagen dürfe. [zu Böttiger, 19. Januar 1797]

»Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.« – Und Goethe ist also Weimarer Minister geworden zum Dank für die Feste und Jagden, die er organisiert hat? Wie schrieb Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in dieser Sache an seinen ersten Minister Jakob Friedrich von Fritsch:

Sie fordern … Ihre Dienstentlassung, weil, sagen Sie, Sie nicht länger in einem Collegio, wovon der Dr. Goethe ein Mitglied ist, sitzen können. Dieser Grund sollte eigentlich nicht hinlänglich sein, Ihnen diesen Entschluß fassen zu machen. Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen. Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen. Nicht alleine ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt. Sie werden selbst einsehen, daß ein Mann wie dieser nicht würde die langweilige und mechanische Arbeit, in einem Landescollegio von unten auf zu dienen, aushalten. Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen … Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setzte, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses verändert gar nichts. Die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich aber und jeder, der seine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm u erlangen, sondern um sich vor Gott und seinen eignen Gewissen rechtfertigen zu können, und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln. [10. Mai 1776; Hervorhebung nicht im Original.]

Und so geht das fort und fort bei Braun: Goethe »entledigt« sich Schillers, indem er ihm eine Professur in Jena verschafft [S. 45] – wo Braun wohl meint, dass Jena liegt? »Mit Schillers Tod war das Jahrzehnt der Weimarer Klassik zu Ende. Der Bund Goethes und Schillers war schon weit früher zerbrochen.« [S. 54]

Feine Damen […] träumten sich fort zu den Inseln der Südsee, weil der ausgesetzte Matrose Alexander Selkirk von seinem einsamen Eiland gerettet worden war und Daniel Defoe sein Schicksal in Robinson Crusoe bekannt gemacht hatte. [S. 74]

Die Südsee-Begeisterung des 18. Jahrhunderts wurde also durch Defoes Roman ausgelöst und nicht durch die märchenhaften Berichte von den Reisen Bougainvilles und Cooks? Und der Vorwurf, Defoe habe im Robinson Crusoe in der Hauptsache aus Selkirks Tagebuch abgeschrieben, wird durch sein ehrwürdiges Alter auch nicht richtiger. Was Wunder, dass da E. T. A. Hoffmanns Märchen einmal mehr »Der goldene Topf« [S. 75] und Kleists Theaterstück »Der zerbrochene Krug« [S. 60] heißen. Ich will es gut sein lassen.

Über den titelgebenden Taugenichts stehen drei nichtssagende Sätze in dem Buch – und so ist auch der Rest! Peter Braun hat wenig Ahnung, wovon er schreibt. Alles ist viertelsgewusst und halbverdaut, und es ist ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit Literatur, dass ein solcher Käse gedruckt und positiv besprochen werden kann.

Von einer Verbreitung dieses Buches ist dringend abzuraten!

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf. Eine etwas andere Literaturgeschichte. Bloomsburry Kinderbücher & Jugendbücher. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Pappband, 224 Seiten. 14,90 €.