Von der Höhe der Alpen (13)

Fernsicht

Tritt ruhmbekrönten Größen nicht zu nah!
Sie sind den Alpen gleich, die vor uns stehn,
Am schönsten, größten, wenn von fern gesehn,
Im blauen Duft, in ihrem fernen Ruhme!
Der Formen Schönheit, die dich fern entzückt,
Löst sich in rauhe Massen, wirr zerstückt,
Wenn forschend du genaht dem Heiligthume;
Der Duftschmelz wird Gestein, das wund dich ritzt,
Und wird Gedörn, das Rock und Ferse schlitzt.
Das Auge des Geweihten nur erspäht
In dunkler Kluft die schöne Alpenblume;
Nur wer der Geister Liebling, den umweht,
Entschleiernd sich, des Berggeists Majestät.

Anastasius Grün

Zum 200. Geburtstag von Friedrich Theodor Vischer

Verhalten des Hunds, wenn ein Fremder lockt. Da sieht man die Charaktere. Der eine folgt und schmeichelt: Kalfakter – schlecht. Der andere fletscht die Zähne, brummt, beißt sogar: Charakter, aber unschön harter Charakter. Ein dritter, und das ist der gute Hund, bleibt sitzen, wedelt ganz schwach und flüchtig und blinzt den Fremden an mit einem Blick, der höchst verständlich sagt: bedaure – könnte vielleicht ein ganz angenehmes Verhältnis werden – habe aber schon einen Herrn – bedaure wirklich. Dies ist der schöne Charakter, Würde mit Anmut; so ist mein Pudel.

Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer

Fred Waitzkin: Searching for Bobby Fischer

Waitzkin_SearchingFred Waitzkin, amerikanischer Journalist, ist Vater des Schachspielers Joshua Waitzkin, der in den 80er Jahren eines der begabtesten Schachtalente in den USA war und 1986 zum ersten Mal die nationale Schulmeisterschaft gewann. »Searching for Bobby Fischer« ist Fred Waitzkins Bericht über die etwa drei Jahre von der Entdeckung von Joshs Begabung bis zum Gewinn der Meisterschaft. Das Buch zeichnet sich nicht nur durch seine gute Lesbarkeit aus, sondern vor allem durch die zahlreichen Perspektiven, die es präsentiert: Nicht nur Joshs Entwicklung wird thematisiert, sondern auch Waitzkins persönliche Ängste und Ambitionen als Vater eines Wunderkindes, die erbärmliche ökonomische Perspektive, der sich ein Profi-Schachspieler für gewöhnlich gegenübersieht, die geringe gesellschaftliche Anerkennung, die Schachspieler genießen, die suchtartigen Zustände, die Spieler dem Schach gegenüber entwickeln und die sie – wie alle Süchte – allem anderen gegenüber gleichgültig werden lassen und vieles andere mehr.

In diese Zeit fällt auch eine Reise von Fred, Josh und Joshs Trainer Bruce Pandolfini nach Moskau zum ersten Weltmeisterschaftskampf zwischen Karpov und Kasparov. Während dieser Reise trifft Fred Waitzkin unter anderem Boris Gulko, der als Geächteter des Sowjetsystems mit seiner Frau und seinem Kind am Rande der Armut vegetiert. Er lernt auch bei zwei kurzen Besuchen in Schachklassen die Ausbildung der sowjetischen Schachschule kennen, die ihre Schüler durch kontinuierlichen und konsequenten Unterricht zu der erstaunlichen Höhe und Breite schachlicher Leistungen befähigt, die bis heute in der Schachwelt nachwirkt. Später macht sich Fred Waitzkin auch tatsächlich auf die Suche nach Bobby Fischer, die der Titel verspricht. Auch ihm gelingt es nicht, Fischer persönlich zu treffen, aber das kurze Portrait dieses wohl zutiefst verstörten Menschen, das er aus Gesprächen mit ehemaligen Freunden und Bekannten Fischers entwickelt, ist prägnant und präzise.

Waitzkins Buch ist auch Grundlage eines gleichnamigen Spielfilms geworden – auch unter dem Titel »Innocent Moves« und in Deutschland als »Das Königsspiel« mit einer grauslichen Synchronisation in die Kinos gekommen –, der aus theatralischen Gründen einiges ändern und straffen musste. Allen, die den Film schätzen, ist auf jeden Fall zu empfehlen, auch das Buch zu lesen, um die Anteile von Fiktion und Realität besser einschätzen zu können.

Fred Waitzkin: Searching for Bobby Fischer. New York: Random House, 1988. Penguin Book, 1989 ff. Broschur, 226 Seiten. Ca. 12,– €.

Von der Höhe der Alpen (12)

Diesmal ein Gastbeitrag von Connie Müller-Gödecke:

Die Vernunfft sieht jezt über das Reich der dunckeln aber warmen Gefühle so hervor wie die Alpen Spitzen über die Wolcken.
Sie sehen die Sonne reiner und freundlicher, aber sie sind kalt und unfruchtbar. Brüstet sich mit ihrer Höhe.

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (L 406)

Miniaturen (1)

Jeden Abend erhielt der alte Mouque den Besuch seines Freundes, des Vaters Bonnemort, der vor dem Abendbrot regelmäßig denselben Spaziergang machte. Die beiden Alten redeten nicht viel, wechselten die halbe Stunde über, die sie beisammen weilten, kaum zehn Worte; aber es freute sie, so beieinander zu sein, der Dinge von einst zu gedenken, die sie gemeinsam wiederkäuten, ohne auch nur das Bedürfnis zu verspüren, davon zu sprechen. Seite an Seite saßen sie beim Réquillart auf einem Balken, ließen von Zeit zu Zeit ein Wort fallen, versanken dann wieder, die Nase zu Boden gesenkt, in ihre Träumereien. Ohne Zweifel fühlten sie sich wieder jung. Rings um sie her hoben die Burschen den Mädchen die Röcke hoch; Flüstern, Lachen, Küsse und warmer Mädchendunst stiegen aus dem zerdrückten, kühlen Gras auf. Schon damals, vor dreiundvierzig Jahren, hatte sich auch Vater Bonnemort sein Weib hier hinter der Grube genommen, eine Schlepperin, die so schwächlich war, daß er sie, um sie bequemer umarmen zu können, auf einen Kohlenkarren legen mußte. Ah, das war nun schon lange her! Und die beiden Alten schüttelten die Köpfe und trennten sich schließlich, manchmal ohne sich auch nur guten Abend zu sagen.

Émile Zola
Germinal

Beinahe der komplette Kraus

Kraus_FackelKarl Kraus ist am 12. Juni 1936 in Wien an den Folgen einer Embolie gestorben; ihm ist dadurch erspart geblieben, die Erfüllung seiner schlimmsten Befürchtungen miterleben zu müssen. Am 1. Januar 2007, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, sind seine Schriften gemeinfrei geworden. Dies wurde dazu genutzt, die beiden großen Sammlungen Krausscher Schriften in elektronischer Form erneut zu publizieren.

Zum Werk von Karl Kraus gibt es im wesentlichen diese beiden Zugänge: Entweder man kann sich durch einzelne Jahrgänge der »Fackel« arbeiten oder man nimmt die Werkausgabe Christian Wagenknechts zu Hand, die das Werk hauptsächlich entlang der von Kraus selbst zusammengestellten und herausgegebenen Bücher erschließt. Beide liegen nun auch in elektronischer Form vor: »Die Fackel« bei Zweitausendeins, die viele Jahre lang auch die gedruckte Ausgabe verlegt haben, als Sonderband der Digitalen Bibliothek, die »Schriften« in der Hauptreihe der Digitalen Bibliothek als Bd. 156.

kraus_schriftenBeide Ausgaben werden wohl kaum die gedruckten Fassungen ersetzen, bei der »Fackel« noch eher als bei den »Schriften«, bei der sich manch einer wohl überlegen wird, ob er die 70 cm Regalbrett nicht doch für etwas anderes verwenden kann. Beide Ausgaben haben aber natürlich vor den gedruckten Ausgaben den Vorteil der Volltextsuche, der bei einem so umfangreichen Werk wie dem Krausschen (»Die Fackel« hat in der elektronischen Ausgabe mehr als 34.550 reine Textseiten, die »Schriften« immerhin auch noch knapp 14.700) gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. So ist die Zitatsuche bei Kraus – per fas et nefas – endlich auf ein solides Fundament gestellt, wenigstens zum großen Teil, denn vor allem die »Schriften« weisen doch Scanfehler auf, die Kraus selbst sicherlich wenig Freude gemacht hätten (der Buchstabe »l« wird etwa an einigen Stellen als »i« wiedergegeben; aus Felix Salten wird also Felix Saiten, was – besonders im Schwäbischen – wieder ein ganz eigenes Geschmäckle mit sich bringt). Aber derlei sind Kleinigkeiten, die sich mit ein wenig Übung durch geschicktes Suchen ausgleichen lassen.

Die elektronische »Fackel« enthält dabei nicht nur den kompletten Text aller 922 Ausgaben, sondern zudem alle Seiten im Faksimile, das durch einen einfachen Rechtsklick in den Text aufgerufen werden kann. Die »Schriften« bringen auch die erschließenden Anhänge Christian Wagenknechts (inklusive aller Abbildungen), die in der Abfolge so etwas wie eine detaillierte Werkgeschichte zu Karl Kraus liefern.

Trotz der ungeheuren Textmenge liegt hiermit aber immer noch nicht der »ganze Kraus« vor. Bei der »Fackel« wurde leider darauf verzichtet, die der gedruckten Ausgabe bei Zweitausendeins mitgegebene Aktausgabe der »Letzten Tage der Menschheit« von 1918/1919 zu reproduzieren, was eine gute Vergleichbarkeit mit der in den »Schriften« gelieferten überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1921 erlaubt hätte. Den »Schriften« wiederum fehlen – wie schon in der Druckfassung – unkommentiert die Frühschriften, hier am wichtigsten sicher »Die demolierte Literatur« und »Eine Krone für Zion«, die auch weiterhin nur in einer hochpreisigen Ausgabe bei Suhrkamp lieferbar sind. Hier hätte es die Kraus-Fachleute, an die sich diese elektronischen Ausgaben ja in der Hauptsache richten, sicherlich begrüßt, wenn man die »Schriften« um die drei Bände der »Frühen Schriften« ergänzt hätte.

Abgesehen von solch eher marginalen Einwänden kann man die elektronischen Ausgaben nur begrüßen. Die von mir immer wieder als vorbildlich empfundene Software der Digitalen Bibliothek rundet den guten Gesamteindruck der beiden Ausgaben ab.

Die Fackel (1899–1936). Digitale Bibliothek Sonderband 34. Frankfurt: Zweitausendeins, 2007. 1 DVD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 128 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; DVD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; DVD-ROM-Laufwerk. 19,95 €.

Karl Kraus: Schriften. Digitale Bibliothek Band 156. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 75,– €.

Von der Höhe der Alpen (10)

If Earth’s whole orb, by some due-distanced eye,
Were seen at once, her towering Alps would sink,
And levell’d Atlas leave an even sphere.
Thus Earth, and all that earthly minds admire,
Is swallow’d in Eternity’s vast round.
To that stupendous view when souls awake,
So large of late, so mountainous to man,
Time’s toys subside; and equal all below.

Edward Young
The Complaint, or Night Thoughts
on Life, Death and Immortality