Ein guter Jahrgang / Ein gutes Jahr

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»Ein guter Jahrgang« von Peter Mayle ist ein seichter, routiniert geschriebener Unterhaltungsroman über den Londoner Börsenmakler Max Skinner, der, gerade als er seinen Job hingeworfen hat, erfährt, dass sein Onkel Henry verstorben ist und ihm ein Weingut in der Provence vermacht hat. Da er sowieso nichts Besseres zu tun hat, fährt er nach St. Pons im Luberon, um sich anzuschauen, ob sich das Gut gewinnbringend verkaufen lässt. Die weitere Handlung ist ebenso beliebig wie unerheblich: Ein wenig Verbrechen, ein bißchen Liebesgeschichte, eine uneheliche Tochter Henrys usw. usf. Ein Buch zum Zeitvertreib, das auch nicht viel länger als einen Sommertag hält.

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Entstanden ist die Idee zu diesem Buch aus einem Gespräch zwischen Ridley Scott und Peter Mayle (beide in der Provence ansässige Engländer, Nachbarn und Freunde) auf der Silversterfeier Mayles im Jahr 2002 über die Erfahrungen, die ein Engländer in Frankreich so machen kann. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Scott nur wenige Monate nach Erscheinen des Romans in der Provence frei nach der Buchvorlage einen Film gedreht hat: »Ein gutes Jahr«. Der Film ist hochkarätig besetzt (Russell Crowe, Albert Finney, Didier Bourdon), ansonsten aber ebenso seicht und routiniert wie das Buch. Das Drehbuch hat erheblich in die Romanvorlage eingegriffen, insbesondere die Frauengestalten sind weit weniger eindimensional und blass als bei Mayle. Ein ganz netter Film, der einmal mehr zeigt, dass Ridley Scotts Filme vom Licht her konzipiert sind und nicht von der Handlung.

Peter Mayle: Ein guter Jahrgang. Aus dem Englischen von Ursula Bischoff. München: Blessing, 2004. Pappband, 288 Seiten. 18,– €.

Ein gutes Jahr. Ridley Scott, USA, 2006. DVD (Region 2), 20th Century Fox. Länge: ca. 113 Minuten. Sprachen: Deutsch und Englisch. Extras: Kommentar (inkl. Making-of) von Regisseur und Drehbuch-Autor. FSK: o. Altersbeschr. Preis: ca. 18,– €.

Miniaturen (2)

Quinten ging mit seiner Blockflöte zum Weiher, in die Umarmung der Rhododendren. Unbenutzt lag das Instrument den ganzen Nachmittag in seinem Schoß; als es dämmerte, blieb er vor seiner Hütte sitzen. Es war ein bedeckter Frühlingstag, es ging kein Wind, und durch das ölig glänzende Wasser zog ab und zu das Spiegelbild eines Vogels.

Harry Mulisch
Die Entdeckung des Himmels

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

mulischAngesichts des bevorstehenden 80. Geburtstags von Harry Mulisch habe ich mich entschlossen, endlich einen seiner Romane zu lesen: »Die Entdeckung des Himmels« hat es immerhin auf Platz 25 der ZDF-Liste der Lieblingsbücher der Deutschen geschafft, noch vor »Die Entdeckung der Langsamkeit« und »Die unerträgliche Seichtigkeit des Leims«. Aber wer weiß schon, ob das ein ausreichendes Qualitätskriterium ist.

»Die Entdeckung des Himmels« spielt auf zwei Ebenen: Zum einen im jüdisch-christlichen und eventuell auch moslemischen Himmel, wo sich zwei offenbar geistige Potenzen über ein geheimnisvolles Projekt unterhalten, »das Retournieren des Testimoniums« [S. 416]. Der überwiegende Teil des Textes handelt aber in ganz irdischen Verhältnissen: Erzählt wird die Geschichte von drei bzw. vier Personen: Onno Quist, Sohn eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Niederlande und während der meisten Zeit Berufspolitiker, Max Delius, Sohn eines ehemaligen Kriegsverbrechers und einer Jüdin, von Beruf Astronom, sowie Ada Brons, Tochter eines Antiquars und Cello-Spielerin. Hinzukommt ihr mutmaßlich durch direktes himmliches Eingreifen zu dritt gezeugter Sohn Quinten (wegen des ⅔-Frequenzverhältnisses der Quinte so benannt), der sich als Erfüller eines himmlischen Auftrags erweisen wird.

Bevor es aber auf den letzten etwa 200 von gut 800 Seiten dazu kommt, müssen erst einmal die Eltern aufeinandergehetzt werden, unter Verwirrungen nach Kuba reisen, um dort das Kind zu zeugen, in einem Unwetter einen Unfall erleiden, bei dem Ada von der mutmaßlichen Mutter zu einer komatösen Gebärerin reduziert wird, Onno Politiker und anschließend Einsiedler, Max von einem Meteoriten erschlagen werden und Quinten umständlichst aufwachsen und sich schließlich auf die Suche nach seinem untergetauchten Vater machen, den er dann auch zufällig in Rom trifft.

Danach dreht der Roman vollständig durch: Quinten identifiziert in Rom die Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufgrund wüster Spekulationen als Lagerort der echten mosaischen Steintafeln mit den zehn Geboten. Quinten und Onno finden und rauben diese Tafeln in einer nächtlichen Aktion und bringen sie nach Jerusalem, wo sich Quinten in einem von innen verschlossenen Zimmer und die Tafel in einem verschlossenen Safe in Nichts auflösen – natürlich kehren sie in die himmlischen Gefilde zurück, von wo aus das Ganze mit englischer List inszeniert wurde.

Sehen wir von dem hanebüchenen Ende des Romans einmal ab und befreien wir ihn damit zugleich von dem himmlischen Drahtzieher, so ist das Buch in Teilen ein ganz angängiger und interessanter Roman. Der Autor hat zwar eine schwere Neigung zum Geschwätz und dazu, seine Klippschulbildung seinen Figuren als raunendes Geheimnis in den Mund zu legen, aber abgesehen davon ist der Text recht ordentlich geraten. Wenn er auf 400 Seiten zusammengekürzt worden und dem Autor ein vernüftiges Ende eingefallen wäre, hätte das ein wirklich gutes Buch sein können. Aber so müssen wir damit leben, dass uns ständig Nachhilfe erteilt wird, dass Quinten – und eben leider auch zugleich dem Leser – die Struktur des Katholizismus erklärt wird: »Die Päpste betrachten sich als Nachfolger Petri.« [S. 700] Achwas? – Wir bekommen Unterricht in amerikanischer Literaturgeschichte:

»Warum hast du ihn [den Raben] Edgar genannt?«

»Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedichte über einen Raben geschrieben. The Raven.« [S. 696]

What you not say! – Und auch die Musikgeschichte kommt zu ihrem Recht:

Max war noch geblieben. Seine Kenntnisse über Beethovens Große Fuge in B-Dur, Opus 133, von einem bulgarischen Quartett aufgeführt, hatten auf eine kubanische Medizinstudentin großen Eindruck gemacht, eine große Frau mit langen, schlanken Fingern, die sie hoch auf seinen Oberschenkel legte, als er ihr erzählte, daß das Stück aus dem Schlußteil von Opus 130 entstanden sei. [S. 195 f.]

Mit solch intimen Kenntnissen der Streichquartett-Literatur ist natürlich das Verführen großer Frauen – gemeint sind »lange«, nicht »große« – eine Kleinigkeit. Tja, man müsste Klavierspielen können! Von der dreimaligen Wiederholung des Wortes »groß« in diesem einen Absatz wollen wir dabei einmal gnädig absehen, denn wir kennen das Original nicht.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, das Buch sei durchweg so provinziell, aber es ist es eben über weite Strecken. Einigen Passagen liegt eine sorgfältige und umfassende Recherche des Autors zugrunde, aber eine viel zu große Menge des Textes erschöpft sich in hohlem Geschwätz besonders der beiden Hauptfiguren Max und Onno. Dem stehen auf der anderen Seite eine durchaus einfühlende und originelle Beschreibung etwa der späten 60er-Jahre oder die beinahe durchweg interessanten Nebenfiguren wie etwa Theo Kern oder Verloren van Themaat gegenüber. Wenn nur der Autor nicht so geschwätzig wäre … Aber das erwähnte ich wohl schon?

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt. Rowohlt Taschenbuch 13476. 871 Seiten. 9,90 €.

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P. S.: Nur um keine Unklarheit aufkommen zu lassen: Spekulationen über die Moral des Romans, also die Bedeutung der Tatsache, dass der Himmel den mosaischen Dekalog wieder zurücknimmt, sind hier absichtlich unterblieben. Dem mögen sich Berufenere widmen!

Von der Höhe der Alpen (14)

Mancher mag es ja schön finden; aber ich konnte die widerliche Majestät der Alpenlinie nur mit Achselzucken betrachten : zu viel Stiftern ! Auch die feinen Funken, die ab und zu in den blaugrünen Wänden aufleuchteten, versöhnten mich nicht : gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten (hier steckt man ja wie in einer Tüte !); Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erica; und an der Seite muß der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, daß man in Norddeutschland ist.

Arno Schmidt
Verschobene Kontinente

Zum 80. Geburtstag von Paul Wühr

Was ich über dieses falsche Buch sagen könne, fragte mich mein Inspektor, oben, auf der Terrasse, Ecke Marschallstraße, er gebe sich einmal dazu her, mein Diktat aufzunehmen in seinen Text.
Ob ich etwas über das Falsche sagen sollte, wollte ich wissen und gab zu bedenken: Aus einer falschen Welt heraus als Autor eines falschen Buches sich auf eine Interpretation des Falschen einzulassen, würde bedeuten: hier zusammenfassen zu müssen, wie in diesem falschen Buch aus allen Gegensätzen und vor allem dem des Richtigen und des Falschen herauszugelangen sei, was allenfalls richtig herauskommen könnte, damit aber gar nichts bedeuten würde.
Bedeuten sollte es also etwas? wurde ich gefragt.
Es sollte nichts bedeuten.
Er lachte.
Er solle ruhig lachen, über mein Bemühen um das Unmögliche, meinte ich. Ich rede, sagte ich und deshalb: um aus der Rede herauszugelangen.

Paul Wühr
Das falsche Buch

In eigener Sache

Seit März dieses Jahres schreibe ich in Kooperation mit der Solinger Stadtbibliothek eine wöchentliche Kolumne für die Solinger Morgenpost. Da zum einen die Länge dieser Kolumne begrenzt ist, zum anderen die Zielgruppe eine andere ist, zum dritten auch Überschneidungen mit diesem Blog vorkommen, habe ich diese Texte im Normalfall hier nicht eingestellt (eine Ausnahme ist etwa der Beitrag über Candida Höfers Bildband »Bibliotheken« gewesen, der in beiden Medien nahezu gleich besprochen wurde).

Nun habe ich mich aber entschlossen, ein kleines Archiv der Kolumne anzulegen, da sich die älteren Beiträge sonst doch rasch verlieren. Ich habe dafür auf der Subdomain kolumne.fraenzel.de ein eigenes Blog eröffnet. Auch in Zukunft werden inhaltliche Überschneidungen der beiden Blogs vorkommen; doppelte Einträge – wie im Fall Höfer – werden aber vermieden werden. Vielleicht mag ja die eine oder der andere auch dieses Blog abonnieren. Weitere Reklame in dieser Sache wird nicht gemacht.

Allen Lesern ins Stammbuch (8)

Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu tun noch zu denken haben.

Christoph Martin Wieland

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

taylor_adressatDas schmale Bändchen enthält 19 fiktive Briefe eines Briefwechsels zwischen dem amerikanischen Kunsthändler Max Eisenstein und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und ehemaligen Geschäftspartner Martin Schulse. Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben vom 12. November 1932 und endet mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934. Die Erzählung ist 1938 zum ersten Mal erschienen und war sofort ein Verkaufserfolg, der sich bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 1995 wiederholt hat. Auch die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2000 wurde ein Bestseller.

Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde, die in San Francisco gemeinsam eine Kunsthandlung betrieben haben. Martin Schulse entschließt sich 1932 nach Deutschland zurückzukehren, besonders um seine Kinder wieder auf eine deutsche Schule schicken zu können. Er wird innerhalb kurzer Zeit von einem Mitläufer der politisch erfolgreichen Nationalsozialisten zu einem bekennenden Anhänger der »Bewegung« und macht Karriere als Bankbeamter. Ganz konsequent bricht er den Kontakt zu seinem jüdischen Freund und Geschäftspartner in Amerika ab und kündigt ihm die Freundschaft auf.

Verwickelt wird die Geschichte dadurch, dass Max Eisensteins Schwester Giselle als Schauspielerin von Österreich nach Deutschland kommt und in Berlin rassistischen Repressionen ausgesetzt wird. Sie flieht aus Berlin nach München, wird offenbar auch dort erkannt und flüchtet sich vor einem Trupp SA-Männer zur Villa ihres ehemaligen Geliebten Martin Schulse. Der lässt sie aus Sorge um seine Reputation und Stellung nicht ins Haus, sondern rät ihr, durch den Garten zu fliehen, wo sie dann von der SA gestellt und ermordet wird. Der Brief, in dem er diese Tatsache seinem ehemaligen Freund mitteilt, beginnt mit den Worten:

Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Nach diesem Brief beginnt Max Eisenstein mit einem Telegramm und Briefen, die er an Martin Schulses Privatadresse richtet und von denen er weiß, dass sie von der nationalsozialistischen Zensur gelesen werden, den deutschen Behörden eine Verwicklung Martin Schulses in eine illegale, gegen den Staat gerichtet Verschwörung zu suggerieren. Er erfindet eine »Gesellschaft Junger Deutscher Maler«, mit der Schulse vorgeblich in Zusammenhang steht und die offensichtlich Waffenlieferungen aus den USA erhält. Außerdem suggeriert er eine in Amerika lebende jüdische Verwandschaft Schulses. Schulse wird – wie wir aus einem letzten, verzweifelten Schreiben an Max Eisenstein erfahren – daraufhin von den Behörden vorgeladen und aufgefordert, den Code für die Briefe zu liefern, was er natürlich nicht kann, da er nie zuvor von einer »Gesellschaft Junger Deutscher Maler« gehört hat und auch sonst nichts zu den erfundenen Vorgängen sagen kann. Max Eisenstein Racheplan funktioniert: Seinen letzten Brief an Martin Schulse vom 3. März 1934 erhält er mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934 zurück. Wie bereits zuvor im Fall von Max’ Schwester Giselle soll dieser Stempel besagen, dass Martin Schulse von den Nationalsozialisten ermordet wurde oder zumindest in einem KZ gelandet ist.

Die Erzählung ist fraglos »gut gemacht«. Sie ist dicht gearbeitet und die dramatische Entwicklung konsequent und ökonomisch vorangetrieben. Große Schwierigkeiten habe ich allerdings mit ihrer Moral: Sicherlich ist es einerseits so, dass die Perversität und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Machtstaates sich gerade darin zeigt, dass es einem Außenstehenden mit wenigen Briefen gelingt, einen treuen und begeisterten Nationalsozialisten zu verleumden und der Vernichtungsmachinerie des von ihm verherrlichten Systems auszuliefern. Andererseits handelt es sich bei den Briefen Max Eisensteins um eine Intrige zum Zweck einer privaten Rache, die ihn moralisch beinahe ununterscheidbar werden lässt von dem, den er dem Untergang ausliefert.

Immanuel Kant gibt uns in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« unter anderen folgende einprägsame Formulierung des kategorischen Imperativs:

Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. [BA 66 f.]

Gemessen an diesem Leitsatz handelt Max Eisenstein ebenso verwerflich wie zuvor sein Pendant Martin Schulse, und ich bin durchaus nicht sicher, ob dies von der Autorin auch so intendiert wurde. Auch spielt – soweit ich sehe – dieser Aspekt in den deutschen Besprechungen des Buches keine Rolle.

Immerhin lässt Kant der zitierten Passage den bedenkenswerten Satz folgen: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« Im vorliegenden Fall war dem wohl nicht so. – Ein Buch, dessen verstörende Ambivalenz wahrscheinlich nicht von allzu vielen Lesern wahrgenommen wird.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2000. Pappband, 69 Seiten. 10,– €.

Émile Zola: Germinal

germinalNachdem ich bislang von Zola nur »Nana« kannte, war ich schon von den ersten Seiten dieses umfangreichen Romans zugleich überrascht und fasziniert. Hatte »Nana« in weiten Teilen den Eindruck auf mich gemacht, hier versuche einer wie Flaubert zu schreiben, reiche aber nicht ganz an das Vorbild heran, besticht »Germinal« von Anfang an mit einem sehr eigenen, präzisen Blick auf soziale und technischen Voraussetzungen des Erzählten. Zolas Schilderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem nordfranzösischen Kohlerevier in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entspringt offensichtlich einer genauen Kenntniss und sorgfältigen Beobachtung vor Ort. Ich hatte eine solche Exaktheit der Beschreibungen und der evozierten Bilder nicht erwartet.

Erzählt wird die Geschichte Etienne Lantiers und der Familie Maheu. Über die Figur Etiennes stellt Zola die recht lockere Verbindung dieses Romans mit dem Zyklus der Rougon-Macquart her: Etienne ist Sohn von Gervaise Macquart und Auguste Lantier und erbt – nach Zolas Vererbungstheorie sozialer Charaktere – die durch den Alkoholismus seiner Eltern verursachte Neigung zur Gewalttätigkeit, die besonders in der zweiten Hälfte des Buches eine Rolle spielt. Etienne ist gelernter Maschinist, und ihn verschlägt es auf der Suche nach Arbeit in eine Bergwerksgegend, wo er durch einen Zufall im Bergwerk Le Voreux angeheuert wird. Er kommt zur Gruppe, in der auch Vater Maheu mit seiner Tochter Catherine arbeiten. Catherine und Etienne sind sich von Anfang an sympathisch und ihre nicht ausgelebte Beziehung ist einer der wesentlichen Spannungsbögen des Romans.

Die Familie Maheu, die in weiten Teilen des Buches im Zentrum des Interesses steht, besteht aus den beiden Eltern, sieben Kindern – von denen die Ältesten natürlich auch im Bergwerk arbeiten – und dem Großvater. Die Familie lebt am Rande des Existenzminimums, geplagt von Geldsorgen, gedrückt von Schulden, mit ihrer kärglichen Versorgung kaum dem Hunger trotzend. Zola benutzt das erste Drittel des Romans zu einer sorgfältigen und detaillierten Schilderungen der sozialen Verhältnisse im »Dorf der 240«, das schon über diesen Namen als reine Funktionssiedlung gekennzeichnet ist, von der Bergwerksgesellschaft aus dem Boden gestampft, um die für ihr Geschäft notwendigen Arbeiter irgendwo unterbringen zu können. Er erspart seinen wohl zumeist gutbürgerlichen Leserinnen weder eine ausführliche Beschreibung des alltäglichen Elends noch die Vorführung des Gegensatzes zu den Haushalten der Bergwerksbesitzer und -verwalter, weder die gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen noch die soziale und sittliche Verrohung der Arbeiter, die er klar als Folge der herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit herausstellt. Einige seiner Beschreibung düften noch heute für »empfindsame Seelen« an die Grenze des Zumutbaren gehen; wieviel heftiger müssen sie auf Leserinnen gewirkt haben, die die bigotte Doppelmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts verinnerlicht hatten.

Der Hauptstrang der Fabel erzählt von einem Streik der Arbeiter des Bergwerks Le Voreux. Anlass des Streiks ist die Einführung eines neuen Lohnabrechnungssystems, mit dem die Gesellschaft des Bergwerks eine nochmalige Reduktion der Entlohnung durchsetzen will. Etienne, der schon zuvor Kontakt zu Sozialisten hatte, wird rasch zu einem Wortführer für den Streik. Zwar verfügen die Arbeiter über eine kleine Streikkasse, die aber nur für wenige Tage die Versorgung sicheren kann. Danach verschärft die Arbeitsniederlegung das sowieso schon vorhandene Elend kontinuierlich weiter. Obwohl auch die Bergwerksgesellschaft wirtschaftlich durch den Streik heftige Einbußen zu verzeichnen hat, weigert sie sich prinzipiell, den offenbar gerechten Forderungen der Arbeiter nachzugeben.

Nach Wochen spitzt sich die Lage soweit zu, dass die streikenden Arbeiter auch die Kollegen der benachbarten Bergwerke zwingen wollen, in den Streik einzutreten. Dabei verursachen sie in diversen Minen umfangreiche Zerstörungen, die die Minenbesitzer veranlassen, ihren Besitz durch das Militär schützen zu lassen. Nach einer weiteren Phase der Ruhe kommt es zu der unvermeidlichen Konfrontation zwischen den immer verzweifelteren Arbeitern und den Soldaten, an deren Ende zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen sind. Zwar sind nach dieser katastrophalen Wendung beide Seiten nur allzu bereit, den Streik zu beenden, und für den Augenblick sieht es danach aus, als hätte die Bergwerksgesellschaft sich einmal mehr durchsetzen können. Aber Zola ist damit noch nicht am Ende seiner Erzählung angekommen, die noch eine weitere dramatische Wendung nehmen muss …

Ohne Frage handelt es sich bei »Germinal« um eines der Meisterwerke der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Zola erobert dem Roman hier quasi im Handstreich ein gänzlich neues Gebiet und führt zugleich mustergültig dessen Behandlung vor: Arbeits- und Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiter, die drängenden sozialen Fragen, die sich aus deren Lebensbedingungen ergeben, die Macht des Kapitals und die Ohnmacht der Armut, die zugrunde liegende Menschenverachtung, die leichthin und wie nebenbei von den Besitzenden geduldet wird, und deren Folgen für sie gänzlich überraschend und unverständlich sind. Wie nebenbei wird die Rolle der sozialistischen Berufsagitatoren beleuchtet, ebenso die der christlichen Moral und Kirche in diesem Spiel der sozialen Kräfte.

Mir bleibt nur, den Rat Lichtenbergs einmal mehr zu zitieren: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Émile Zola: Germinal. Unter der Verwendung der Übersetzung von Armin Schwarz mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Koeppen. Reclam UB 4928. 622 Seiten. 10,80 €.

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P. S.: Siehe auch Miniaturen (1) in diesem Blog.

Von der Höhe der Alpen (13)

Fernsicht

Tritt ruhmbekrönten Größen nicht zu nah!
Sie sind den Alpen gleich, die vor uns stehn,
Am schönsten, größten, wenn von fern gesehn,
Im blauen Duft, in ihrem fernen Ruhme!
Der Formen Schönheit, die dich fern entzückt,
Löst sich in rauhe Massen, wirr zerstückt,
Wenn forschend du genaht dem Heiligthume;
Der Duftschmelz wird Gestein, das wund dich ritzt,
Und wird Gedörn, das Rock und Ferse schlitzt.
Das Auge des Geweihten nur erspäht
In dunkler Kluft die schöne Alpenblume;
Nur wer der Geister Liebling, den umweht,
Entschleiernd sich, des Berggeists Majestät.

Anastasius Grün