Dunkel war’s, der Mond schien helle …

In seiner soeben erschienenen Biographie Josephs von Eichendorff zitiert Hartwig Schultz gleich zu Anfang den offensichtlich an der Goetheschen Selbstdarstellung in »Dichtung und Wahrheit« ironisch entlang geschriebenen Bericht Eichendorffs von den äußeren Umständen seiner Geburt:

Es war eine tiefe, stille, klare Winternacht des Jahres 1788, die Konstellation war überaus günstig, Jupiter und Venus blinkten freundlich auf die weißen Dächer, der Mond stand im Zeichen der Jungfrau und mußte Schlag Mitternacht kulminieren.

Schultz merkt dazu an:

Alle Umstände der Geburt sind in den autobiographischen Entwürfen, die unter dem Titel Unstern überliefert sind, so präzise beschrieben, daß der Leser annehmen muß, der Autor habe sich genau erkundigt. Eichendorff gibt nicht nur die Wetterbedingungen zum Zeitpunkt seiner Geburt an, sondern scheint auch den Stand der Gestirne ergründet zu haben – ganz so genau hat er es aber doch nicht genommen, da die Venus um Mitternacht natürlich längst untergegangen ist. [S. 7]

Liest man Eichendorffs Text genau, so bemerkt man, dass dort gar nicht steht, Venus sei um Mitternacht noch am Himmel sichtbar gewesen, sondern nur, dass der Mond um Mitternacht habe kulminieren müssen. Nun hat Schultz aber dennoch recht, er weiß es bloß nicht, da er – wie unter Germanisten üblich – lieber halbgebildet daherfaselt, als sich auch nur für fünf Minuten mit einer fachfremden Sache ernsthaft zu befassen. Ansonsten hätte er nämlich herausfinden können, dass am 8. März 1788 Neumond gewesen ist und der noch nicht zwei Tage alte Mond am 9. März schon vor 8 Uhr abends, etwa eine Stunde vor der Venus, untergegangen war. Von einer Kulmination um Mitternacht konnte also gar keine Rede sein. – Ja, wenn man’s nur ein bißchen tiefer wüßte.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

Sigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

In diesen Rahmen passt Sigrid Damm zahlreiche Reflexion zu diversen anderen Themen und Zeiten in Goethes Leben ein: Seine Bemühungen um den Ilmenauer Bergbau, seine letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow, das Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh, der Tod seines Sohnes August in Rom, Goethes Glaube an das Fortbestehen des Geistes nach dem Tode, Gestaltung und Inhalt des zweiten Teils des Faust und Vulkanismus contra Neptunismus dürften die wichtigsten sein. Alles wird locker aneinander gereiht und ist mit dem Hauptthema des Buches – als das sich schließlich Goethes Tod, seine „letzte Reise“, erweisen wird – mehr oder weniger eng und sinnfällig verknüpft.

Das meiste gerät dabei zur Nacherzählung der gerade für den Text benutzten Quellen, wobei sich die Redundanzen im Vergleich zu Christiane und Goethe in Grenzen halten, aber auch nicht vermieden werden. Anderes wird einfach daherzitiert und erweckt weniger den Eindruck einer Erzählung als den eines ausgekippten Zettelkastens, so etwa die Geschichte Friedrich Augusts von Fritschs (S. 246 f.).

Die lockere Struktur mag jenen entgegenkommen, die ein eher empathisches als reflektives Verhältnis zu Goethes Werk und Leben pflegen. Nicht umsonst fallen Fragen wie „Stellt nicht diese Dichtung die höhere Wahrheit dar?“ (S. 200), selbstverständlich ohne eine Antwort zu erfahren; die hinweisende Geste verbindet all jene, die gleichen Geistes sind. An anderen Stellen spricht Damm davon, wie „berührt“ oder „angerührt“ sie ist, ohne dass der Text auch nur einen einzigen Schritt über die Emotion hinausgelangt. An einer Stelle bleibt Damms Lektüre der Quelle gar so oberflächlich, dass eine echte Pointe resultiert. Sie zitiert einen Brief Goethes an Amalie von Levetzow, die Mutter Ulrikes:

Dabey, hoff ich, wird sie nicht abläugnen, daß es eine hübsche Sache sey, geliebt zu werden, wenn auch der Freund manchmal unbequem fallen möchte.

Und nun folgen im typischen Damm-Stil einige Fragen, die die Interpretation nicht leiten, sondern ersetzen:

Und der Schluß des Satzes, worauf deutet er? Wohl nicht auf den Troubadour, der vor den Augen der Angebeteten auf den Knien liegt, sondern auf den alten Mann, der ausrutscht und sich nicht wieder aufzurichten vermag? (S. 207)

Damm liest die Wendung „unbequem fallen“ tatsächlich im Sinne von „stürzen“, nicht als „lästig fallen“, wie sie offensichtlich gemeint ist.

An wieder anderer Stelle wird vergessen, was nur wenige Seiten zuvor berichtet worden ist, so wenn auf S. 285 ein Brief des Enkels Wolfgang zitiert wird, der die geplante Rückreise nach Weimar über Schwarzburg und Rudolstadt ankündigt, und Enttäuschung der Enkel darüber vermutet wird, dass man nun doch den gleichen Weg zurück nehmen wird, den man gekommen ist. Auf Seite 317 wird dann spekuliert, dass man diesmal in Stadtilm ein „dem hohen Gast angemessenes Mittagsmahl“ vorgesetzt haben könnte:

Bei der Herfahrt hat man die Bestellung aufgegeben. Da die Gasthofrechnung nicht überliefert ist und auch Krauses Tagebuch keine Auskunft gibt, können wir es nur vermuten.

Ja, vermuten kann man vieles. Warum man allerdings ein Mittagsmahl bestellen soll, wenn man weder den Rückreisetag kennt noch plant, überhaupt auf der Rückfahrt wieder vorbeizukommen, können wir nicht einmal vermuten – nur Sigrid Damm könnte.

Insgesamt nur ein weiteres oberflächliches, unordentlich erzähltes Buch von Sigrid Damm. Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Für diejenigen, die sich als Goethe-Freunde empfinden und jene, die von Goethe wenig wissen und sich einen ersten, flüchtigen Eindruck verschaffen wollen, sicherlich kein schlechtes Lesebuch. Für den ernsthaft an Goethe und seiner Zeit Interessierten gänzlich unerheblich.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise. Frankfurt/M: Insel Verlag, 2007. Pappband, 364 Seiten. 19,80 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler

duerrenmatt_schachspieler Eine Veröffentlichung aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts ist dieser Entwurf zu einer Kriminal-Erzählung (kein Fragment, wie das Titelblatt suggeriert), der nur wenige Seiten umfasst. Erzählt wird die Geschichte zweier Juristen, eines alten Richters und eines jungen Staatsanwalts, die sich auf der Beerdigung des Vorgängers des Staatsanwaltes kennenlernen. Der Richter kommt mit dem Staatsanwalt ins Gespräch und erwähnt, dass er mit dem Verstorbenen befreundet war und sich mit ihm regelmäßig zum Schachspiel getroffen habe. Auch der junge Kollege spielt Schach und man verabredet sich für den kommenden Sonntag zum Spiel. An diesem Tag ziehen sich nach einem Essen, bei dem auch die Tochter des Richters und die Gattin des Staatsanwaltes anwesend sind, die beiden Herren ins Arbeitszimmer zurück, wo der Richter dem Jüngeren ein mörderisches Geheimnis anvertraut, das hinter dem gemeinsamen Schachspiel steckt … Seltsamerweise sind es bei Dürrenmatt oft Juristen, die dem Wahn verfallen müssen, gottgleich in das Schicksal der Menschen eingreifen zu dürfen.

Ergänzt wird der Entwurf durch einen kurzen Auszug aus einer Rede über Einstein aus dem Jahr 1979, in der Dürrenmatt zur Veranschaulichung einer Differenz zwischen einem »deterministischen« und einem »kausalen« Weltbild die Welt mit einer Schachpartie vergleicht. Die Nähe zum Szenario der Erzählung ist offensichtlich.

Attraktiv wird der Band durch die handwerkliche aufwendige Herstellung und die opulente Ausstattung mit Graphiken des Züricher Graphikers Hannes Binder, die den eigentlichen Gehalt des Bandes ausmachen, da der Entwurf der Erzählung allein, der an sich bloß Ideenskizze bleibt, kaum ein Büchlein füllen würde. Die Illustrationen sind konsequent schwarz-weiß gehalten und spiegeln im Format die Quadrate eines Schachbretts wider. Ästhetisch ist das Bändchen sehr gelungen, inhaltlich ist es etwas schmal geraten. Neben der hier vorgestellten Normalausgabe existieren zwei hochpreisigere Vorzugsausgaben, die nur direkt vom Verlag zu beziehen sind.

Ein Buch für Dürrenmatt- und/oder Schachfreunde.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler. Großhansdorf: Officina Ludi, 2007. Bedrucktes und geprägtes Leinen, Fadenheftung, 28 Seiten (24,5 × 24,5 cm). 27,80 €.

Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer

Ich-Erzählung eines indischen Halbjuden, der in den spanischen Alpujarras in Gefangenschaft sitzt und genötigt wird, die Geschichte aufzuschreiben. In der ersten Hälfte ist das Buch eine Variation auf den Familienroman, vielleicht eine direkte Reaktion auf Vikram Seths Eine gute Partie, vielleicht auch auf ein anderes Werk der anglo-indischen Literatur. Nach der Geburt des Erzählers verliert das Buch rasch an Form und nähert sich für eine Weile der Tradition des picarischen Romans an, wird dann zu einer Variation des Mafia-Romans, um schließlich ins Traum- und Alptraumhafte abzuschweifen. Ganz zum Schluss soll die Mär von der Gefangenschaft des Erzählers, der nach einem alten literarischen Muster durchs Erzählen sein Leben erhält, die allgemeine Formlosigkeit und Beliebigkeit des Romans rechtfertigen.

Das Buch ist reich an motivischen Einfällen und lebt von der Reichhaltigkeit seines Personals. Einzelne Motive sind überzeugend durchgeführt, so die Familienlegende von der Abkunft des Erzählers einerseits von Vasco da Gama und andererseits von Muhammad XII., dem letzten arabischen Herrscher Granadas. Andere Motive erscheinen eher willkürlich, was aber auch daran liegen kann, dass ich die entsprechenden literarischen Quellen Rushdies nicht kenne. Für einen in der anglo-indischen Literatur eher nur mäßig Bewanderten ist vieles nicht exakt einzuordnen. Insgesamt war die zweite Hälfte des Romans eine ermüdende Lektüre für mich. Auch sekundär erarbeitete Zusammenhänge mit der Nachkriegsgeschichte Indiens und speziell Bombays machten das Buch für mich nicht spannender, weil mir die entsprechenden historischen Vorgänge nicht vertraut genug wurden. Aber da gehöre ich wohl einfach nicht in die Zielgruppe des Autors.

Der durchgängig phantastische Ton des Romans, der besonders auch gegen Ende recht volle Töne erzeugt, trägt das Buch nicht wirklich – dafür ist es einfach zu lang geraten. Natürlich begründet sich die Länge des Buches aus der oben schon angeführten existentiellen Situation des Erzählers, der um sein Leben schreibt. Interessant wäre es vielleicht, diese Struktur auf das Leben des Autors zurückzuprojizieren: Rushdie befand sich in einem gewissen Sinne in der Zeit der Bedrohung durch die Fatwa in einer ähnlichen Lage wie der, in der sein Protagonist um sein Leben schreibt. Hier ist biographisch sicherlich noch einiges zu heben.

Ein eher anstrengendes Buch, das in einigen Passagen zur »Pflichtlektüre« geriet.

Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer. Aus dem Englischen von Gisela Stege. rororo 24121. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006. 619 Seiten. 9,90 €.

Ian McEwan: Saturday

mcewan-saturday Der Roman eines Tages, des 15. Februar 2003 in London, eines Samstags, wie der Titel schon verrät. Für den Protagonisten, den erfolgreichen und renommierten Neurochirurgen Henry Perowne, beginnt der Tag merkwürdig genug: Er wacht viel zu früh auf und beobachtet, am Fenster stehend, ein brennendes Flugzeug, das zur Landung in Heathrow ansetzt. Es wird sich erweisen, dass dies am Ende so harmlos ist, wie der ganze Roman.

Henry Perowne ist 48 Jahre alt, mit einer Anwältin verheiratet, hat zwei wundervolle, hochbegabte Kinder und kommt selbst mit seinem berühmten Schwiegervater, einem Dichter, irgendwie zurecht. Henry ist Rationalist, Squash-Spieler, Mercedes-Fahrer, Bach-Liebhaber, Hobby-Koch und auch sonst ein blitzgescheiter Kerl.

Leider passiert ihm auf dem Weg zum Squash ein kleines Malheur: Durch eine Zusammenrottung unglücklicher Umstände hat er in seinem Mercedes 500 einem leichten Zusammenstoß mit einem roten BMW. Damit ist die Konflikthöhe einer klassisch griechischen Tragödie erreicht: Dem BMW entsteigt ein neurologisch erkrankter Kleinkrimineller – im Folgenden Baxter genannt – mit zwei Schlägern. Doch das diagnostische Genie Perownes hilft ihm aus der Patsche: Sofort erkennt er das Krankheitsbild Baxters, der daraufhin verwirrt und gedemütigt das Weite sucht. Nach einem knapp verlorenen Squash-Spiel gegen seinen Chef-Anästhesisten kauft Perowne Fisch ein, besucht seine demente Mutter im Pflegeheim, wohnt einer Probe seines Gitarre spielenden Sohnes bei und fährt dann heim, um zu kochen.

Dort trifft zuerst seine in Paris studierende Tochter ein, die unmittelbar vor der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes steht, anschließend der ebenfalls dichtende Schwiegervater, dann der Sohn. Schließlich treffen auch Henrys Frau und mit ihr zusammen der lang erwartete Baxter ein, der sich zuerst bedrohlich gibt, dann aber von einem Gedicht verzaubert und anschließend von Vater und Sohn gemeinsam die Treppe heruntergeworfen wird.

Es kommt, wie es kommen muss: Baxter wird in das Krankenhaus eingeliefert, in dem Perowne arbeitet; der wird vom Squash spielenden Anästhesisten angerufen und fährt ins Krankenhaus, um dort gänzlich leidenschaftslos die Operation Baxters durchzuführen. Alles wird gut! Nach alles in allem etwa 24 Stunden kehrt Perowne in sein Haus zurück, tröstet noch kurz seine Frau, sieht noch ein Flugzeug, das diesmal aber nicht brennt, und schläft mit dem Gedanken ein, dass dieser Tag vorbei ist.

Das Buch ist in seinem Gehalt so albern, wie hier dargestellt. Daran ändert auch nichts, dass die Londoner Großdemonstration gegen den Krieg im Irak den Hintergrund bildet oder sich Perowne Sorgen um die Sicherheitslage der Welt und seiner Familie macht. Der Roman brilliert dagegen auf zwei Ebenen: Zum einen beherrscht McEwan sein Handwerk, wenn es ihm problemlos gelingt, die Lebensgeschichte seines Protagonisten glatt und bruchlos in den Ablauf eines einzigen Tages einfließen zu lassen. Hier steht natürlich der Joycesche Ulysses im Hintergrund und McEwans trivialisierte Fassung beweist einmal mehr sein schriftstellerisches Geschick. Zum anderen sind die Details einzelner Szenen mit beeindruckender Präzision geschildert, was man insbesondere daran merkt, dass diese Sequenzen auch einen Leser fesseln, der sich mit diesen Dingen nicht auskennt oder sich nicht für sie interessiert. Perownes Diagnosen langweilen nicht, auch wenn man nicht in der Lage ist, jeden Terminus technicus zu verstehen und einzuordnen. Und ich hätte niemals geglaubt, mit Interesse der Beschreibung eines Squash-Spiels folgen zu können, aber hier hat mich die entsprechende Passage nicht gestört.

Dass der Autor allerdings die Chuzpe hat, indirekt zu behaupten, er unternehme in diesem Buch nichts anderes als das, was Flaubert und Tolstoi auch gemacht hätten, macht die Sache nicht wirklich besser:

Unter Daisys Anleitung hatte Henry immerhin Anna Karenina und Madame Bovary gelesen, zwei anerkannte Meisterwerke. Obwohl er seine Denkvorgänge verlangsamen und viele Stunden kostbarer Zeit aufwenden mußte, hatte er sich den wechselnden Komplikationen dieser anspruchsvollen Märchen anvertraut. Doch welche Einsichten hielten sie letztlich bereit? Daß Ehebruch zwar verständlich, aber falsch ist, daß es Frauen im neunzehnten Jahrhundert nicht besonders leicht gehabt haben und daß Moskau, die russische Landschaft und die französische Provinz so und nicht anders ausgesehen hatten? Falls, wie Daisy behauptete, das Genie im Detail lag, dann war er keineswegs beeindruckt. Die Details waren angemessen und überzeugend beschrieben, doch jeder auch nur halbwegs aufmerksame Beobachter sollte sie geordnet wiedergeben können und dürfte, wenn er die nötige Geduld besaß, es wohl kaum besonders schwierig finden, derlei niederzuschreiben. Diese Bücher waren das Ergebnis eines unerbittlichen, fachkundigen Sammeleifers.

Immerhin erlaubt er wenig später einer seiner Figuren, leise Zweifel am Lektüreansatz seines Protagonisten anzumelden.

All dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Henry Perowne ein alberner Supermann von einem Protagonisten und die Fabel von dummer Berechenbarkeit ist und der Autor mit keinem seiner angerissenen Konflikte auch nur für einen einzigen Augenblick Ernst macht. Selbst wenn man unterstellen wollte, McEwan habe einen Roman schreiben wollen, wie ihn etwa sein Protagonist gerade noch zu schreiben in der Lage wäre, überzeugt die einfältige und zu durchschaubare Konstruktion nicht. Eine Schauerkomödie der Besserverdienenden, Schönen und Erfolgreichen.

Ian McEwan: Saturday. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. detebe 23627. Zürich: Diogenes, 2007. 390 Seiten. 10,90 €.

Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit

biedermeier Katalog zu einer Ausstellung, die in Milwaukee, Wien und Berlin zu sehen war und derzeit noch in Paris in kleinerem Umfang zu sehen ist. Der Katalog zerfällt in die weithin üblichen beiden Teile: Im ersten Teil finden sich Essays, die sich dem Ausstellungsthema historisch oder theoretisch widmen, der zweite Teil bringt zahlreiche Bildtafeln zur Ausstellung. Die Verantwortlichen für die Ausstellung und Herausgeber des Katalogs verzichten bewusst auf den Versuch, das Phänomen des Biedermeier scharf gegen andere Stile oder Epochen abgrenzen zu wollen.

In der allgemeinen Wahrnehmung leidet das Biedermeier in der Regel darunter, dass ihm nur dasjenige zufällt, was der jeweilige Interpret nicht für die von ihm in den Fokus genommene Epoche, sei es Klassik, Romantik oder Realismus, zu gebrauchen versteht. Ganz im Gegensatz dazu wird hier Biedermeier als ein offener Begriff für eine Reihe von Stiltendenzen gebraucht, die sich zwischen 1815 und 1848 finden lassen, ohne dass behauptet würde, diese Tendenzen seine nicht auch vor oder nach dieser Zeitspanne präsent. Auch wird dem Vorurteil widersprochen, es handele sich beim Biedermeier um eine vornehmlich bürgerliche und deshalb einfache, schlichte und anspruchslose Stilepoche. Im Gegenteil wird aufgezeigt, dass sich sowohl Adel als auch Bürgertum mit einem klaren Stilbewusstsein die Tendenzen dieses Stils zu eigen gemacht haben.

Der historisch-theoretische Teil bringt manche Anregungen zu den vielfältigen Verflechtungen der Zeit- und Stiltendenzen des oben angeführten Zeitraums sowohl in der bilden Kunst als auch in der Literatur. Wirklich erstaunlich war für mich aber der Bildteil, der von Möbeln über Zimmerbilder und Hausrat (Glas, Porzellan, Silber- und andere Metallarbeiten, Tapeten und Stoffmuster) bis hin zu den Gemälden der Zeit eine reichhaltige Auswahl an Exponaten präsentiert. Insbesondere die immer wieder – im Sinne des 20. Jahrhunderts – überraschend moderne Anmutung zahlreicher Alltagsexponate hat mich gefangen genommen. Ein Bilderbuch, in dem es manch eine Quelle der Moderne zu entdecken gibt.

Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit. Katalog. Hg. v. Hans Ottomeyer, Maria Luise Sternath-Schuppanz u. Laurie Winters. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006. Leinen, Fadenheftung, Kunstdruckpapier (26,5×33,5 cm), 440 Seiten m. 70 S-W- u. 430 Farbabb. 49,80 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (14)

Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganze Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hatte.

Walter Benjamin

Hubert Wolf: Index

wolf-indexDie vatikanischen Archive, die unter anderem auch die Unterlagen der Zensurbehörden und ihrer Entscheidungen enthalten, sind erst seit 1998 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Hubert Wolfs ist wohl die erste populäre deutschsprachige Darstellung der Tätigkeit der Index-Kongregation überhaupt. Wolf ist Kirchenhistoriker und leitet eine Arbeitsgruppe, die damit beschäftigt ist, die Akten der Indexkongegration zu edieren und zum Druck zu befördern. Er sitzt also an der Quelle, was man dem Buch leider auch an einigen Stellen anmerkt.

Die Darstellung ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil liefert Wolf eine kurze Geschichte des katholischen Index und einen Überblick über den gewöhnlichen Ablauf eines Verfahrens bei der Indexkongregation. Der zweite Teil liefert anhand von neun Autoren Beispiele für die Art und Weise, wie Indizierungsverfahren von der Anzeige bis zum Urteil und der eventuellen Publikation des Verbotes abliefen. Nur ein Teil dieser Exempel betreffen belletristische Autoren: Knigge (nicht indiziert), Heine (indiziert), Beecher Stowe (nicht indiziert) und Karl May (ebenfalls nicht indiziert). Die anderen behandeln theologische oder kirchengeschichtliche Werke. Besonders diejenigen Fallbeispiele, bei denen es nicht zu einer Indizierung der verhandelten Werke gekommen ist, sind von Interesse, da von ihnen bislang wenig oder nichts bekannt war. Nur die Fälle eines Verbots wurden publiziert; Anzeigen, die entweder gar nicht erst zugelassen wurden (Karl May) oder die nicht zu einem Verbot führten (Beecher Stowe), blieben dagegen bis zur Öffnung der Archive weitgehend unbekannt.

Insgesamt ein gut lesbares Buch, wenn auch der erste Teil deutlich besser gelungen scheint als der zweite. Die Fallbeispiele leiden passagenweise unter einer Neigung des Autors zur zu breiten Darlegung der Aktenlage. So findet sich etwa in den Unterlagen zum Fall Karl May ein Zeitungsausschnitt, der der anonymen Anzeige beilag. Hubert Wolf gelingt es, mit Hilfe der auf der Rückseite abgedruckten lokalen Zeitungsmeldungen Erscheinungsort und -datum zu identifizieren. Allerdings verzichtet er großzügig darauf, uns das Ergebnis schlicht mitzuteilen; stattdessen erfahren wir zuerst, was die beiden Spalten enthalten, aus denen sich nichts schließen lässt, dann den Inhalt der dritten Spalte, aus der sich der Ort wenigstens eingrenzen lässt, und dann erst wird die Katze aus dem Sack gelassen. Dabei handelt es sich wohl um die Vorstellung eines Archivars von Spannung. Leider sind nahezu alle Fallbeispiele von dieser Art der Gründlichkeit geprägt.

Abgerundet wird der Band durch zwei Auswahllisten: zum einen bekannterer indizierter Bücher, zum anderen zwar verhandelter, aber nicht verbotener Bücher.

Wegen des historischen Überblicks im ersten Teil auf jeden Fall zu empfehlen. Dem Freund der schönen Literatur wird es danach genügen, die vier »literarischen« Fälle kurz zur Kenntnis zu nehmen und die ermüdenden und nicht ohne Redundanzen auskommenden übrigen Beispiele auf sich beruhen zu lassen.

Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck’sche Reihe 1749. München: C.H. Beck, 2007. 303 Seiten. 12,95 €.

Zeno.org

Zeno.org ist ein Ableger der Digitalen Bibliothek. Angefangen hat diese Seite als kommerzieller Download-Anbieter, bei dem man Bände der Digitalen Bibliothek erwerben und auf den eigenen Rechnen herunterladen konnte. Heute Nacht um 0:00 Uhr startet Zeno.org außerdem offiziell die größte freie deutschsprachige Online-Bibliothek. Dieser Status wird auch der Tatsache geschuldet sein, dass Zeno.org als Mirror der Wikipedia fungiert.

Insgesamt wird Zeno.org rund 1,6 Millionen Seiten mit etwa 600 Millionen Wörtern und 420.000 Bildern anbieten. Neben Allgemeinen Lexika – besonders historisch wichtigen – finden sich umfangreiche Texte zu Geschichte, Philosophie, Kunst und Kunstgeschichte sowie aus der klassischen Literatur. Das ist kein Pappenstiel; und diese Bibliothek soll kontinuierlich weiter wachsen.

Zeno.org setzt auf ein Konzept von Sponsoring und Buchpatenschaften, das den Bestand und die Erweiterung der Bibliothek finanzieren soll. Nähere Einzelheiten liefert die Seite. Wir werden das Projekt mit großem Interesse beobachten und hoffen, dass sich die Professionalität der Digitalen Bibliothek auch bei diesem Projekt fortsetzen wird, und wünschen der Seite eine blühende Zukunft.