Brieffreundschaft

Philipp Mattheis präsentiert auf jetzt.de, einem Ableger von sueddeutsche.de, eine Liste von 33 Glaubenssätzen der 18-Jährigen:

Jedes Jahr veröffentlicht das Beloit College in Wisconsin, USA, die „Mindset List“ für Dozenten. Die Liste soll ihnen helfen, sich besser in die Welt der heute 18-Jährigen einzudenken und ihren Unterricht deren Gedankenwelt anzupassen. Viele der 1989 in den USA geborenen Schüler wissen einfach nicht, dass Deutschland einmal geteilt war und haben, dank elektrischer Fensterheber, noch nie ein Autofenster herunter gekurbelt. Typisch – blöde Amis, könnte man jetzt sagen. Aber wer der 1989 in Deutschland Geborenen weiß noch, dass „Twix“ mal „Raider“ hieß?

Um älteren Lesern die Welt der heute 18-Jährigen näher zu bringen, haben wir 33 Glaubenssätze zusammen gestellt.

Das allein wäre hier nicht weiter erwähnenswert, aber Glaubenssatz Nr. 25 ist literarischer Natur:

25. Der letzte Mensch, der eine „Brieffreundschaft“ hatte, war Goethe.

Unglaublich, dass die Kids angeblich noch wissen, was eine »Brief- freundschaft« ist; noch unglaublicher, dass sie den Namen Goethe in diesen Zusammenhang einordnen können.

            Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
»Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten.

Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen!
Wir heißen euch hoffen.«

Allen Lesern ins Stammbuch (12)

Schon oft hatte der Herzog über das große Problem nachgegrübelt, einen Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die kondensierte Last von Hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehn, so, daß man keins umstellen könnte.

Der auf diese Weise abgefaßte Roman, in eine oder zwei Seiten zusammengedrängt, wäre eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuß.

Joris-Karl Huysmans
Gegen den Strich

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit

wodehouse-onkeldynamit Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.

In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.

Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:

Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.

Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.

Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.

Marcus Braun: Armor

braun-armor Dass Marcus Braun stark reduzierte Texte mit erstaunlichem Tiefgang schreibt, hatte er bereits mit seinem bemerkenswerten ersten Roman »Delhi« (Berlin Verlag, 1999) unter Beweis gestellt. Ich muss zugeben, dass ich ihn danach etwas aus den Augen verloren habe; zwar stehen »Nadiana« (Berlin Verlag, 2000) und »Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen« (Berlin Verlag, 2003) seit dem Erscheinen im Bücherschrank, aber es ist immer wieder »etwas dazwischen gekommen«. Nun ist sein vierter Roman bei Suhrkamp erschienen und erfüllt die Erwartung, die ich an »Delhi« entwickelt hatte.

Braun hat einen äußerst reduzierten Erzählstil (angesichts der deutlichen Anspielungen auf Arno Schmidt, die »Delhi« enthält, dürfte man sicherlich auch von einem »dehydrierten Stil« sprechen, wenn das nicht zu viele Leser abschrecken würde), der wenig Überflüssiges enthält. Schon der Titel ist für diesen Stil bezeichnend: ›Armor‹ ist das, was bei Lewis Carroll ein Portmanteau-Wort heißt. Nicht nur ist es eine Kurzform von ›Aremorica‹, der keltischen Bezeichnung für die Nordwestküste Frankreichs, sondern in ihm steckt auch das lateinische arma (die Waffen, aber übertragen auch der Krieg oder gar die Arglist) und natürlich steckt auch die Liebe und die Leidenschaft, amor, darin.

Es ist dementsprechend nicht überraschend, dass »Armor« wenigstens auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte erzählt, die in der Bretagne spielt. Protagonist ist Fabien, der mit Kate von Paris aus ans Meer unterwegs ist. Zwischen Saint-Malo und Cancale zerschlägt ihnen ein Stein die Windschutzscheibe ihres roten Alfa Romeo und sie kommen bei einer Zufallsbekanntschaft, Isabelle und ihrem sehr viel älteren Mann Jacques, unter. Da die einzige lokale Auto-Werkstatt nicht in der Lage ist, kurzfristig eine neue Frontscheibe zu besorgen, sehen sich Fabien und Kate genötigt, einige Zeit bei Jacques und Isabelle zu logieren. Jacques war früher Architekt und ist beim Bau eines Gezeitenkraftwerks reich genug geworden, um sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau Isabelle war zuerst die Geliebte seines Sohnes Arnaud, der vor einem Jahr beim Schwimmen ertrunken ist.

Was sich nun zwischen diesen vier Personen an zwi­schen­mensch­li­cher Dynamik entwickelt, könnte ohne weiteres als Vorlage eines Chabrol- Films dienen: Jacques, der weder den Tod seines Sohnes verarbeitet hat, noch Isabelles Unabhängigkeit oder seine eigene Untätigkeit so recht zu ertragen vermag, versucht ganz offensichtlich, Kate zu verführen, während Fabien zwischen seiner Begierde nach Isabelle (und Marie, aber das kann hier nicht auch noch dargestellt werden) und seiner Eifersucht hin- und hergerissen wird. Beinahe kann er Kate zur Abreise überreden, als er bei einem nächtlichen Badeausflug in einen Seeigel tritt, was weitere Verzögerungen und Verwicklungen mit sich bringt. Am Ende versorgt Braun den Leser gleich mit zwei Abschlüssen der Geschichte, wovon aber hier nichts weiter verraten werden soll.

All dies wird, wie schon gesagt, in einer kargen und durchtrainierten Prosa präsentiert, die mit Details geizt und den Leser zur aktiven Rekonstruktion des Geschehens zwingt. Man könnte hier den Verdacht haben, der Autor pflege einen artistischen Manierismus, aber diese Erzählweise ist tiefer begründet, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Bereits auf der Motto-Seite des Romans erscheint ein Zitat des Heiligen St. Malo (hier auch mit seinem keltischen Namen Maklou angeführt), der heute als nahezu komplett verschollen gelten darf. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass das Buch weit reicher unterfüttert ist, als es die beinahe banal anmutende Kri­mi­nal­hand­lung vermuten lässt: So ist Jacques etwa durch zahlreiche Details mit der Figur des Freibeuters Robert Surcouf, eines der berühmtesten Söhne der Stadt St. Malo, assoziiert. Sein wohl nicht ganz legal erworbener Reichtum, sein früher Rückzug ins Privatleben und nicht zuletzt sein an einen verwinkelten Fuchsbau gemahnendes Haus (Surcoufs letztes Schiff trug den Namen »Le Renard«, der Fuchs) sind einige der Anknüpfungspunkte für eine Verbindung der Figuren. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich auch für die anderen Figuren derartige Verwurzelungen in der Geschichte Saint-Malos oder der Bretagne finden lassen. Nun ist aber gerade Brauns karge Prosa bestens dazu geeignet, solche Assoziationsfelder im Text hervortreten zu lassen, ohne dass sie den Erzählfluss oder die Oberflächenhandlung stören. Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Braun bei Arno Schmidt nicht nur erfolgreich in die Schule gegangen, sondern auch mit einem eigenständigen Stil und Assoziationsfundus aus dieser Schule hervorgegangen ist.

Es wird abzuwarten bleiben, ob Marcus Braun sich mit dieser reduzierten und zugleich anspruchsvollen Prosa ein adäquates Publikum erobern kann. Für mich gehört er derzeit zu den artistisch interessantesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn ich mit dem »Krimi«-Anteil dieses Buches nicht allzu viel anfangen kann.

Marcus Braun: Armor. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Pappband, 187 Seiten. 17,80 €.

Von der Höhe der Alpen (17)

I ain’t never seen ’em, but my common sense tells me the Andes is foothills, and the Alps is for children to climb! Keep good care of your hair! These here is God’s finest sculpturings! And there ain’t no laws for the brave ones! And there ain’t no asylums for the crazy ones! And there ain’t no churches, except for this right here! And there ain’t no priests excepting the birds. By God, I are a mountain man, and I’ll live ‚til an arrow or a bullet finds me. And then I’ll leave my bones on this great map of the magnificent …

Del Gue

Literaturskandal um zamonischen Großdichter

Anlässlich des gerade erschienenen Buches »Der Schrecksenmeister« hat der zamonische Autor Hildegunst von Mythenmetz schwere Vorwürfe gegen seinen Übersetzer Walter Moers erhoben. Moers antwortet schlagkräftig in der Wochenschrift »Die Zeit«. Für Leser des Buches dürfte die folgende Passage wichtig sein:

Ausgerechnet Hildegunst von Mythenmetz, der Gofid Letterkerls schmale Novelle zum dicken Roman ausbaut, sich also schamlos eines vorhandenen Fundamentes bedient, macht mir den Vorwurf des geistigen Diebstahls. Die Literaturgeschichte ist nicht arm an solchen Beispielen. Ist nicht letztendlich jede Reiseerzählung eine Odyssee? Ist nicht jedes epische Märchen ein Abklatsch der Nibelungen- oder Artussage? Jede Detektivgeschichte ist Edgar Allan Poe zu verdanken, der das Genre erfand. Und jedes Werk der Science-Fiction schuldet seine Existenz eigentlich Shakespeares Sturm. Sind deshalb alle Autoren von Märchen, von Detektiv- oder Science-Fiction-Romanen Diebe und Plagiatoren?

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P.S.: Wie wir herausfinden konnten, liegt dem Mythenmetzschen Roman wohl die Novelle »Schakal spendet Ziege« von Gofid Letterkerl zugrunde, auch wenn das Nachwort nur den viel späteren, abschwächenden Titel der Neuauflage »Echo, das Kätzchen« erwähnt.

Shortlists (2)

Warnung : »Überlegen Sie sich’s zwanzig Mal, ehe Sie irgend ‹Gesammelte Werke› kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. – Wer mehr als 1 Dutzend ‹Gesamtausgaben› besitzt, ist ein Charlatan ! – Oder aber : er hat sie nicht gelesen.«

Apodiktisch, wie wir ihn lieben, spricht hier Arno Schmidt ein hartes Wort über jene Buchlieberhaber aus, die nicht nur einen großen Teil der zu erübrigenden Zeit mit Lesen verbringen, sondern in deren Wohnungen sich die Bücherregale mit den Bildern um den Platz an den Wänden streiten und oft, zu oft gewinnen. Da wird ein neuer Autor entdeckt, und man deckt sich vorsorglich mal mit einer Werkauswahl oder eine ‹Gesamtausgabe› ein, denn es könnte ja sein, dass einen gleich morgen in aller Frühe, noch vor Öffnung der ersten Buchhandlungen oder Bibliotheken der ununterdrückbare Drang überfällt, Honoré de Balzacs »Das Alter einer schuldigen Mutter« zu lesen, und man hätte es nicht im Haus.

Deshalb als Gegengewicht zur ersten Shortlist und für alle, denen es ähnlich geht, hier als Klagegesang:

10 Autoren, für die ich gern mehr Zeit haben würde:

  1. Christoph Martin Wieland: Auch ich habe den Reprint in den goldenen Zeiten der Greno Verlages gekauft und brav die wichtigen Romane gelesen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Die Geschichte des Agathon«, die unvergleichliche »Geschichte der Abderiten« und auch den anspruchsvollen »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Und dennoch bleibt das Bewusstsein, das da noch Bände um Bände von Schätzen zu heben sind.
  2. Jean Paul: Vielleicht die subjektiv schmerzlichste Lücke. Noch zu Schulzeiten habe ich nach ¾ der »Flegeljahre« aufgegeben, dann im Studium all die kleineren Sache gelesen, damit die Hanser-Werkausgabe wenigstens nicht ganz ungenutzt herumsteht, aber mir nie die Ruhe und Zeit genommen, die großen Romane durchzugehen.
  3. Thomas Pynchon: Gerade vor ein paar Tagen habe ich noch mit einem Freund darüber gesprochen, dass meine frühe Pynchon-Lektüre so lange her ist, dass ich mich kaum daran erinnere. Ich wäre schon neugierig, wie »Gravity’s Rainbow« heute, nach beinahe 30 Jahren auf mich wirken würde. In »Mason & Dixon« bin ich irgendwo in der Mitte stecken geblieben und »Against the Day« liegt seit dem Erscheinen unangetastet hier herum.
  4. Honoré de Balzac: Auch hier vermute ich, dass wahre Schätze zu heben sind, habe aber bis auf einige Inseln keinen blassen Schimmer, was der Kontinent der »Menschlichen Komödie« birgt.
  5. Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege« war – wie bei so vielen – die »Einstiegsdroge«, und dann ist einfach immer wieder etwas dazwischen gekommen. Da muss noch einmal ganz von vorne begonnen werden.
  6. William Faulkner: Noch während des Studiums sind die blauen Bände des Diogenes Verlags ins Bücherregal gewandert und seitdem brav von Wohnung zu Wohnung mit umgezogen. Gelesen habe ich bislang einige Erzählungen, aber noch keinen einzigen der Yoknapatawpha-Romane, noch nicht einmal auf Deutsch. Statt dessen hat man irgenwann einmal den 10-bändigen Hemingway durchgelesen und ärgert sich heute über die verschwendete Zeit!
  7. Ludwig Tieck: Auch so ein Autor, bei dem man das Gefühl hat, nie an ein Ende kommen zu können, gleichgültig wieviel man auch immer von ihm gelesen hat. Wenn es nur wenigstens einmal die Novellen komplett wären …
  8. Marcel Proust: Da ist das Misstrauen gegen die deutsche Übersetzung der »Suche nach der verlorenen Zeit« die Hauptursache, dass ich beim ersten Versuch schon im Swann stecken geblieben bin. Vielleicht gelingt ein neuer Anlauf mit der überarbeiteten Fassung? Aber die Zeit, die Zeit …
  9. Johann Gottfried Herder: Auch so ein typischer Ausschnitt-Autor, also einer, von dem man immer nur die »Stellen« aufsucht und hier ein wenig in den »Ideen« schmökert und dort einige Seiten den »Briefen zur Beförderung der Humanität« folgt, sich aber nie zu einer gründlichen Lektüre entschließt, obwohl man weiß, dass von hier gewaltige Einflussströme ausgehen, denen man immer und immer wieder begegnet. Was einem allein bei Nietzsche alles auffallen könnte, wenn man Herder wirklich gründlich kennte, …
  10. Johann Wolfgang von Goethe: Ganz gleich, wieviel Goethe ich wie oft gelesen habe, das hört nicht auf …

Roger Paulin: Theodor Storm

Um Storm scheint es derzeit etwas ruhig zu sein: Außer der veralteten Rowohlt-Bildmonographie von Hartmut Vincon ist derzeit wohl keine Storms Leben vollständig beschreibende Biographie auf dem Markt. Die beiden letzten stammen, soweit ich sehe, von Georg Bollenbeck (Insel, 1988; demnächst in diesem Theater) und eben Roger Paulin, der innerhalb der Reihe der Beck’schen Autorenbücher ein Storm-Porträt abliefert.

Wie bei der Reihe üblich, ist das Buch zugleich Kurzbiographie und Werkeinführung und zielt auf eine studentische Leserschaft ab, die sich schnell einen Überblick zu einem Autor verschaffen will. Diesem Anspruch genügt das Buch vorbildlich. Paulin ist offensichtlich ein exzellenter Kenner Storms und findet bei der Besprechung ein ausgewogenes Verhältnis von Prosa und Lyrik – er schließt sich übrigens Storms Selbsteinschätzung an, einer der bedeutendsten Lyriker des 19. Jahrhunderts zu sein. Er geht bei der Erschließung der Werke von der Autorenpoetik aus und setzt Storms Dichtung von den zeitgenössischen Hauptströmungen ab, ohne sie dabei in die Kategorie Heimatdichtung abzuschieben. Auch persönliche und ökonomische Bedingungen der Produktion werden knapp, aber treffsicher thematisiert. Angesichts des derzeitigen Mangels an Biographischem zu Storm ist es trotz seinem nicht unbeträchtlichen Alter zu bedauern, dass dieses Buch von Beck nicht weiter aufgelegt worden ist.

Roger Paulin: Theodor Storm. Beck’sche Reihe 622. München: Beck, 1992. 144 Seiten.

Miniaturen (4)

Nun standen die jungen Leute, die noch in das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln des Turmes, hinter welchen sie ihre Nester hatten; im Westen über dem Haff stand ein glühendes Abendrot.

Theodor Storm
Der Schimmelreiter