Émile Zola: Das Geld

War das nicht die Antwort auf jene Frage, ob das Geld nicht schlechthin Erziehung, Gesundheit und Intelligenz bedeute? Wenn unter aller Kultur der gleiche menschliche Schmutz verborgen war, bestand dann vielleicht die ganze Zivilisation in dem einzigen Vorzug, daß man gut riecht und gut lebt?

zola_rougonVon den drei noch zu schreibenden Bänden des Zyklus der Rougon-Macquart waren die beiden letzten inhaltlich seit langer Zeit festgelegt: Band 19 musste sich dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs im Krieg 1870/71 widmen, Band 20 war reserviert für die Zusammenfassung und Sicherung des soziologisch-biologischen Gehalts des Zyklus. Es blieb nach »Das Tier im Menschen« also nur noch ein Buch übrig, in dem Zola eine einigermaßen freie Themenwahl hatte. Obwohl er später behauptete, das Thema des Geldes und der Börse schon früh vorgesehen zu haben, entstand die Idee wahrscheinlich erst in der Zeit der Niederschrift von »Das Paradies der Damen«, also zu Anfang der 1880er Jahre. Eigentlich wollte Zola in »Das Geld« wohl gleich zwei Themenkomplexe erledigen: die Pariser Börse und das Zeitungswesen, doch geriet der zweite schließlich nur zu einem Randthema.

»Das Geld« knüpft unmittelbar an »Die Beute« an: Der Grundstücks-Spekulant Saccard, Bruder des Ministers Eugène Rougon, ist inzwischen finanziell ruiniert und hofft auf seine nächste große Chance. Da sich Eugène weigert, ihm zu helfen, und ihn ins Ausland abschieben möchte, sucht er nach einer neuen Chance, wieder zu Geld und Macht zu kommen. Durch die zufällige Bekanntschaft mit dem Geschwisterpaar Caroline und Georges Hamelin kommt er auf den Einfall, eine Kredit-Bank zu gründen, deren Ziel Investitionen im Nahen Osten sind: Als Ingenieur hat Georges Hamelin dort viele Jahre verbracht und konkrete Projekte zur wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeutung der dortigen Bodenschätze geschmiedet. Dies ist die Vision einer neuen Quelle des Reichtums, die Saccard als Triebfeder für seinen Plan braucht. Es gelingt ihm, einige einflussreiche und finanziell potente Gründungsmitglieder für die neu zu gründende Banque Universelle zu finden. Die neue Bank wird mit großem Erfolg an der Börse eingeführt, und Saccard betreibt ein konsequentes und riskantes Spiel, um den Kurs der Aktie rasch in die Höhe zu treiben.

Es erweist sich aber bald, dass es ihm dabei nur bedingt um das vorgebliche Ziel dieser Bankgründung geht. Eigentlicher Antrieb sind sein Neid auf und seine antisemitischen Vorurteile gegen den jüdischen Börsenmagnaten Gundermann, den er ruinieren und dessen Platz als unangefochtener König der Pariser Börse er einnehmen will. Und so verliert Saccard in immer neuen Spekulationen mehr und mehr die Kontrolle über das Geschehen: Je höher er den Kurs der Aktie künstlich herauftreibt, desto öfter ist er genötigt, ihn durch illegale Käufe von Aktien über Strohmänner zu stützen, also das Kapital der Bank in sie selbst zu investieren, anstatt neues Kapital hinzuzugewinnen. Alles endet natürlich, wie es enden muss, im Absturz des Kurses, dem Bankrott der Bank, dem Ruin zahlloser Kleininvestoren und der Inhaftierung und Verurteilung Saccards und Georges Hamelins.

Der Roman ist auffällig reich an Figuren und außergewöhnlich sorgfältig konstruiert; fast hat man den Eindruck, ein Buch von Dickens zu lesen, sowohl, was die Zahl, als auch was die Gestaltung und den funktionalen Einsatz des zahlreichen Personals angeht. Dagegen treten die sonst bei Zola vorherrschenden umfangreichen und detaillierten Beschreibungen in den Hintergrund; nur an einer einzige Stelle gibt der Autor diesem Hang für einige Seiten nach und beschreibt minutiös den Ablauf eines Börsentages. Ansonsten ist er, entweder aus Rücksicht auf das Verständnis seiner Leser oder weil er sich selbst nicht recht sicher auf dem Parkett der Hochfinanz fühlte, auffällig zurückhaltend bei der Beschreibung konkreter Einzelheiten und Prozesse der gesellschaftlichen Sphäre, die er beschreibt.

Das ist es auch, was alles in allem nicht recht überzeugt: Trotz des erheblichen thematischen Aufwands, den Zola betreibt, bleibt seine Analyse des Geschehens am Ende schwach. Dass er beinahe das gesamte letzte Kapitel personal aus der Perspektive Caroline  Hamelins, die zeitweilig eine der Geliebten Saccards ist, erzählt und damit den Größenwahn und die Machtgier Saccards als erste Ursache der Katastrophe in den Vordergrund rückt und damit die ruinierten Investoren zu Opfern stilisiert, statt sie als die geldgierigen Idioten darzustellen, als die sie sich im Laufe des Romans erwiesen haben, bringt den Roman beinahe um jedes kritische Potenzial. Da hilft es auch nicht, in der Nebenfigur Sigismond Buschs einen in der Wolle gefärbten Marxisten auftreten zu lassen, dessen politische Vision dann als Phantasie eines Schwindsüchtigen stehen bleibt.

Womit Zola hier mehr als je zuvor zu kämpfen hat, ist seine eigene, letztlich ungebrochene Fortschrittsgläubigkeit: Das Elend der Gegenwart ist durch den ganzen Zyklus hindurch immer wieder nur der notwendige Nährboden für die um so herrlichere, glänzende Zukunft, die daraus erwachsen soll. In dieser Entwicklung spielt dann auch der größenwahnsinnige Saccard, der sich selbst am Ende unverhohlen mit Napoleon vergleicht, noch seine notwendige Rolle, und hätte der sich nur ein wenig mehr im Griff gehabt, so wäre sein Plan so übel gar nicht gewesen. Bald wird der nächste kommen und den Reigen aufs Neue eröffnen; auch er wird wahrscheinlich scheitern, aber auch sein Scheitern wird die Welt wieder um ein Jota vorangebracht haben. Es ist natürlich nicht fair, Zola seinen Optimismus aus dem Abstand von mehr als 120 Jahren vorzuhalten; überzeugender wird der Roman aber durch diesen Vorbehalt auch nicht.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Das Tier im Menschen

Was lag schon an den Unbekannten aus der Menge, die unterwegs herausgestürzt, unter den Rädern zermalmt worden waren! Man hatte die Toten weggetragen, das Blut abgewaschen, und man fuhr wieder los, der Zukunft entgegen.

zola_rougonMit »Das Tier im Menschen«, dem 17. Band der Rougon-Macquart, nähert sich der Zyklus deutlich seinem Ende und damit auch dem Ende des Zweiten Kaiserreichs. Seine Handlung spielt in den Jahren 1869 und 1870 und er umfasst gleich drei Themenkreise: Zum ersten handelt es sich um einen Eisenbahner-Roman, womit auch dieser Aspekt der Entwicklung der modernen Gesellschaft im Zyklus erfasst ist, zum zweiten ist er ein Kriminal- und Justizroman und zum dritten liefert er das Porträt eines psychopathischen Mörders. Bei letzterem handelt es sich um Jacques Lantier, den dritten Sohn der Wäscherin Gervaise Macquart (»Der Totschläger«), dessen Brüder Etienne (»Germinal«) und Claude (»Das Werk«) dem Leser des Zyklus bereits bekannt sind. Jacques arbeitet als Lokomotivführer erster Klasse auf der Strecke Paris–Le Havre; er ist ein Einzelgänger, der nur mit der Familie seiner Zieh-Mutter Phasie, einer Cousine seines Vaters, die direkt an der von ihm befahrenen Strecke ein kleines Haus bewohnt, noch Umgang hat. Da Jacques in sich die mit sexueller Erregung verbundene Lust fühlt, eine Frau zu töten, versucht er sich von Frauen fernzuhalten. Gleich, als der Leser ihn kennenlernt, entgeht seine Milchschwester Flore, die in Jacques verliebt ist, nur knapp ihrer Ermordung, da er sich im letzten Augenblick von ihr abwendet und davonläuft.

Doch den eigentlichen Auftakt des Romans bildet ein anderer Mord: Roubaud, der stellvertretende Bahnhofsvorsteher von Le Havre, entdeckt bei einem dienstlichen Besuch in Paris, zu dem er seine Ehefrau Séverine mitgenommen hat, zufällig dass diese als junges Mädchen von ihrem gemeinsamen Gönner und Protektor, dem Gerichtspräsidenten Grandmorin, missbraucht worden ist. In einem Anfall von Wut und Eifersucht entschließt sich Roubaud, den Präsidenten auf der gemeinsamen Rückfahrt von Paris zu ermorden. Nicht nur glückt das Verbrechen, ihm gelingt es auch, den Anschein zu erwecken, er habe sich während der Fahrt in einem anderen Abteil aufgehalten. Zufällig aber wird Jacques Lantier, der gerade seine Verwandten besucht, Zeuge des Mordes, ohne allerdings den Mörder in dem vorbeifahrenden Zug erkennen zu können.

Die Tat Roubauds hat weitreichende Folgen: Der mit dem Fall betraute Untersuchungsrichter Denizet hat zwei Hauptverdächtige, zum einen Roubaud, zum anderen den Arbeiter Cabuche, dem als Motiv eine persönliche Rache unterstellt werden kann. Allerdings wird dem Richter von politischer Seite nahegelegt, den Fall auf Eis zu legen, da man in Regierungskreisen befürchtet, die sich um den Ermordeten rankenden Gerüchte eines unsittlichen Lebenswandels könnten während eines Prozesses von der politischen Opposition ausgeschlachtet werden. Roubaud wiederum, der argwöhnt, von Jacques trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen erkannt worden zu sein, treibt ihm seine Frau Séverine in die Arme und verfällt selbst der Spielleidenschaft.

Dies sind die Voraussetzungen für ein labiles Gleichgewicht, das sich etabliert: Jacques und Séverine haben eine jeden Freitag in Paris ausgelebte Affäre, durch die sich Jacques von seiner Mordlust befreit wähnt, und Roubaud ist mit sich selbst und dem Kartenspiel beschäftigt. Den Anstoß zur schließlichen Katastrophe gibt Flores Eifersucht, die der Affäre Jacques und Séverines ein Ende setzen will, indem sie beide dadurch zu töten gedenkt, dass sie den von Jacques geführten Zug, in dem sie auch Séverine weiß, zum Entgleisen bringt; die Beschreibung dieses Zugunglücks, das die beiden Liebenden allerdings überleben, ist einer der Höhepunkte des Romans.

Flore begeht aus Wut und Selbstvorwürfen über ihre Tat Selbstmord; Séverine kümmert sich um den nur leicht verletzten Jacques und überredet ihn dazu, ihren Mann zu ermorden, damit sie das von Grandmorin vermachte Erbe an sich bringen und zusammen nach Amerika auswandern können. Doch kurz vor der Tat überfällt Jacques die alte Mordgier, und er ersticht Séverine und flieht. Der von dem Liebespaar herbeigelockte Roubaud findet den Arbeiter Cabuche, der ebenfalls in Séverine verliebt ist und als erster am Ort des Verbrechens eintrifft, mit blutigen Händen über der Leiche seiner Frau. Dies alles gipfelt im Triumpf des Untersuchungsrichters Denizet, der nun in einem Indizienprozess die gemeinsame Täterschaft Roubauds und Cabuches sowohl beim Mord an Grandmorin als auch bei der Ermordung Séverines nachweist und beide zu lebenslanger Haft verurteilen lässt. Jacques geht frei aus, nur um von seinem Heizer Pecqueux wiederum aus Eifersucht von der Lokomotive unter die Räder seines eigenen Zugs geworfen zu werden, wobei auch Pecqueux ums Leben kommt. Der Roman endet mit dem Bild des führerlos nach Norden den Schlachtfeldern des Krieges von 1870/71 entgegenrasenden Zugs:

Was lag schon an den Opfern, die die Lokomotive unterwegs zermalmte! Fuhr sie nicht trotz allem der Zukunft entgegen, unbekümmert um das vergossene Blut? Ohne Führer inmitten der Finsternis, wie ein blindes und taubes Tier, das man in den Tod rennen ließ, rollte und rollte sie dahin, beladen mit jenem Kanonenfutter, jenen Soldaten, die schon stumpfsinnig vor Müdigkeit und betrunken waren und die sangen.

Dieses furiose, sich konsequent steigernde Finale und die für das Ende des 19. Jahrhunderts schonungslose und direkte Darstellung der Morde haben ihre Wirkung nicht verfehlt und das Buch zu einem weiteren erfolgreichen literarischen Skandal des Zyklus werden lassen. Als später Leser des Romans kann man sich aber der Frage nur schwer entziehen, ob Zola im letzten Drittel des Buches nicht deutlich zu dick aufträgt. Während etwa die abschließende Katastrophe in »Germinal« einen nur konsequenten Abschluss liefert, gerät die fortgesetzte Aufhäufung von Tod, Gewalt und Grausamkeiten in »Das Tier im Menschen« in den Verdacht, allein um der schaurigen Wirkung betrieben zu werden. Sicherlich ist die den Roman beschließende Metapher vom führerlos in die Zukunft rasende Zug großartig, und ebenso sicher verlangte der Publikumsgeschmack nach der höheren Gerechtigkeit von Jacques Lantiers Tod, aber mit ein wenig Abstand betrachtet, schrammt das ganze, gerade auch, weil es gekonnt gemacht ist, nur gerade so am Kitsch vorbei.

Abgesehen von diesen reißerischen Tendenzen findet Zola mit »Das Tier im Menschen« zu seinen eigentlichen Themen, dem Verfall des Zweiten Kaiserreichs und der Familie Rougon-Macquart, zurück. Ihm war bewusst, dass es nur noch wenige hundert Seiten bis zum Abschluss des Zyklus sein würden.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Der Traum

Die Welt ist voller braver Leute. Wenn man rechtschaffen ist und arbeitet, wird man dafür immer belohnt … Oh, ich weiß, es gibt auch einige schlechte Menschen. Aber zählen die denn? Man verkehrt nicht mit ihnen, sie werden schnell bestraft …

zola_rougon»Der Traum«, der 16. Band der Rougon-Macquart, ist ein durch und durch überraschendes Buch. Es hat zwei hervorragende Eigenschaften: Es informiert den Leser ausführlich über das Handwerk der Gewandstickerei, und es ist mit gut 250 Seiten recht kurz. Alles andere an ihm ist unglaublich schlecht!

Erzählt wird die Geschichte Angéliques, der unehelichen Tochter Sidonie Rougons, die diese direkt nach der Geburt anonym der staatlichen Fürsorge überlässt. Die Erzählung setzt ein, als die neunjährige Angélique in der nordfranzösischen Kleinstadt Beaumont am Weihnachtstag des Jahres 1860 dem Handwerker-Ehepaar Hubert auffällt und sie das Kind in ihr Haus aufnehmen. Da die Huberts kinderlos sind, freunden sie sich schnell mit dem Gedanken an, das verwaiste Kind bei sich zu behalten und ihr eine Ausbildung als Stickerin angedeihen zu lassen. Angélique, die sich zuerst durch ein wildes Wesen auszeichnet, bekehrt sich durch die Lektüre der »Legenda aurea« zu einem schwärmerischen Christentum und träumt zugleich von einer Karriere als Heilige und als Prinzessin. Als sich der Sohn des örtlichen Bischofs – wie der Bischof zu einem Sohn kommt, würde hier zu weit führen, ist aber eine herzzerreißende Geschichte mehr – in die nun Sechzehnjährige verliebt, scheinen alle ihre Träume wahr werden zu können. Aber natürlich ist der Vater des jungen Mannes gegen die Ehe, was Angélique das Herz bricht. Auf dem Totenbett vom Bischof bereits gesalbt, kehrt sie plötzlich ins Leben zurück. Überwunden von diesem selbstgezeugten Wunder, willigt der harte Mann in alles ein, und Angélique verscheidet während ihrer Hochzeit, als sie ihr Gatte zum ersten Male küsst.

Man glaube nun nicht, ich unterschlüge mit meiner Nacherzählung irgend eine ironische oder anderweitig distanzierende Ebene; die Erzählung ist genauso trivial, einfältig und klischeehaft, wie sie oben erscheint. Die »Gartenlaube« hätte sich die Finger danach geschleckt, und jede bürgerliche Mutter hat diesen Roman ihrer heranwachsenden Tochter zur erbaulichen Lektüre in die Hände gelegt. Es ist schlicht fürchterlich.

Was sich Zola bei dem Zeugs gedacht haben mag, kann sich auch keiner seiner Deuter recht erklären. Die immer wieder bei seinen schwachen Romanen herangezogene Ausrede, er habe seine Kritiker überzeugen wollen, dass er auch konventionelle Romane schreiben könne, überzeugt in diesem Falle nicht, denn mit diesem Buch hat er höchstens bewiesen, dass er auch Mist zu schreiben in der Lage war.

Wie nicht anders zu erwarten, war das Buch einer der Verkaufserfolge Zolas, der mit der Auflagenhöhe etwa von »Germinal« durchaus wetteifern konnte. Ohne jede Frage der schriftstellerische Tiefpunkt des Zyklus, vermutlich des Gesamtwerks Zolas.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale

Nickerson_EssexDer Untergang der Essex wäre heute wahrscheinlich ebenso vergessen wie zahlreichen andere Schiffskatastrophen vergangener Jahrhunderte, wenn er nicht das Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby-Dick« geliefert hätte. Melville lernte den Bericht Owen Chase’, des 1.Offiziers der Essex, bereits kennen, als er selbst noch auf einem Walfänger unterwegs war, erhielt sein eigenes Exemplar des Buches aber erst 1851, als sein Roman bereits weitgehend fertiggestellt war.

Natürlich darf das Schicksal der Essex auch ohne Beziehung auf den »Moby-Dick« Interesse für sich beanspruchen: Immerhin betont Chase in seiner Schilderung der Ereignisse, dass es unerhört sei, dass jemals ein Walfangschiff von einem Pottwal gezielt und direkt angegriffen, geschweige denn versenkt worden sei. Was die Zeitgenossen an dem Fall faszinierte, war aber nicht nur die außergewöhnliche Ursache des Untergangs der Essex, sondern auch das Schicksal der wenigen Überlebenden, die letztlich zum Kannibalismus Zuflucht nehmen mussten. Allein schon aus diesem schaurigen Detail erklärt sich, dass der Fall der Essex breit besprochen und noch nach Jahrzehnten bekannt war.

Der Band bei Penguin versammelt alle bekannten Quellen direkt von der Katastrophe Betroffener, von denen einzig der Bericht von Owe Chase in Buchform erschien. Der Bericht von Thomas Nickelson, dem jüngsten Mitglied der Crew der Essex, ergänzt den von Chase insoweit ganz gut, als Chase die Fahrt der Essex vor der Versenkung des Schiffs nur sehr rasch abhandelt. Im Zusammenhang mit Melville sind diese und die weiteren Quellen allerdings nicht erheblich, da er sie nicht gekannt haben kann.

Zusätzlich zu den Primärquellen werden die Notizen dokumentiert, die sich Melville auf den letzten, leeren Seiten seines Exemplars von Chase’ Bericht machte. Allerdings tragen diese Notizen zum Verständnis von »Moby-Dick« nur wenig bei; einzig dass sich Melville anhand des Buches von Chase selbst über die Glaubwürdigkeit des Endes seines Romans beruhigte, könnte vielleicht von Interesse sein.

Alles in allem ein ganz nettes Bändchen, wenn es auch nur von begrenztem Nutzen für den Melville-Leser ist.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale. First Person Accounts. Ed. by Nathaniel and Thomas Philbrick. New York: Penguin, 2000. Broschur, 231 Seiten. Ca. 11,– €.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick?

philbrick_moby-dickNathaniel Philbrick hat nicht nur einen Roman über die Tragödie des Walfangschiffs Essex verfasst, sondern auch eine verdienstvolle, vollständige Sammlung der Augenzeugenberichte über dieses Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby Dick« herausgegeben (darüber bald mehr an dieser Stelle). Das kleine Büchlein »Why Read Moby-Dick?« ist eine sehr persönlich gehaltene Anregung zur Lektüre dieses nicht einfachen Klassikers der amerikanischen Literatur. Es reißt zahlreiche Themen des Buches an, gibt kurze Einblicke in die Biographie Melvilles, zitiert einige Stellen aus seinen Briefen an Nathaniel Hawthorne, erzählt anekdotisch von der Niederschrift des „Moby-Dick“ und ist insgesamt getragen von einer aufrichtigen Begeisterung für das Buch.

Ich habe es als Anregung gelesen, weil bei mir in den nächsten Wochen Melville dran ist, da ich im November wieder einmal einen Vortrag über ihn und seinen großen, weißen Wal halten werde. Als (Wieder-)Einstieg ins Thema ist das Buch exzellent und kann allen Neugierigen für eine nachmittägliche, kurzweilige Lektüre empfohlen werden.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick? New York: Viking, 2011. Wachstuch, Leinenrücken, rauer Schnitt, 131 Seiten. Ca. 15,– €.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden

Das ärgerte ihn noch mehr, denn in seiner Seele wusste er, nicht aus Überlegung, sondern durch etwas Stärkeres als Überlegung, dass er zweifellos recht hatte mit seiner Meinung.

Natürlich bietet es sich an, im Jahr 2012, 200 Jahre nach Napoleons Feldzug nach Russland, »Krieg und Frieden« zu lesen. Das Buch stand weit oben auf der imaginären Liste des Wiederzulesenden; die erste Lektüre wird an die 30 Jahre zurückliegen. Damals war es die Übersetzung von Marianne Kegel bei Winkler, diesmal habe ich es natürlich mit der Neuübersetzung von Barbara Conrad bei Hanser versucht. Parallel dazu habe ich etwas mehr als die Hälfte des Textes in der ausgezeichneten Komplett-Lesung von Ulrich Noethen angehört, der eine nicht genauer bezeichnete Bearbeitung der Übersetzung von Hermann Röhl liest, die wohl zuerst 1915 erschienen ist, wenn sie auch in zahlreichen Bibliographien mit der Jahreszahl 1922 oder 1923 verzeichnet ist.

Angesichts der inzwischen zahlreichen Verfilmungen des Stoffs – zuletzt 2007 mit einer durchaus nicht unkomischen Soap-Opera-Ästhetik fürs Fernsehen – ist eine ausführlichere Inhaltsangabe wohl unnötig. Für all jene, die das Buch nie gelesen haben, sollte wohl gesagt werden, dass die Handlung um die vier Adels-Familien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow nur eine von drei Ebenen des Romans bildet; die zweite ist eine durchaus kontroverse Geschichte der Napoleonischen und russischen Feldzüge zwischen 1805 und 1812, die dritte, besonders im dritten und vierten Buch präsente, bildet eine breit angelegte Reihe geschichtsphilosophischer Essays. Der Einfluss, den diese Mischung verschiedener Genres in einem Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20 Jahrhundert hatte, sollte nicht unterschätzt werden.

Die Neuübersetzung dürfte, wenn ich der einzigen Stichprobe trauen darf, die ich vorgenommen habe, die genaueste sein, die es in deutscher Sprache gibt. Sie verzichtet im Gegensatz zu den Vorläufern darauf, Tolstois Text stilistisch zu glätten. Aufgefallen war mir eine Passage, die ich zuerst für einen Lapsus der Übersetzerin hielt; da heißt es zu Anfang des 3. Kapitels im 1. Teil von Buch 4:

Neun Tage nachdem Moskau aufgegeben worden war, kam ein Bote von Kutusow nach Petersburg mit der offiziellen Nachricht, dass Moskau aufgegeben würde. Dieser Bote war der Franzose Michaud, der kein Russisch konnte, doch quoique étranger, Russe de cœur et d’âme war, wie er von sich sagte.

Der Kaiser empfing den Boten sofort in seinem Kabinett im Palais auf Kamenny Ostrow. Michaud, der Moskau vor der Kampagne noch nie gesehen hatte und der kein Russisch konnte, fühlte sich dennoch gerührt, als er vor notre très gracieux souverain (wie er schrieb) mit der Nachricht vom Brand Moskaus erschien, dont les flammes éclairaient sa route.

Die Doppelung der Information, dass Michaud kein Russisch spricht, was sich im Verlauf des Gesprächs mit dem Kaiser auch als gänzlich unnötig erweist, ist stilistisch etwas unglücklich, um das wenigste zu sagen. Da keine der mir erreichbaren Übersetzungen diese Doppelung reproduziert (merkwürdiger Weise aber in einem Fall im ersten und im anderen im zweiten Absatz fort lässt), habe ich einen des Russischen mächtigen Bekannten gebeten, das Original für mich aufzuschlagen (an dieser Stelle mein Dank an Frank Fischer). Und tatsächlich findet sich die von Barbara Conrad übersetzte Doppelung so bei Tolstoi. Ob es sich dabei um einen Fehler oder um die absichtliche Zuspitzung der auch sonst in weiten Teilen des Romans zu beobachtenden Methode, Informationen wiederholt und in ähnlichem Wortlaut mitzuteilen, handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber der Fund erhöht mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der neuen Übersetzung.

Aus dem obigen Zitat lässt sich auch eine weitere Entscheidung der Übersetzerin ablesen, nämlich die nicht russischen – in der Hauptsache französischen – Passagen des Buches in der jeweiligen Sprache im Haupttext zu belassen und nur in Fußnoten ins Deutsche zu übersetzen. Tolstoi markiert mit dem durchaus breiten Gebrauch des Französischen besonders in Gesprächen am Hof und unter dem Hof nahestehenden Adeligen nicht nur einen historischen Zug der russischen Kultur, sondern ist sich zugleich der Ironie bewusst, dass sich die Russen einem Angriff von Seiten genau jener Kulturnation gegenübersehen, die sie in ihrem höfischen Leben zu imitieren suchen. Auch diese Entscheidung der Neuübersetzung hebt sie aus der Reihe der bisherigen deutlich heraus. Hinzukommt, dass es sich wohl um eine der wenigen wirklich vollständigen Übersetzungen ins Deutsche handelt, da die meisten anderen deutschen Ausgaben auf die Übertragung des zweiten, rein essayistischen Teils des Epilogs verzichten.

Trotz alledem und obwohl meine zweite Lektüre sicherlich der ersten an Verständnis weit voraus ist, muss ich am Ende gestehen, dass ich mit Tolstoi nicht warm zu werden verstehe. Ich sehe durchaus die Vorzüge des Buches: Der breit angelegte Stoff, sowohl was die Fabel im engeren Sinne als auch was die historische Darstellung angeht, der lange Atem des Erzählers, die Spannbreite der dargestellten Lebens- und Notlagen zwischen Geburt und Tod, der ambitionierte Versuch zur Begründung einer originären – letztlich aber wohl inkonsistenten und von der eigenen historischen Erzählung konterkarierten – Theorie der Geschichte. Ich bewundere die Kunstfertigkeit, die disparaten gedanklichen und stofflichen Tendenzen des Buches miteinander in ein Gleichgewicht und einen Einklang zu bringen. Ich begreife inzwischen auch wenigstens in Grundzügen den Einfluss, den dieser Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20. Jahrhundert gehabt hat.

Dennoch, und das betrifft nicht nur »Krieg und Frieden«, sondern ist mir mit »Anna Karenina« genauso gegangen, kann ich mich nicht dazu bringen, am Schicksal der Tolstoischen Figuren irgendeinen Anteil zu nehmen. Wer es auch sein mag, Natascha, Sonja, Marja, Andrej oder Pierre, sie bleiben mir gänzlich gleichgültig, und ich nehme ihre Meinungen, ihre Verirrungen, ihre Gedanken und Gefühle achselzuckend zur Kenntnis und denke: Naja, so geht es halt zu unter Menschen. Ich mag auch noch das erzählerische Konzept verstehen, dass diese Adeligen, diese Creme der Gesellschaft, zwar besser gebildet, deshalb aber nicht weniger dämlich ist als der Rest der Menschheit, der sie umgibt, doch eine Empathie mit ihnen erwächst daraus nicht. Im Gegenteil: Je menschlicher sie im Verlauf der Handlung geraten, desto mehr gehen sie mir auf die Nerven.

Als Essayist zeigt Tolstoi zahlreiche Mängel eines sogenannten Selbstdenkers, also eines Menschen, der nur eine unzureichende Ausbildung im abstrakten Denken erhalten hat: Er wiederholt sich aufs Umständlichste, analysiert Gedankengänge anhand konkreter Beispiele, die sich durchaus immer auch anders verstehen lassen, bleibt in seiner Kritik oft negativ, ohne sagen zu können, wodurch denn die von ihm kritisierten Deutungsansätze ersetzt werden sollten, und endet zu oft bei völlig vagen Konzepten wie zum Beispiel dem »Geist des Heeres«.

Vielleicht sollte ich Tolstoi die Lizenz Nietzsches einräumen, dass man von großen Dingen entweder groß reden oder schweigen soll, und entsprechend den Mund halten. Aber unter uns bleibt es dabei: Tolstoi ist zweifellos eine literarhistorische Größe, vielleicht auch ein Gigant, aber nichts von alle dem geht mich etwas an. Bei Gelegenheit werde ich sicherlich auch noch einmal »Anna Karenina« in der neuen Übersetzung bei Hanser in die Hand nehmen, doch viel Hoffnung mache ich mir nicht.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Übersetzt von Barbara Conrad. München: Hanser, 2010. 2 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1104 und 1184 Seiten. 58,– €.

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. In der Übersetzung von Hermann Röhl vollständig gelesen von Ulrich Noethen. Berlin: DAV, 2009. 54 CDs (3979 Minuten). 199,– €.

Émile Zola: Die Erde

Überall dieselbe Geschichte, das Geld und das Weib, deswegen starb man und deswegen lebte man.

zola_rougon»Die Erde«, der 15. Band der Rougon-Macquart, ist der Bauernroman des Zyklus. Er bildet in mehrfacher Hinsicht ein Pendant zum Arbeiterroman »Germinal«: Auch hier spielt die Familie Rougon-Macquart, vertreten durch Jean Macquarts, den Bruder der Wäscherin Gervaise aus »Der Totschläger«, nur eine Nebenrolle; im Zentrum aber steht die Familie Fouan, die seit langer Zeit im kleinen Dorf Rognes in der Gegend von Chartres ansässig ist. Der alte Bauer Fouan teilt zu Beginn des Romans seinen kleinen Besitz gegen ein Altersgeld unter seinen drei Kindern auf und setzt sich zur vermeintlichen Ruhe. Allerdings weisen bereits die Streitereien anlässlich der Teilung auf den weiteren Ärger voraus, den ihm diese Idee einbringen wird: Alle drei Kinder versuchen, ihre Eltern auf ein minimales Altersgeld herunterzuhandeln, und sie zanken sich darum, wer welchen Anteil erhalten soll. Der eine Sohn, Geierkopf genannt, verweigert sogar vorerst die Annahme des ihm zugelosten Anteils, der andere Sohn, wegen seines Hangs zum Schwadronieren »Jesus Christus« genannt, ein Säufer und Wilderer, benutzt das ihm vererbte Land bloß, um Hypotheken darauf aufzunehmen, die er anschließend versäuft. Nur der Schwiegersohn Delhomme, der die Tochter Fanny geheiratet hat, zahlt tatsächlich pünktlich sein Drittel der vierteljährlich fälligen Rente.

Noch ärger wird es, als Mutter Fouan stirbt und die Kinder den Vater überreden, sein Haus zu verkaufen und bei ihnen zu wohnen: Fanny erweist sich als eine geizige und herrische Tochter, die dem Alten sein Leben vergällt, bei »Jesus Christus« geht es zwar lustiger zu, aber auch der ist nur darauf aus, dem Vater das letzte Geld wegzunehmen, und im Haus von Geierkopf ereignet sich die eigentliche Tragödie des Buches. Nachdem Geierkopf sein Erbteil doch endlich angenommen hat, da es durch den Bau einer Straße deutlich an Wert gewonnen hat, heiratet er seine Kusine Lise, die bereits ein Kind von ihm hat. Beim Ehepaar wohnt bis zu ihrer Volljährigkeit auch die jüngere Schwester Lises, Françoise, in die sich Jean Macquart verliebt hat. Geierkopf versucht Françoise mehrfach zu vergewaltigen, um sie zu einer faktische Ehe zu dritt zu zwingen, von der er sich erhofft, dass der Besitz der beiden Schwestern dann nicht bei Françoises Volljährigkeit oder Heirat geteilt werde.

Doch Françoise wehrt sich erfolgreich gegen alle Übergriffe, ja ihre Schwester und ihr Schwager werden ihr mit der Zeit zunehmend verhasster, so dass sie schließlich in eine Ehe mit Jean einwilligt, nur um sich an den beiden rächen zu können. Sie vertreibt sie nach der Teilung des väterlichen Erbes aus dem elterlichen Haus, in das sie mit Jean einzieht, und als sie schwanger wird, sehen Geierkopf und Lise die letzte Chance dahinschwinden, wieder in den vollen Besitz des Erbes zu kommen. Bei einem heftigen Streit stößt Lise die hochschwangere Françoise in deren am Boden liegende Sense; Lise stirbt wenige Tage später an den Folgen der schweren Verletzung, ohne die Schuld ihrer Schwester verraten zu haben. Vater Fouan aber, der zufällig Zeuge der Tat war, verplappert sich schon bald Jean gegenüber, und da er seinem Sohn schon lange zu Last fällt und der sich endlich auch das restliche Vermögen des Alten aneignen will, bringen Geierkopf und Lise den Mitwisser ihrer Tat in der folgenden Nacht um und verbrennen seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit.

Die ununterbrochene Folge von Habgier, Geilheit und Streit gipfelt bei der Beerdigung des alten Fouan in einem Streit über die Grabstellen des winzigen Friedhofs, der deutlich macht, dass sich dieses Volk auch über den Tod hinaus unversöhnlich in den Haaren liegen wird. Jean, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen verloren hat und sich nur noch als Fremder begreifen kann, lässt all das hinter sich und zieht wieder in den Krieg, aus dem er zehn Jahre zuvor nach Rognes gekommen war:

Die Menschen waren zu schuftig, die Hoffnung, Preußen abzuknallen, verschaffte ihm Erleichterung; und da er keinen Frieden gefunden hatte auf diesem Fleckchen Erde, wo sich die Familien gegenseitig das Blut aussoffen, war es ebensogut, wenn er wieder ins Gemetzel zurückkehrte.

»Die Erde« gehört sicherlich nicht zu den Glanzstücken des Zyklus, obwohl er einer der erfolgreicheren Romane Zolas war. Zwar hatten Kollegen und Kritik zu Anfang verstört auf die weitgehend unverhüllten Darstellungen von Sexualität reagiert (eine der ersten Handlungen der 14-jährigen Françoise ist es, einem Stier bei der Begattung einer Kuh zur Hand zu gehen), doch bereuten die meisten in den späteren Jahren ihre scharfe Kritik an dem Buch. Aber man muss wohl feststellen, dass Zolas Bauernwelt wesentlich nicht über die Abarbeitung bereits bekannter Klischees hinauskommt. Die wirkenden Kräfte sind am Ende nur Habgier und Wollust – zwei Todsünden, weshalb die Bauern denn auch nur ein sehr oberflächliches Christentum ihr eigen nennen dürfen –, die Zola nicht nur als wesenhaft, sondern auch als notwendig für die bäuerliche Existenz begreift. An den wenigen Stellen, an denen wenigstens ansatzweise die Position der Bauern in der industriellen Welt thematisiert wird, geschieht dies in oberflächlich bleibendem Geschwätz einzelner Figuren.

»Die Erde« wirkt wie ein Pflichtstück, ein notwendiger Stein zur Vervollständigung des Mosaiks des Zweiten Kaiserreichs, mit dem Zola aber am Ende nicht wirklich etwas anfangen konnte. Diesen inhaltlichen Schwächen steht allerdings eine ausgewogene und routiniert durchgeführte Erzählform gegenüber, die sich aber, wie bereits angedeutet, grundsätzlich so schon einmal in »Germinal« bewährt hatte; die von der Kritik immer wieder hervorgehobenen Anklänge an Shakespeares »King Lear« sind nur literarhistorischer Flitter auf einem handwerklich gediegenen, alles in allem aber blassen Stück Arbeit. Dieser Eindruck ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass die die Zeitgenossen schockierende, freizügige Darstellung von Fruchtbarkeit und Sexualität für heutige Leser viel von ihrer Wirkung eingebüßt hat.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

Nikolaj Gogol: Der Revisor

[…] eine der größten Komödien: Gogols ›Revisor‹.

Friedrich Dürrenmatt

Cover

»Der Revisor« wird in der Kritik nahezu durchgehend als eine herausragende Komödie bewertet: Ob Kollegen (s. o.), ob Kritiker (etwa der unvermeidliche Marcel Reich-Ranicki), alle machen ihren Diener vor diesem Theaterstück. Das könnte den Zuschauer einer der immer noch zahlreichen Inszenierungen wundern, denn auf den ersten Blick enthält die Komödie wenig wirklich überraschendes und unterscheidet sich nur unwesentlich von der allgemeinen Durchschnittsware:

Die Handlung der Revisors ist ebensowenig der Rede wert wie die der übrigen Bücher Gogols. […] Darüber hinaus ist im Falle des Stücks die Anlage Gemeinbesitz aller Dramatiker: ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen. [Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol, S. 55]

Diese Handlung ist rasch erzählt: In einer russischen Provinzstadt ist die korrupte Exekutive beunruhigt über die mögliche Ankunft eines inkognito reisenden Revisors, dessen Ankunft dem Stadthauptmann durch einen vertraulichen Brief angezeigt wurde. Wie der Zufall es will, wird der sich auf der Durchreise befindliche kleine Beamte Iwan Alexandowitsch Chlestakow, der beim Kartenspiel all sein Geld verloren hat, irrtümlich für den angekündigten Revisor gehalten und daher von den Honoratioren der Stadt entsprechend hofiert. Er nimmt gern alle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder an, verführt die Tochter des Stadthauptmanns und verschwindet gerade noch rechtzeitig, bevor als Paukenschlag am Ende des Stücks die Ankunft des tatsächlichen Revisors angekündigt wird.

Innerhalb dieses Rahmens gibt es das übliche Abhaspeln komischer Situationen: vom anfänglichen Aneinandervorbeireden über die zu erwartenden doppelbödigen Dialoge und Situationen bis zur abschließenden Auflösung des Irrtums. Seine außergewöhnliche Wirkung scheint das Stück aber auf drei Ebenen entfaltet zu haben: auf einer satirischen, einer parodistischen und einer dramaturgischen.

Von der ersten Aufführung an ist das Stück als eine Satire auf die Verhältnisse der russischen Provinz verstanden worden, auch wenn sich sein Autor immer wieder gegen diese Deutung ausgesprochen hat. Angesichts der durchgehend negativen Zeichnung der Honoratioren der Provinzstadt als dumme und korrupte Egoisten ist es kein kleines Wunder, dass das Stück überhaupt aufgeführt werden konnte und nicht der Zensur zum Opfer fiel. Da aber der Zar selbst sein Wohlgefallen an dem Stück bekundete, blieben es und sein Autor unbehelligt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts die menschliche Ebene des Stücks als stärker empfunden wurde als die politische.

Dieser Aspekt hat unmittelbar mit den parodistischen Tendenzen des Stücks zu tun: Gogols ursprüngliches Publikum war vertraut mit der bürgerlich Komödie des frühen 19. Jahrhunderts, für die nicht nur in Deutschland August von Kotzebue einer der herausragenden Vertreter war. »Der Revisor« erinnert sicher nicht zufällig an Kotzebues »Die deutschen Kleinbürger«, denen ein ähnlicher Verwechslungs-Plot zugrunde liegt. In Ermanglung einer Kenntnis dieser Vorlage bzw. Vorlagen geht der parodistische Gehalt des Stücks für die meisten heutigen Zuschauer natürlich verloren.

Bleibt der dramaturgische Gehalt des Stückes, der wohl dafür verantwortlich ist, dass das Stück heute noch von Theaterleuten und Schriftstellern geschätzt wird. Es ist schwer zu beurteilen, ob Gogols Wahl der Struktur des »Revisors« einer Inspiration oder schlicht mangelhafter Kenntnis der Tradition entsprungen ist, aber diese Unterscheidung ist unerheblich für die Position des Stückes in der historischen Entwicklung der Dramaturgie. Traditionell gehorcht die überwiegende Menge aller Dramen einem sehr abstrakten Grundmuster: Betrachtet man das Personal eines Stücks als Repräsentation einer Gesellschaft, so findet sich diese Bühnengesellschaft zu Anfang des Stückes in einem gestörten, disharmonischen Zustand: Zwei Familien, die miteinander seit langem verfeindet sind, eine Bevölkerung, die von einer nicht weichen wollenden Seuche bedroht ist, ein Königshaus, das durch den unerwarteten Tod des Königs und die rasche Wiederheirat der Königinwitwe seine Balance verloren hat etc. Die Handlung des Theaterstücks dient nun dazu, diese Störung wegzuspielen und am Ende einen neuen stabilen, im besten Fall harmonischen Zustand herzustellen.

Im Gegensatz dazu hinterlässt »Der Revisor« die Bühnengesellschaft in genau dem Zustand, in dem er sie zuerst vorgeführt hat: Die korrupten Honoratioren sehen sich unverändert der Bedrohung durch die Prüfung des allmächtigen Revisors ausgesetzt und sind keinen einzigen Schritt weiter und um einige hundert Rubel ärmer als zuvor. »Der Revisor« verweigert sich der Illusion des Fortschritts und der Auflösung der dramatischen Spannung. Gerade aus dieser Verweigerung gewinnt der Schluss der Komödie, auf den Gogol so stolz war, seine Kraft. Diese Struktur ist wegweisend für die Entwicklung des Dramas der Moderne.

Aus dramaturgischer Sicht ist daher Nabokovs oben zitierter Einschätzung zu widersprechen: »ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen«, hätte bedeutet, den echten Revisor bereits in der Mitte des Stückes auftreten zu lassen und die sich daraus entwickelnden Verwerfungen, Verwicklungen und Vertauschungen durchzuspielen, um am Ende alles in einem Happy End aufzulösen, in dem der Betrüger sich als lange verlorener Sohn des Revisors erweist und die verführte Tochter des Stadthauptmanns heiratet, den Dorfrichter auf seiner Position ablöst und die ganze Familie glücklich und korrupt in die Zukunft blickt. Dass Gogol sich dem verweigert, bringt das Stück um viel Klamauk und schenkelklopfendes Gelächter, hat es aber zugleich leuchtend über die oben bereits angeführte Durchschnittsware der Zeit herausgehoben.

Nikolaj Gogol: Der Revisor. Aus dem Russischen von Bodo Zelinsky. RUB 837. Broschur, 188 Seiten. 5,– €.

Émile Zola: Das Werk

Und mit offenem Munde stand er da und hatte Angst vor seinem Werk, zitterte vor diesem jähen Sprung ins Jenseits, verstand gut, daß die eigentliche Wirklichkeit für ihn nicht mehr möglich war, nachdem er so lange gerungen, um sie zu bezwingen und sie mit seinen Manneshänden neu zu formen.

zola_rougonBeim 14. Band der Rougon-Macquart handelt es sich um den Künstlerroman des Zyklus. Im Zentrum steht Claude Lantier, der älteste Sohn der Wäscherin Gervaise Macquart aus »Der Totschläger« und Bruder Etienne Lantiers aus  »Germinal«. Die Handlung setzt im Jahr 1862 ein und beginnt mit der Begegnung Claudes mit Christine, einem jungen, unerfahrenen Mädchen aus der Provinz, die in Paris eine Stelle antreten will, in der fremden Stadt Paris aber beinahe sofort verloren geht. Claude findet sie bei seiner Rückkehr im Eingang des Hauses, in dem er unter dem Dach sein Atelier hat, und nimmt sie mit nach oben, obwohl er den Verdacht hat, dass sie nur eine Prostituierte auf Suche nach einem Kunden ist. Am nächsten Morgen inspiriert ihn die schlafende Schönheit, und er macht eine Skizze für das großformatige Bild Im Freien, an dem er gerade arbeitet und das er zum kommenden Salon einreichen will. Claude gilt als der mutigste, begabteste und hoffnungsvollste der avantgardistischen, jungen Maler von Paris, von dem Kollegen und Kunsthändler eine bedeutende Karriere erwarten.

Aus dieser ersten Begegnung der unerfahrenen Christine und des schüchternen Claude entwickelt sich langsam aber sicher eine Liebesbeziehung, die ihre erste Erfüllung anlässlich der Ausstellung des Salons 1863 findet: Claudes Bild wird zwar von der Jury für den offiziellen Salon abgelehnt, wird aber zusammen mit den anderen abgelehnten Arbeiten im ersten Salon der Refusés gezeigt. Claude muss erleben, dass sein Bild zusammen mit den Werken anderer abgelehnter Künstler vom Publikum öffentlich ausgelacht wird. Er macht zwar gute Mine zum bösen Spiel, als er bei seiner Heimkehr aber die auf ihn wartende Christine antrifft, bricht er weinend zusammen, was zur ersten Liebesnacht der beiden führt.

Da Claude durch eine kleine Erbschaft in Maßen finanziell unabhängig ist, fliehen Christine und er zusammen aufs Land, wo sie eine Zeit gedankenloser und unbeschwerter Liebe durchleben, bis Christine schwanger wird und Claude beginnt, seine Pariser Freunde und das dortige Leben zu vermissen. So kehren beide schließlich nach Paris zurück, wo Claude versucht, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch scheint er seinen künstlerischen Fokus verloren zu haben; erst als er in einem fast visionären Moment den Einfall für ein monumentales Bild der Île de la Cité bekommt, scheint er sich wenigstens für den Augenblick wiederzufinden. Er greift das Kapital seiner Erbschaft an, um sich ein großes, wenn auch ärmliches Atelier einzurichten, und beginnt sein großes Werk.

Doch je länger Claude an diesem das Bild arbeitet, desto klarer wird, dass es seine Kräfte und sein malerisches Vermögen übersteigt. Selbst seinen engen Freunden, allen voran dem Schriftsteller Sandoz, erscheint die Bildkomposition, die im Zentrum des Bildes einen großen weiblichen Akt auf einem Boot zeigt, fragwürdig und befremdend, und Claude selbst ist mit der malerischen Umsetzung seines Einfalls nie zufrieden, sondern überarbeitet immer und immer wieder das bereits geschaffene. Über dieser monomanischen Arbeit geht die Beziehung zu Christine, die Claude sogar noch heiratet und die bis zum Ende zu ihrem Geliebten hält, in die Brüche.

Als der gemeinsame, von Beginn an kränkliche und zurückgebliebene Sohn stirbt, malt Claude zur Bewältigung seiner Trauer ein Bild des toten Kindes auf dem Sterbebett. Mit diesem Bild kommt er durch den Gnadenakt eines früheren Freundes, der inzwischen als Maler mit gefälligeren Versionen der avantgardistischen Motive und Techniken seiner Kollegen großen Erfolg hat, sogar in die Ausstellung des Salons, doch muss er, als er die Ausstellung besucht, feststellen, dass man sein kleines Bild hoch oben in der Nähe der Decke aufgehängt hat, wo es kaum zu sehen ist. Diese zweite Zurückweisung seiner Malerei durch den offiziellen Kunstbetrieb stürzt Claude endgültig in Depression und Verzweiflung. Nach einer letzten leidenschaftlichen Liebesnacht mit Christine, die beinahe gewaltsam versucht, Claude ins Leben zurückzuholen, erhängt sich der Maler vor seinem unvollendeten Werk. Er wird nur von einigen wenigen Menschen begleitet beinahe anonym beigesetzt. Sein Freund Sandoz zerstört das monumentale Fragment des Bildes der Île de la Cité.

Zola hat für »Das Werk« in weit größerem Umfang auf autobiographisches Material zurückgegriffen als bei den früheren Romanen des Zyklus. Insbesondere liefert er in der Figur des Schriftstellers Sandoz ein offensichtliches Selbstporträt. Dies hat dazu geführt, dass »Das Werk« vielfach als ein Schlüsselroman über den Impressionisten Paul Cézanne gelesen und kritisiert wurde. Auch Cézanne selbst scheint den Roman so wahrgenommen zu haben, denn dessen Veröffentlichung hat zum Bruch der Freundschaft zwischen ihm und Zola geführt. Dem steht nicht nur gegenüber, dass das erste große Bild Claudes offensichtlich eine Variation auf Édouard Manets Das Frühstück im Grünen darstellt, sondern auch, dass viele der biographischen Details für Claude Lantier von anderen zeitgenössischen Malern erborgt wurden. Zola kannte aufgrund seiner Freundschaft mit Cézanne zahlreiche Maler des Impressionismus persönlich und hatte sich als Essayist und Journalist intensiv mit der Malerei seiner Zeit auseinandergesetzt.

Der Ansatz als biographischer Schlüsselroman greift daher zu kurz. Das zentrale Thema des Romans scheint vielmehr das Verhältnis von Kunst und Realität überhaupt zu sein. Zola begreift sein eigenes schriftstellerisches Programm als direkte Entsprechung des Programms der Impressionisten: Primäres Ziel der Darstellung ist nicht eine moralische oder allegorische Bedeutung, sondern ein Bild der materiellen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geben, insbesondere jener Aspekte dieser Wirklichkeit, die als der künstlerische Darstellung traditionell nicht würdig bzw. deren Darstellung als dem Publikum nicht zumutbar galten. Dazu passt auch die negative Darstellung der Publikumsreaktion auf diese neue Kunst im Roman, wobei Zola gleichzeitig zugesteht, dass sich sowohl seine Romane als auch einige der avantgardistischen Künstler durchaus eines gewissen Erfolgs erfreuen. Dieser Widerspruch bleibt im Roman ebenso wie in der Wirklichkeit unaufgelöst.

In erster Linie aber überzeugt die zentrale Figur Claude Lantiers nicht. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Zola versucht, in ihm zwei antagonistische Konzepte gleichzeitig zu realisieren: Zum einen soll Claude ein Glied in der degenerativen Entwicklung der Familie Rougon-Macquart bilden, zum anderen soll sein Scheitern paradigmatisch die Krise der modernen Kunst symbolisieren. Sein Charakter bleibt daher in einer Art von Schwebezustand, der letztlich gar keine handfeste Motivation seines Handelns ergibt: Claude scheitert irgendwie an sich selbst, aus seinem Inneren heraus, ohne dass der Leser den Grund dieses Scheiterns tatsächlich aus der Gestaltung der Figur heraus begreifen kann. Daher ist auch sein Selbstmord, so sehr er auch für den Autor als einziges mögliches Ende erscheinen mag, unzureichend motiviert; ebenso gut hätte er auch aus einer Magenverstimmung heraus erklärt werden können wie aus dem Charakter Claudes. Was bleibt, ist die exakte und stimmige Beschreibung des Kunstbetriebs im Paris des Zweiten Kaiserreichs, die aber eben nur den Hintergrund für einen nicht ganz gelungenen Künstlerroman bildet.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.