Hans Herbert Grimm: Schlump

Da auf einmal kam ihn ein menschliches Rühren an. Es drängte ihn gewaltig dorthin, wo der Kaiser auch selber hingehen muß.

grimm_schlumpDiese „Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«“ sind 1928 zum ersten Mal erschienen und im Jubiläumsjahr des Beginns des 1. Weltkriegs mit einem überaus freundlichen Nachwort von Volker Weidermann, dessen „Buch der verbrannten Bücher“ sich diese Wiederentdeckung verdankt, neu gedruckt worden. Das Groß­fö­je­tong hat mehrheitlich positiv auf das Buch reagiert, wahr­schein­lich weil die Herren Rezensenten – wie ich mir zu vermuten erlaube – nicht das Buch, sondern nur das Nachwort gelesen haben.

Das Buch ist ziemlich schrecklich: Sein Stil ist der Hauptsatz, sein Humor der Herrenwitz und seine soziale Kompetenz beschränkt sich auf Mutterliebe und geschlechtlichen Verkehr. Kritik am Krieg übt es sicherlich auch noch, aber nicht mehr als man bequem in jedem anderen Anti-Kriegsroman der Zeit findet – und in denen nicht nur besser geschrieben, sondern eben auch mit einem belehrten sozialen und/oder politischen Hintergrund. „Schlump“ kommt über die Einsicht, dass Krieg eben eine üble Angelegenheit ist, bei der Menschen zu Tode kommen, kaum hinaus.

So bleibt nur eine literarhistorische Lektüre nach dem Motto: „Es ist schon interessant, was früher so alles gedruckt worden ist.“ Darüber hinaus hat das Büchlein denjenigen, die sich in der bel­le­tris­ti­schen Literatur zum Ersten Weltkrieg etwas auskennen, kaum etwas zu bieten.

Hans Herbert Grimm: Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«. Von ihm selbst erzählt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014. Pappband, Lesebändchen, 348 Seiten. 19,99 €.

Gordon und Tapir

Meschenmoser-GordonSebastian Meschenmoser, der die ganz wundervollen Herr-Eichhorn-Bücher geschrieben und gezeichnet hat, erzählt in „Gordon und Tapir“ die Geschichte vom Pinguin Gordon, der zusammen mit Tapir in einer Wohngemeinschaft lebt. Allerdings sind die beiden nicht sehr zufrieden miteinander: So wie Gordon übertrieben ordentlich ist, ist Tapir ein Chaot und Schlamper; außerdem blockiert Tapirs Freundin, ein Flußpferd, jeden Tag stundenlang die Badewanne. So sucht sich Gordon schließlich eine eigene  Wohnung nur ein paar Straßen weiter, in der er endlich so ordentlich sein kann, wie er will. Der Freundschaft der beiden tut das keinen Abbruch, sondern im Gegenteil leben beiden fröhlich weiter und feiern wilde Partys in Tapirs Reich.

Dem Buch fehlt ein wenig der Zauber der Herr-Eichhorn-Reihe, nichtsdestoweniger ist es ein nettes Buch zum Selbstlesen und Verschenken. Schachspieler erfahren zudem, dass sich Pinguine nicht an die Fide-Regeln halten; zumindest bauen sie das Brett falsch herum auf.

Sebastian Meschenmoser: Gordon und Tapir. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag, 2014. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 54 unpaginierte Seiten. 14,99 €.

Johannes Willms: Tugend und Terror

„Ich folgere daraus also, wer immer in diesem Moment zittert, bekennt sich schuldig, denn niemals fürchtet die wahre Un­schuld die Überwachung seitens der Öf­fent­lich­keit.“
Robespierre

Willms-RevolutionEs ist für jedermann ein gewagtes Unternehmen, eine Geschichte der Französischen Revolution zu schrei­ben. Ich wage die unbelegte Behauptung, dass über  kein Ereignis der Jahre zwischen 1500 und 1900 mehr geschrieben worden ist, als über diesen ein­zig­ar­ti­gen Wendepunkt zur modernen Welt. Nicht nur markiert die Französische Revolution den Anfang vom Ende der Adels- und Königsherrschaft in Europa, ebenso ist sie der Auftakt des grandiosen Aufstiegs des europäischen und in der Folge des Welt-Bürgertums in seiner Mission zur Vernichtung der Menschheit. Unzählige der Segnungen und Flüche der Moderne neh­men in dieser Zeit ihren Ausgang und bis heute wird die Welt von den ideologischen Wellen und Gegenwellen der Revolution von 1789 in Bewegung gehalten.

Nach seiner großen Napoleon-Biographie und der über dessen Neffen Napoleon III erscheint es nur konsequent, dass sich Johannes Willms nun mit jenen Bedingungen beschäftigt, die die Rolle Napoleons auf der europäischen Bühne erst ermöglicht haben. Dabei erweist sich Willms einmal mehr als ein Meister der Quellenauswertung. Das Rückgrat seiner Darstellung bildet ein chronologischer Bericht der Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung bzw. des -konvents, die sowohl durch die jeweiligen äußeren Einflüsse auf die Akteure als auch durch deren Intentionen verständlich gemacht werden. Dabei ist es Willms hoch anzurechnen, dass er nicht, wie das populäre historische Schriftsteller gern tun, auf die sogenannte Psy­cho­lo­gie der Handelnden ausweicht, sondern immer die konkreten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände benennt, unter denen eine Entscheidung der Legislative oder Exekutive ge­trof­fen und durchgesetzt worden ist. Soweit ich sehe, macht er einzig für den Protagonisten Robespierre eine Ausnahme, bei dem sich Willms ohne längere Erörterung der weit verbreiteten, wenn auch nicht unumstrittenen These anschließt, es habe sich um einen Paranoiker gehandelt. Da es im Falle Robespierres aber unbestreitbar so war, dass es Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gab, die ihm – mit mehr oder weniger guten Gründen – nach dem Leben trachteten, bleibt eine solche historische Ferndiagnose immer etwas windig. Das ist aber auch schon das einzige wirkliche Desiderat, dass ich als historischer Laie in Willms Darstellung habe finden können.

Will man unbedingt Kritikpunkte benennen, so ließe sich anmerken, dass Willms aufgrund seiner Konzentration auf die Legislative zahlreiche Aspekte der Revolution nur am Rande behandelt: So bleibt die Außen- und Eroberungspolitik der Revolutionsregierung für lange Zeit eher vage, bis Willms dies in einem späten Kapitel etwas gedrängt nachholt. Auch die kulturelle Umgestaltung der französischen Ge­sell­schaft, die antichristlichen und atheistischen Tendenzen eines Teils der Revolutionäre, die untrennbar verbunden sind mit einer ersten Hoch­zeit der empirischen Forschung und der spekulativen Anthropologie, werden nur gestreift. Doch muss man Willms zugestehen, dass er keinen wichtigen Aspekt auslässt und dass seine kurzen, präzisen Exkurse immer den Kern der Sache treffen. Insoweit ist Willms Historie innerhalb der von ihm selbst bestimmten Grenzen untadelig. Und, was mehr ist, sie ist exzellent geschrieben.

Eine historisch zugleich exakte und – trotz der benötigten fast 750 Seiten – konzise Geschichte der Revolution, die als Gesamtdarstellung ihresgleichen sucht, nicht für den historischen Fachmann, aber für den historisch Interessierten geschrieben. Jeder, der sich einen soliden Überblick über den politischen Verlauf der Revolution verschaffen will, wird in der nächsten Dekade und darüber hinaus zu diesem Buch greifen.

Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München: C. H. Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 831 Seiten. 29,95 €.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs

Solche Verkettungen, aus mehreren Zufällen geboren, erscheinen dem Menschen leicht als Fügungen, ver­an­stal­tet von einem zielvollen Wissen.

Zweig-EinsetzungMit diesem in der Chronologie der Handlung sechsten und letzten Band von Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ (erschienen 1937, als Zweig bereits in Palästina im Exil war) habe ich mich ähnlich schwer getan wie mit dem nachträglich in die Handlung eingeschobenen Band „Die Feuerpause“. Auch diesmal gelingt es Zweig nicht, eine wirklich überzeugende Handlung zu konstruieren, die seine beabsichtigte Intention trägt. So dreht sich die erste Hälfte des Romans immer wieder um die Auseinandersetzung, welcher der deutschen Anwärter auf den litauischen Königsthron gehievt werden soll, ohne dass dabei irgendeine Art von Fortschritt in der historischen Entwicklung oder der Einsicht des Lesers in den Prozess erzielt wird.

Im Zentrum des Romans steht diesmal Hauptmann Paul Winfried, der bereits in „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ eine führende Rolle gespielt hatte. Er ist inzwischen nicht mehr Adjutant seines Onkels, des Genrals von Lychow, der nun in der Ukraine stationiert ist und dort für Ordnung sorgen soll, sondern fungiert in der Mi­li­tär­ver­wal­tung Ober-Ost in Wilna als dessen Verbindungsoffizier. Der Leser bekommt Winfried zuerst als eingermaßen angepassten, etwas naiven Offizier vorgeführt, der rasch in die Nähe und das Vertrauen des obersten Befehlshabers an der Ostfront General Clauss gerät. Al­ler­dings wandelt sich Winfried in der Königsfrage unter dem Einfluss seiner Freundin Bärbe und deren Familie von Saulus zum Paulus und gerät so in Opposition zum allmächtigen General, der ihn diesen Fehltritt mit einem etwas groben Soldatenscherz (Verhaftung als Spion und einige Tage Zwangsarbeit) vergelten lässt. Da unglücklicherweise zur selben Zeit auch Winfrieds Onkel in der Ukraine einem Attentat zum Opfer fällt und der Autor zudem auch noch Winfrieds schwangere Freundin Bärbe an der Grippe sterben lässt, darf unser Held am Ende des Romans als einsichtiger und geläuterter Phoenix aus der Asche dieses Elends emporsteigen.

Das alles ist sehr konstruiert und daher auch trivial. Die his­to­ri­schen Ereignisse bleiben an und für sich bedeutungslos und dienen Zweig nur als Hintergrund für die Wandlung seines Protagonisten. Zwar gelingen hier und da einige wenige Seiten, etwa die auf denen das Elend der litauischen Juden unter der deutschen Besatzung knapp und bewegend geschildert wird, aber alles in allem dümpelt das Buch in weiten Teilen vor sich hin, auf jeder neuen Seite in wieder einem Gespräch das altbekannte Stroh noch einmal dreschend, vor­an­ge­trie­ben allein vom seitenschindenen Willen seines Autor.

Es ist ein wenig schade, dass der Zyklus mit seinen beiden letzten Bänden so deutlich abfällt, wobei „Einsetzung eines Königs“ noch der bessere von beiden ist. Auch muss man wohl dem allgemeinen Urteil beitreten, dass der zuerst entstandene „Streit um den Sergeanten Grischa“  zugleich auch schon den Höhepunkt des ge­sam­ten Zyklus darstellt. Zweig ist es besonders mit den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Bänden nicht gelungen, den Zyklus noch einmal zu beleben.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs. Berlin: Aufbau-Verlag, 2004. Kindle-Edition. 596 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

Heiko Postma: Ein Großklassiker a. D.?

Postma-HauptmannGerhart Hauptmann ist ein komplizierter Fall der deutschen Literaturgeschichte: Hatte er als No­bel­preis­trä­ger in der Weimarer Republik ohne Zweifel den Status eines der bedeutendsten Vertreter der deutschsprachigen Literatur (er war sogar zeitweise als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten im Gespräch), so verführten ihn Eitelkeit und Über­heb­lich­keit dazu, sich mit den Vertretern des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes einzulassen, ein Verhältnis, in dem wahrscheinlich auf beiden Seiten die Überzeugung herrschte, man nutze den jeweils anderen zum eigenen Vorteil aus. Nach dem Krieg ist es Hauptmann durch seinen Tod erspart geblieben, vom nächsten Regime instrumentalisiert zu werden; doch auch eine echte bürgerliche Re­ha­bi­li­tie­rung un­ter­blieb auf diese Weise. So besteht wohl auch heute noch bei den ohnehin nicht so zahlreichen Lesern, die sich über eine reine Schullektüre hinaus mit Hauptmann einlassen, ein im besten Fall zwie­späl­ti­ges Verhältnis zu diesem Autor.

Auch im Buchhandel spiegelt sich das eher komplizierte Verhältnis der Leser zu Hauptmann wieder: Einerseits ist die letzte umfangreiche Werkausgabe, die Centenar-Ausgabe von 1962 in elf Bänden, prob­lem­los greifbar, andererseits sind als Einzelausgaben nur die klassischen Schullektüren und die wenigen noch gespielten Dramen lieferbar. Vor zwei Jahren ist dann zu Hauptmanns 150-jährigem Geburtstag noch einmal pflichtschuldigst eine Biographie von Peter Sprengel er­schie­nen, doch kann man sich des Eindrucks eines langen Abgesangs nur schlecht erwehren.

Auch der lange Essay von Heiko Postma – nur eines in einer ganzen Reihe von literaturhistorischen Büchlein, die von dem Hannoveraner Autor im JMB Verlag erschienen sind – steht, wie sich bereits am Titel ablesen lässt, im Zeichen dieses eher ambivalenten Verhältnisses. Postma liefert nur eine rudimentäre Bio­gra­phie, ohne dabei allerdings Hauptmanns Eitelkeit, seinen Versuch, sich zum Nachfolger Goethes im 20. Jahrhundert zu stilisieren, seine Verwicklung mit dem Regime des Dritten Reichs etc. zu verschweigen. Doch die Hauptmasse des Textes bilden Werkbesprechungen und län­ge­re Zitate, besonders aus den Dramen und den heute fast durchweg unbekannten Versepen Hauptmanns. Von den Romanen bespricht Postma nur „Atlantis“ ein wenig ausführlicher, und die Erzählungen, unter denen sich ganz erstaunliche epigonale Perlen finden lassen, werden nur an einer einzigen Stelle en passant erwähnt. Zum Ausgleich glänzt Postma etwa mit einer ausführlichen Darstellung des Hauptmannschen Atriden-Zyklus, der als Ergänzung und Aufhebung der Goetheschen „Iphigenie auf Tauris“ konzipiert wurde und von dem Postma sicherlich zu Recht feststellt, dass er eine Präsenz auf den deutschen Bühnen verdient hätte.

Ansonsten wäre dem Bändchen eine etwas zurückhaltendere Ty­po­gra­phie ganz gut bekommen, aber das ist auch schon der einzige Kri­tik­punkt, den ich habe finden können. Für eine erste Einführung ist das Buch nicht umfassend genug, doch für alle, die sich für Hauptmann doch einmal über den „Bahnwärter Thiel“ hinaus interessieren wollen, liefert es eine spannende und originelle Auswahl von Lek­tü­re­an­re­gun­gen, die einem Zugänge zur umfangreichen Centenar-Ausgabe eröffnen können.

Heiko Postma: Ein Großklassiker a. D.? Über den Dramatiker, Erzähler und Vers-Epiker Gerhart Hauptmann (1862 – 1946). Hannover: JMB, 2009. Broschur, 66 Seiten. 9,80 €.

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

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Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

Arnold Zweig: Die Feuerpause

Er überflog die folgende Seite, mußte aber gähnen und dachte: Genug;

Zweig-Der-grosse-KriegDer sowohl in der Chronologie der Handlung als auch der Entstehung fünfte Roman des Zyklus  „Der große Krieg der weißen Männer“ erschien 1954 als erste Nachkriegs-Fortsetzung der Reihe. Es handelt sich um den ent­täu­schend­sten Teil des Zyklus, insbesondere deshalb, weil Zweig hier versucht, den Vorläufer „Erziehung vor Verdun“ umzuschreiben und ideologisch aufzuwerten.

Erzählt wird von wenigen Tagen Ende November, Anfang Dezember 1917 in Merwinsk, jenem kleinen Örtchen, das der Leser schon aus „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ kennen könnte. Handlung in einem wesentlichen Sinn gibt es nicht, sondern es wird vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk eine eher lockere Folge von Ereignissen und Gesprächen unter jenem Leuten geschildert, die auch schon im „Grischa“ eine bedeutende Rolle spielten. Dabei steht im Mittelpunkt ein ausführlicher Bericht des Schreibers Bertin von seinen Erlebnissen an der Westfront, die – wie schon gesagt – bereits den Stoff der „Erziehung vor Verdun“ gebildet hatten. Allerdings verändert Bertin dabei die Kernhandlung um den Tod des Unteroffiziers Christoph Kroysing: Der ältere Bruder Kroysings kommt nun überhaupt nicht mehr vor, sondern Bertin stilisiert sich selbst zum potentiellen Helden der Geschichte, der dafür sorgt, dass Kroysing wenigstens nachträglich juristische Gerechtigkeit widerfährt. Könnte man dies noch als zwar geschmacklose, aber dennoch verständliche Verirrung des Schriftstellers Bertin durchgehen lassen, so ist es mehr als unwahrscheinlich, dass es für diese neue Fassung der Ereignisse keinen Widerspruch aus dem Kreis der Zuhörer gibt, denn wenigstens der Kriegsgerichtsrat Posnanski weiß um die Geschehnisse im Fall Kroysing, ist er es doch gewesen, der Bertin als potentiellen Zeugen zu sichern gesucht hat, indem er ihn als Schreiber anforderte.

Zu dem alten Material kommen eine große Menge anekdotischer Erzählungen hinzu, die alle mehr oder weniger darauf aus sind, Bertins kritische Einstellung zu Krieg und gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland zu beleuchten. Auch hier wäre eine nachträgliche Selbststilisierung der Figur eine mögliche Interpretation, grundsätzlich ist aber einzuwenden, dass Zweig mit dieser rückwirkenden sozialistischen Heiligsprechung Bertins den Entwicklungscharakter seines früheren Romans, der ja bereits in dessen Titel seinen Ausdruck findet, schwer konterkariert.

Ich bin nun kein Zweig-Fachmann und kenne daher die Gründe nicht, die zu diesem Überschreiben des früheren Textes geführt haben. Es ist durchaus möglich, dass Zweig mit „Die Feuerpause“ versuchen musste, den Zyklus als ganzen zu retten, indem er ihn im ideologischen Sinne an die Forderungen der DDR, in der Zweig inzwischen lebte, anpasste. Es mag auch sein, dass er inzwischen davon überzeugt war, dass das früher verwendete Konzept des Bildungsromans zu bürgerlich gewesen war und der Stoff und die Figur einer ideologischen Zuspitzung bedurften. Was auch immer diesen Palimpsest der „Erziehung vor Verdun“ verursacht hat, er ist ein Fremdkörper innerhalb des Zyklus und weder inhaltlich noch formal überzeugend.

Arnold Zweig: Die Feuerpause. Berlin: Aufbau-Verlag, 41961. Leinen, Fadenheftung, 440 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa

„Ach Sch…“ Er sprach, sich bückend, das Wort nicht zu Ende; der Kamerad verstand ihn ohnehin. Es war das populärste Wort des ganzen Krieges.

Zweig-GrischaMit diesem 1927 erschienenen (auf 1928 vordatierten) Roman legte Arnold Zweig den Grundstein seines Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der damals erst nur eine „Trilogie des Übergangs“ werden sollte. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ sollte vermeintlich das Mittelstück werden und an einem Einzelschicksal jene Wandlung sichtbar werden lassen, die Zweig durch den Ersten Weltkrieg in Deutschland hervorgerufen sah. Ob er die von ihm erzählte Geschichte, der angeblich eine wahre Begebenheit zugrunde liegen sollte, nicht überfrachtet, bleibt zu erörtern.

Erzählt wird das Schicksal des russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin, der um den Frühlingsanfang des Jahres 1917 herum in einem Güterzug versteckt aus einem in Polen befindlichen deutschen Gefangenenlager nach Osten flieht. Als er den Zug verlässt, findet er sich in Litauen wieder, wo er nach einigen Tagen, die er sich in den Wäldern durchschlägt, von einer kleinen Gruppe von Widerständlern gegen die deutschen Besatzer aufgelesen und beherbergt wird. Rasch entspinnt sich ein Liebesverhältnis zwischen Grischa und Babka, der Anführerin der Gruppe, was Grischa aber nicht von seinem Plan abbringt, nach Russland zu Frau und Kind zurückzukehren. Als er nach einigen Wochen seine Flucht fortsetzt, rät ihm Babka, sich im Falle der Gefangennahme als der Versprengte Ilja Bjuschew auszugeben, der in der Obhut der Gruppe verstorben war. Grischa fürchtet sonst, in dem Fall einer erneuten Gefangenschaft als Geflohener zu einer längeren Haft verurteilt zu werden und  so seine Chance einzubüßen, bei Kriegende mit den anderen Kriegsgefangenen ausgetauscht zu werden.

Leider erweist sich gerade diese Finte als tragischer Fehler: Als Grischa nämlich von den Deutschen in der Nähe des kleinen Ortes Merwinsk aufgegriffen wird, beharrt er auf seiner Geschichte, der Versprengte Bjuschew zu sein, der bereits wochenlang versuche, in die russischen Linien zurückzukehren. Zum Verhängnis wird Grischa eine neue Weisung der militärischen Führung, die zum Zweck der Aufrechterhaltung der Disziplin angeordnet hat, alle sich nicht sogleich in deutsche Gefangenschaft begebenden russischen Versprengten und Deserteure als Spione zum Tode zu verurteilen. Als Grischa das Todesurteil des Bjuschew verlesen wird, besinnt er sich seiner wahren Identität und erzählt die Geschichte seiner Flucht.

Es scheint nun vorerst einmal alles seinen rechtmäßigen Gang zu gehen: Der Schreiber Bertin, inzwischen Gehilfe des Kriegsgerichtsrats Posnanski, macht das Lager ausfindig, aus dem Grischa geflohen ist. Das Lager entsendet zwei Soldaten, um Grischa zu identifizieren, was denn auch unter großem Hallo des gegenseitigen Wiedererkennens geschieht, und anschließend gibt die Division in Merwinsk die Akten an das Hauptquartier des  Oberbefehlshabers Ost, Generalmajor Schieffenzahn, damit dort festgestellt werde, welches Militärgericht für den Gefangenen Paprotkin denn nun zuständig sei. Leider erfährt dort der Generalmajor zufällig selbst von der Sache und beschließt, sie als einen politischen Fall zu behandeln. Er lässt also seinen Juristen die Akten nach Merwinsk zurückgeben mit dem Vermerk, dass das Todesurteil des Bjuschew an Grischa zu vollstrecken und ihm der Vollzug zu melden sei.

Mit diesem Befehl des Oberbefehlshabers kommt die Kommandantur in Merwinsk mit ins Spiel, die nun für die Exekution Grischas zuständig geworden ist. Dem der Kommandantur vorstehende Rittmeister von Brettschneider sind sowohl der rechtliche Standpunkt des Kriegsgerichtsrates als auch die Identität des Gefangenen Paprotkin gänzlich gleichgültig. Er wittert nur eine Gelegenheit dem Divisionschef von Lychow eine Niederlage beibringen und sich gleichzeitig beim Generalmajor lieb Kind machen zu können. Dagegen versuchen General von Lychow, sein Adjutant und Neffe Oberleutnant Winfried, Kriegsgerichtsrat Posnanski und Schreiber Bertin – zudem unterstützt von zwei Krankenschwestern, die als Liebesobjekte in Kriegsgeschichten offenbar unumgänglich sind – die Ausführung des Hinrichtungsbefehls zu verzögern, bis der General Gelegenheit hat, mit dem Generalmajor persönlich den eigentlich nichtigen Fall zu erörtern.

Doch kurz bevor es zu diesem persönlichen Treffen kommt, ordnet Schieffenzahn die Vollstreckung des Todesurteils nochmals an mit dem Zusatz, dass er binnen 24 Stunden den Vollzug gemeldet haben möchte. Das Gespräch zwischen Schieffenzahn und von Lychow endet zwar kläglich für den Letzteren, aber in einem Anflug von Mitleid mit dem alten Preußen ist Schieffenzahn anschließend für einen Moment geneigt nachzugeben. Doch leider bricht gerade in diesem Augenblick durch einen geschickt erfundenen Schneesturm die Telefonverbindung nach Merwinsk zusammen.

In Merwinsk werden noch verzweifelte Pläne geschmiedet, Grischa zu retten: Sowohl die inzwischen nach Merwinsk gekommene Babka, die von Grischa schwanger ist, als auch die Gruppe um Oberleutnant Winfried versuchen Grischa vor dem Tode zu bewahren, doch scheitern schließlich beide am Widerstand Grischas. Ihm ist es genug, er will nicht durch eine weitere Episode von Hoffnung, Gefangenschaft oder Flucht und Verstecken, sondern will nur noch seine Ruhe haben, die er am ehesten im Grab zu finden hofft. Die minutiöse und eindringliche Beschreibung des letzten Tages Grischas mit Ausheben des eigenen Grabs, Rasieren, Henkersmahlzeit, Aufsetzen des Testaments, Marsch zur Hinrichtungsstätte und Exekution gehört mit Sicherheit zum Bewegendsten und Beeindruckendsten im Werk Arnold Zweigs. Allein für diese Passage lohnt sich die Lektüre des Romans. Darüber hinaus glänzt dieses Auftaktstück des Zyklus mit der im Vergleich sachlichsten und angemessensten Sprache und überzeugt insgesamt auch durch seine durchweg ökonomische erzählerische Konstruktion.

Fraglich aber scheint mir, wie oben schon angedeutet, ob Zweigs Intention, an diesem Einzelfall exemplarisch den Wertewandel zwischen der deutschen Vor- und Nachkriegsgesellschaft festmachen zu wollen, zu überzeugen vermag. Zweig reduziert damit die hochkomplexe Wandlung der europäischen Gesellschaft in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. dem Verhältnis von Recht und Unrecht im Staate. Zwar scheint eine Passage wie diese nahezu prophetisch:

»Tja«, räusperte sich Posnanski endlich, »wie sagten Sie, Deutschland? Was will das heißen, mein Lieber? Wer hochsteigt und ein gemischtes Wesen ist, trampelt auf seiner Seele herum und sinkt also innerlich. Deutschland an Macht geht auf wie ein Napfkuchen, Deutschland als Sittlichkeit schrumpft ein zur Fadendünne. Wen wundert das? So geht es den Staaten. Und es macht auch nicht viel Erst wenn der Faden risse, wenn Rechtlosigkeit als Zustand allgemeine Billigung und ein Siegerbehagen fände, sähe es etwas schlimmer aus.

Doch hieße es, dies Zitat überzustrapazieren, wollte man Zweig hier bereits das Verbrecherregime der Nationalsozialisten vorausahnen lassen. Vielmehr setzt Posnanski optimistisch fort:

Aber da werden immer Leute sein, die ihre Hand zwischenlegen. So kleine Klicken wie wir hier; und wenn sie sich Mühe geben, können sie den ganzen dicken Kloß soweit als lebensnötig wieder durchsäuern. Und wenn nicht — Deutschland ist nicht unentbehrlich, und wenn es jetzt eine Zeitlang abträte, hätte es sich mit diesem Johann Sebastian [Bach] allein schon ein ehrendes Gedenken gesichert.

Zweig selbst lässt denn auch wiederholt keinen Zweifel daran, dass sich die Geschichte des Sergeanten Grischa vollständig ausreichend daraus erklärt, dass im Krieg die Rechte des Individuums und noch dazu eines feindlichen Individuums nur ein bedingt schützenswertes Gut sind. Wo Tod und Zufall die lebensbeherrschenden Prinzipien werden, wird Gerechtigkeit noch mehr zum Glücksfall als ohnehin. Man könnte also den Verdacht hegen, dass „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ entgegen der Absicht des Autors nur eine Illustration mehr der altrömischen Einsicht „silent enim leges inter arma“ darstellt. Als solche ist sie allerdings durch und durch gelungen.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Berlin: Aufbau-Verlag, 2006. Kindle-Edition. 481 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

P.S.: Da ich in der Zeit der Lektüre viel unterwegs war, habe ich aus Gründen der Bequemlichkeit diesmal auf die Kindle-Edition des Romans im Aufbau-Verlag zurückgegriffen. Ich habe mir aber nicht die Mühe gemacht, diese Ausgabe, die auf den Text der Erstausgabe zurückgreift, systematisch mit meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1980 zu vergleichen und kann daher auch keine Auskunft geben, inwieweit die ältere Ausgabe zensiert bzw. verändert wurde. Wo ich zufällig einmal Anlass hatte, die beiden Texte miteinander zu vergleichen, habe ich keine Abweichung entdecken können.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen!

Rathjen-Arno-Schmidt-lesenArno Schmidt ist für viele Leser wohl weniger ein deutscher Autor des 20. Jahrhunderts als vielmehr ein Schreckgespenst von Schwierigkeit und Unzugänglichkeit. Die Gerüchte, die über ihn umgehen, sind zwar nicht vollständig unbegründet, aber sie zeichnen doch ein sehr übertriebenes Bild dieses Autors und seines Werks. Ich zitiere nicht gern Günter Grass, aber wenn er in seiner Laudatio auf Arno Schmidt von 1964 feststellte, man könne „ihn in der Küche schmökern wie Gullivers Reisen“, so trifft das eine wichtige Eigenschaft der Bücher Schmidts: Schmidt zu lesen macht Spaß.

Natürlich ist es so, dass es Aspekte seiner Bücher gibt, die sich erst einer sehr gründlichen und wahrscheinlich wiederholten Lektüre eröffnen. Auch kann es sein, dass sich eher bequeme oder wenig flexible Leser vom äußeren Erscheinungsbild der Texte abgestoßen fühlen. Doch all das kann man erst einmal getrost beiseite lassen: Weder muss man Schmidts Texte auf Anhieb vollständig verstehen (es gibt Seiten im Werk, von denen ich vermute, dass sie bis heute noch niemand auf der Welt wirklich verstanden hat), noch muss man begreifen, warum der Autor Wert darauf gelegt hat, seine Texte in einer etwas seltsamen äußeren Erscheinungsform drucken zu lassen. Zu allererst kann und soll man Arno Schmidt einfach nur lesen.

In den meisten Fällen stößt der Leser dann auf eine recht konventionelle Liebesgeschichte, die in einer merkwürdigen Mischung aus innerlicher Zart- und äußerlicher Grobheit erzählt wird. Besonders in seinen frühen Veröffentlichungen liefert Schmidt zugleich ein sehr reiches Zeitbild, das von den 30er bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht. Hier und da entdeckt man vielleicht auch einen Zukunftsroman (Schmidt schrieb eher Utopien, weniger Science Fiction), der Schmidts ganz eigene und immer originelle Sicht auf seine Lebenswelt widerspiegelt. Immer aber wird man einen Autor von ungewöhnlichem Humor finden. Ob man sich schließlich an das Spätwerk Schmidts machen wird, hängt sicherlich von ganz vielen Umständen ab, auch davon, wieviel Zeit man bereit ist, in diesen durch und durch originären Autor zu investieren.

Wer aber meint, nach einer ersten Bekanntschaft mit Arno Schmidts Büchern doch von dem einen oder anderen Hinweis eines Kenners profitieren zu können, hat derzeit nicht so sehr viele Möglichkeiten, sich über den Autor allgemein und gut lesbar zu informieren. Meine eigene Einführung in das erzählerische Werk ist inzwischen mehr als 10 Jahre alt und nicht mehr im Druck, die Rowohlt-Biographie von Wolfgang Martynkewicz ist auch seit langem vergriffen und wird bis auf weiteres wohl nicht ersetzt werden, und andere aktuelle biographische Veröffentlichungen – wie etwa Joachim Kerstens „Arno Schmidt in Hamburg“ – konzentrieren sich nur auf Teilaspekte der Biographie.

Nun legt mit Friedhelm Rathjen einer der besten Arno-Schmidt-Kenner einen ebenso kurzen wie umfassenden „Wegweiser“ zu Arno Schmidt vor. Der knapp 170 Seiten umfassende Band enthält eine Darstellung des kompletten Werks Arno Schmidts einschließlich der Nachlass-Veröffentlichungen; sogar die bis dato veröffentlichten Bände der Briefwechsel werden besprochen. Grundlage des Bandes sind zum einen lexikalische Einträge, die für den Reclam Verlag verfasst wurden, zum zweiten überarbeitete und erweiterte Zeitungsrezensionen und zum letzten Artikel, die eigens für diesen Band verfasst wurden. Zahlreiche der kurzen Artikel sind ergänzt um ein ausführliches Verzeichnis von Sekundärliteratur, wobei sich auch hier Rathjens Kennerschaft zeigt: Es handelt sich durchaus nicht um eine unkritische Ansammlung der existierenden Forschung, sondern um eine mit Bedacht vorgenommene kritische Auswahl.

Und so ist Rathejns Buch für jeden Leser Arno Schmidts geeignet: Schmidt-Einsteiger finden anhand der knappen und präzisen Artikel rasch Orientierung zu Einzeltexten oder dem Gesamtwerk; wer sich schon „am Haken“ findet, kann sich einen umfassenden Überblick verschaffen; der Kenner schließlich findet konzise und zuverlässige Bibliographien, die das Auf- und Wiederfinden bestimmter Sekundärtexte ermöglichen bzw. erleichtern.

Für jeden an Schmidt Interessierten rundum zu empfehlen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2014. Bedruckte Broschur, 168 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun

„Mensch“, schrie Kroysing wiederum, und seine Augen glänzten im Lichte des dritten Glases Kognak, „wissen Sie immer noch nicht, daß alles Schwindel ist, Schwindel wie bei denen drüben? Wir bluffen, und die bluffen, und bloß die Toten blufffen nicht und sind die einzig Anständigen bei dem Theater …“

Zweig-Der-grosse-KriegDieser 1935 erstmals erschienene Roman umfasst zusammen mit „Junge Frau von 1914“ (1931) den Stoff zum ersten Teil der zuerst geplanten Trilogie, in deren Zentrum „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927) stehen sollte. Während sich der Vorgänger, worauf der Titel schon hinweist, hauptsächlich auf Lenore Wahl konzentriert, dreht sich diese Erzählung ausschließlich um Werner Bertin. Die Handlung schließt ohne größere Lücke an die von „Junge Frau von 1914“ an, an dessen Ende sich der frisch mit Lenore verheiratete Werner zurück zu seiner Einheit nach Verdun aufgemacht hatte. Mitte Juli 1916, während die Schlacht um Verdun in vollem Gange ist, leistet er hier Dienst als sogenannter Schipper, also als nicht an der Waffe ausgebildeter Armierungssoldat.

Das Rückgrat der Handlung bildet eine miltärische Affäre um den Tod des jungen Unteroffiziers Christoph Kroysing, der sich bei seinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht hat, weil er Unterschlagungen beim Proviant seiner Einheit angezeigt hatte. Er wird daher von diesen Vorgesetzten auf den gefährlichsten Vorposten seiner Einheit beordert in der Hoffnung, eine französische Granate möge das Problem lösen, bevor es zu einem Militärprozess kommen kann, in dem Kroysings Aussage zu ernsten Schwierigkeiten führen würde. Werner Bertin lernt Christoph Kroysing eines Tages zufällig kennen und zwischen den beiden Männern stellt sich sofort ein Verhältnis der Sympathie und des Vertrauens her. Kroysing, dessen Post scharf überwacht wird, fragt Bertin, ob er bereit sei, einen Brief für ihn zu besorgen, in dem er einen einflussreichen Verwandten bitten möchte, den ausstehenden Prozess zu beschleunigen. Werner sagt dies gern zu, doch als er zwei Tage später den Unteroffizier erneut aufsuchen will, ist geschehen, was dessen Vorgesetzte erhofft hatten: Eine französischen Granate ist in seiner Nähe eingeschlagen, und bevor Bertin ihn noch im Lazarett besuchen kann, ist Kroysing verstorben.

Auf der Beerdigung lernt Bertin den älteren Bruder des Verstorbenen, Leutnant Eberhard Kroysing, kennen. Er erzählt Eberhard von seiner Begegnung mit Christoph, der sich daraufhin, von einem schlechten Gewissen geplagt, dass er sich zu wenig um seinen kleinen Bruder gekümmert habe, vornimmt, die Verantwortlichen für dessen Tod juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Die sich aus diesem Vorsatz ergebenden Verwicklungen, in denen Werner eine zentrale Rolle als potentieller Zeuge spielt, liefern im Weiteren den wesentlichen Handlungsfaden. Sie bieten ausreichend Gelegenheit, sowohl die Korruption, Egozentrik und den Antisemitismus des deutschen Offizierskorps als auch das Elend und die Schrecken der Schlacht um Verdun darzustellen.

Zu Werner ist noch zu ergänzen, dass er seinen Vorgesetzten ebenfalls negativ aufgefallen ist, da er sich bei einer Gelegenheit gegen den ausdrücklich Befehl seines Majors um einen französischen Kriegsgefangenen gekümmert hat. Hieraus ergeben sich diverse Schikanen und Benachteiligungen für ihn, die sich erst ganz am Ende auflösen, als er von dem inzwischen mit dem Fall Kroysing befassten Militärrichter unter nicht unerheblichen Aufwand als Schreiber angefordert und in dessen Zuständigkeit versetzt wird. Kurz bevor Werner zu seiner neuen Einheit an die Ostfront aufbricht, stirbt auch Eberhard Kroysing bei einem tragisch konstruierten Fliegerangriff auf das Hospital, in dem er eine Verletzung auskuriert, womit der Fall Kroysing endgültig zu den Akten gelegt werden wird.

Aus Werner ist in dem Jahr, das er vor Verdun verbracht hat, ein deutlich realistischerer Kopf geworden: „Der Armierungssoldat Bertin ist kein Trottel mehr“, heißt es zusammenfassend auf den letzten Seiten des Romans. Auch seine Annäherung an eine sozialistische bzw. kommunistische Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse im Deutschen Reich wird durch den Einfluss zweier Nebenfiguren vorbereitet. Insoweit erfüllt der Roman das Programm seines Titels, wenn auch Werner Bertin noch lange nicht an dem Punkt angekommen zu sein scheint, an dem sein Autor ihn letztlich haben will.

Stilistisch ist der Roman der bislang angenehmste der Reihe, da ihm die romantisierenden Töne der in der Chronologie der Handlung vorangehenden gänzlich fehlen. Man hat hier deutlich das Gefühl, dass dies Zweigs ganz eigener Stil ist, während die früheren Passagen, die die paradiesischen Aspekte der Vorkriegszeit als Gegenfolie zur Kriegszeit entwickeln und die unschuldige Gefühlswelt der Protagonisten herausheben sollten, durchweg als aufgesetzt und stilistisch gekünstelt erscheinen. Alles in allem ist „Erziehung vor Verdun“ daher als der bislang gelungenste Teil des Zyklus zu bezeichnen.

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun. Berlin: Aufbau-Verlag, 141969. Leinen, Fadenheftung, 504 Seiten. Lieferbar ist neben einer preiswerten eBook-Ausgabe derzeit nur die Hardcover-Ausgabe innerhalb der Werkausgabe des Aufbauverlages.