Johannes Fried: Das Mittelalter

Das «Mittelalter» ist ein typisch europäisches, genauer sogar ein westliches Phänomen. Weder die Hochzivilisationen Indiens oder des Fernen Ostens, noch das christliche Byzanz oder die Länder des Islam kennen ein vergleichbares Wahrnehmen einer abgesteckten, als minderwertig verworfenen und auf der Suche nach den Quellen der eigenen Kultur geradezu auszuschabenden «aetas media».

Fried_MittelalterEinem gut 550-seitigen Text, der einen Zeitraum von 1.000 Jahren verhandelt, auch nur als Leser, geschweige denn als Rezensent gerecht zu werden, ist kaum möglich. Johannes Fried ist die Problematik seines Versuchs, das gesamteuropäisches Phänomen des Mittelalters in einem Überblick zu erfassen, durchaus bewusst; entsprechend defensiv ist auch das Vorwort gehalten. Leider ist aber wenigstens mir bei der Lektüre nicht klar geworden, wen Fried sich als Leser für dieses Buch vorgestellt hat und was genau er ihm vermitteln wollte.

Ein Buch, das kaum eine halbe Seite hat, um ein Jahr Geschichte abzuhandeln, und dabei nicht nur die äußerlichen historischen Ereignisse vermitteln, sondern auch über Gesellschaft, Kunst und Kultur sprechen will, muss zwangsläufig bei allem an der Oberfläche bleiben. Wie wenig befriedigend das ist, zeigt sich hauptsächlich an zwei Phänomenen: Beim Abhaspeln der historischen Chronologie stellt sich zum einen nur ganz selten tatsächlich ein geschlossenes Bild ein, das dem Leser das Nach- und Miteinander der Ereignisse und ihre Bedingtheit deutlich macht. Wenn man sich selbst mit einem Abschnitt der Geschichte etwas intensiver auseinandergesetzt hat, kann man Fried durchaus folgen, aber dort, wo einem selbst die Zusammenhänge eher vage vorschweben, hilft seine Darstellung oft kaum weiter. Das gilt aber durchaus nicht für alle Abschnitte: Den Einfall der Mongolen nach Europa etwa und seine Folgen weiß er kompakt und bildhaft zu schildern, was den Mangel an Geschlossenheit an anderen Stellen nur um so schärfer hervortreten lässt.

Zum anderen tritt an Stellen, an denen man selbst halb ein Kenner ist, häufig ein ratloses Schulterzucken auf. Wenn es etwa über die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles heißt

Die Natur zu erforschen bedeutete, die Ursachen der Bewegung zu erfassen, deren vier zu unterscheiden waren: die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis, Materie, Form, Beweger und Zweck oder Ziel. (S. 360)

so kann das für eine der mittelalterlichen Aristoteles-Interpretationen durchaus richtig sein (Fried verrät uns nicht, welche dafür in Frage käme), aber für Aristoteles selbst ist die auslegende Übersetzung der causa efficiens als Beweger zumindest ungeschickt, wenn nicht sogar irreführend, denn der (unbewegte) Beweger ist bei Aristoteles als causa finalis gedacht. Auch wäre es wahrscheinlich geschickter, statt von der mit neuzeitlichen, physikalischen Ideen assoziierten Materie vom Stoff zu sprechen. Und da der Leser über die Vier-Ursachen-Lehre nicht mehr als das oben Zitierte erfährt, entsteht bestenfalls ein schiefes Bild der ganzen Angelegenheit.

Auch sprachlich ist das Buch nicht immer auf der Höhe:

Der Hundertjährige Krieg warf England endgültig auf die Insel zurück; Frankreichs Wiedergeburt konnte es nicht verhindern. (S. 517)

Zumindest ich habe beim ersten Lesen das es nicht auf England, sondern auf den Vorgang des Zurückwerfens bezogen. Ähnliche Holprigkeiten finden sich öfter.

Aber es mag auch einfach nur sein, dass ich nur der falsche Leser für das Buch bin und ein anderer mit all dem bestens zurecht kommt. Mir jedenfalls scheint es nicht ganz und gar gelungen zu sein, wenn ich auch dem Autor gern zugestehe, dass er sich angesichts der kaum zu leistenden Aufgabe einer Gesamtdarstellung des Mittelalters in nur einem einzigen Band sehr beachtlich aus der Affäre gezogen hat. Man kann mit einem solchen Projekt auch ganz allerliebst kompletten Schiffbruch erleiden.

Wie so oft ein Buch, das seinesgleichen sucht und von dem man sich dennoch leicht enttäuscht verabschiedet.

Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. Jubiläumsedition. München: C. H. Beck, 2013. Broschur (22 × 15 cm), 606 Seiten. 16,– €.

Theodor Fontane: Mathilde Möhring

»Ach Thilde, was unsereiner auch alles erleben muß. Und das nennen sie dann Fügungen, und man soll sich auch noch bedanken.«

Fontane_MöhringFontanes letzter Roman, obwohl er von der Länge her kaum diesen Namen verdient. Fontane ist vor der Endredaktion verstorben, so dass der Text erst 1907 aus dem Nachlass erschienen ist und das zudem in einer starken herausgeberischen Bearbeitung. Erst Ende der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde erstmals eine sich enger am Manuskript orientierende Edition gedruckt. Das alles bedeutet allerdings nicht, dass es sich um ein Fragment handelt. Man weiß zwar, dass Fontane immer ziemlich lange an seinen Text gefeilt und verändert hat, aber die Fabel ist vollständig aus- und zu Ende erzählt. Sicherlich könnte man spekulieren, dass besonders der in Westpreußen spielende Teil der Fabel noch hätte ausgeweitet werden können, aber wie Fontane gegen Ende deutlich macht, war die Kürze der politischen Karriere der Großmanns beabsichtigt.

Die Titelfigur Mathilde Möhring ist die Tochter eines früh verstorbenen Berliner Exportkaufmanns, die sich zusammen mit ihrer Mutter in kleinbürgerlichen Verhältnissen über Wasser hält, indem sie eines ihrer Zimmer an Studenten vermieten. Als der etwas verbummelte und der schönen Literatur zugeneigte Jura-Student Hugo Großmann bei den Damen Möhring einzieht, wittert Mathilde ihre Chance. Eine Erkrankung Hugos bietet den Anlass zum familiären Anschluss, und der kaum Genesene verlobt sich wie geplant mit Mathilde. Die nimmt daraufhin Hugos Leben in die Hand, treibt ihn systematisch durchs Examen und besorgt ihm anschließend eine Stelle als Bürgermeister in einem Kleinstädtchen in Westpreußen. Dort beginnt sie, mit Hilfe ihres leicht regierbaren Ehemanns erfolgreich Politik zu machen.

Doch natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der gesundheitlich empfindliche Hugo erkältet sich gleich beim ersten scharfen Wind und kommt mit einer Lungenentzündung nieder. Zwar erholt er sich noch einmal, aber zu Ostern erleidet er aus heiterem Himmel einen Rückfall und stirbt. Mathilde, nur wenig erschüttert, kehrt zu ihrer Mutter nach Berlin zurück und bessert ihre Witwenpension auf, in dem sie Lehrerin wird.

Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahre kriegt er nach Woldenstein hin einen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück.

Es ist erstaunlich, dass dieser kleine Roman Fontanes nicht viel bekannter ist. Vielleicht liegt es dran, dass der Autor selbst nicht richtig warm geworden ist mit seiner berechnenden, sich kaum je ihren Gefühlen überlassenden Protagonistin. An Mathildes Karriere zeigen sich die Vorurteile, der Standesdünkel und die Enge der preußischen Gesellschaft, ohne dass Mathilde dem Leser dadurch sympathischer wird oder er sich auf sonst einem Wege mit ihr identifizieren kann. Auch jede Tragik verweigert ihr der Autor: Hugos Tod ist zwar bedauerlich, aber nicht das Ende der Welt. Mathilde weiß sich durchzuschlagen und gerät so zu einer Gegenfigur zu Effi Briest, was der Autor durch einige Anspielungen auch deutlich zu machen weiß.

Alles in allem ein kleines Meisterwerk, das ein weiteres, wichtiges Segment in Fontanes Panorama der Rolle der Frau in der preußischen Gesellschaft hinzufügt.

Ich habe hier, da der Hintergrund der Lektüre einmal mehr ein didaktischer ist, aus praktischen Gründen den von Gotthard Erler edierten Text bei dtv zugrunde gelegt, wie er auch in der Hanser-Ausgabe der Werke Fontanes abgedruckt ist. Philologisch orientierten Lesern ist aber natürlich anzuraten, den von Gabrielle Radecke edierten Text in der »Großen Brandenburger Ausgabe« (Bd. 20, Aufbau Verlag, 2008) heranzuziehen, der den Zustand des Fontaneschen Manuskript ungeschönt wiedergibt. Auch ist die Entscheidung des Deutschen Taschenbuch Verlages, die Anmerkungen der Hanser-Ausgabe unbearbeitet zu übernehmen, als eher unglücklich anzusehen, da diese nicht nur an einzelnen Stellen sachlich falsch sind, sondern zum Teil auch auf Kommentare zu anderen Texten innerhalb der Hanser-Ausgabe verweisen, die dem Leser des Taschenbuchs naturgemäß nicht verfügbar sind.

Theodor Fontane: Mathilde Möhring. dtv 13113. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 32005. Broschur, 158 Seiten. 6,50 €.

Jahresrückblick 2012

Wie bereits Ende letzten Jahres ein Rückblick auf die drei besten und die drei schlechtesten Lektüren des Jahres.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2012:

Echte Höhepunkte fehlten in diesem Jahr, insbesondere im Bereich der Neuerscheinungen, die ich gelesen habe. Vieles Gute, manches Ordentliche, aber nichts Außerordentliches war dabei. Daher fällt die Auswahl ein bisschen klassikerlastig aus:

  1. Herman Melville: Moby-Dick – auch nach vielen Durchgängen immer wieder ein Abenteuer.
  2. William Faulkner: Als ich im Sterben lag – da ich seit Jahren gern mehr Faulkner lesen würde, bin ich für die Neuübersetzungen bei Rowohlt sehr dankbar.
  3. Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde – eine beeindruckend dichte Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher im Peru der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2012:

  1. Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern – gänzlich überflüssige und unglaublich naive Gutmenschenfabel.
  2. Émile Zola: Der Traum – religiöse Schmonzette, stilistischer und inhaltlicher Ausreißer des Zyklus.
  3. Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!« – schlecht edierte und motivierte Sammlung vorgeblich jüdischer Witze.

 

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close

Nine out of ten significant people have to do with money or war!

Foer_ExtremlyEin weiteres Buch in meiner kleinen Lesereihe zum Thema Nine-Eleven, und bislang das literarisch weitaus überzeugendste. Foer gehört zu den erfindungsreichsten, phantasievollsten der ernstzunehmenden US-amerikanischen Autoren. »Extremely Loud & Incredibly Close« erschien 2005, also noch vor »Terrorist« (2006) und »Falling Man« (2007), und es ist zugleich indirekter und motivisch differenzierter als diese Nachfolger, bei denen man zumindest für Don DeLillo annehmen darf, dass er Foers Buch während der Niederschrift gekannt hat.

Erzählt wird die Geschichte vom neunjährigen Oskar Schell, der seinen Vater vor etwa einem Jahr beim Anschlag auf das World Trade Center verloren hat und immer noch heftig um ihn trauert. Oskar wurde von seinem Vater offenbar nie als Kind, sondern immer als junger Erwachsener behandelt. So ist Oskar zu einem etwas altklugen und zugleich ängstlichen Jungen geworden, der einen  stark naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt hat. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund dafür, warum es Oskar so schwer fällt, mit dem Gefühl der Trauer umgehen zu können. Der eigentliche Erzählanlass ist, dass er den Kleiderschrank seines Vaters durchstöbert und er dabei eine blaue Vase zerbricht, in der sich ein kleiner Umschlag mit einem Schlüssel findet. Auf dem Umschlag steht der Name Black, was Oskar, dessen Vater für ihn Forschungsexpeditionen erfunden hat, um seine Menschenscheu zu überwinden, dazu veranlasst, alle Blacks New Yorks zu recherchieren und einen nach dem anderen aufzusuchen, um das Geheimnis des Schlüssels zu entdecken.

Gleichzeitig wird die Geschichte der Großeltern Oskars erzählt, die aus Dresden stammen: Thomas Schell sen. hatte sich als junger Bildhauer in Anna verliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Bevor die beiden heiraten können oder das Kind geboren wird, kommt Anna bei der amerikanischen Bombardierung Dresdens (eine bewusste historische Spiegelung der Anschläge vom 11. September) ums Leben. Thomas wandert in die USA aus, wo er langsam verstummt und sich nur noch schreibend verständig. Als er bereits völlig verstummt ist, trifft er zufällig Annas Schwester, die den kontaktscheuen Mann zu einer Ehe drängt. Als sie gegen die ausdrücklich Verabredung der beiden schwanger wird, flieht Thomas Schell zurück nach Deutschland. Erst als er dort aus der Zeitung vom Tod seines Sohns erfährt, kehrt er nach New York zurück. Eine wichtigere Rolle als dieser Großvater, der überhaupt erst im letzten Teil des Buches leibhaftig in Oskars Leben auftaucht, spielt die Großmutter, die offenbar all ihre Liebe für den toten Sohn auf ihren Enkel übertragen hat und seine wichtigste Bezugsperson ist.

Die Suche nach dem Schlüssel erweist sich schließlich als kompletter MacGuffin, ausschließlich erfunden um Oskar in die Welt und unter seine Mitmenschen zu bringen. Das Buch folgt locker dem Muster des Entwicklungsromans; ob der Name Oskar für den etwas altklugen Jungen eine Anspielung auf »Die Blechtrommel« darstellt, ist zumindest bei einem ersten Durchgang nicht zu entscheiden.

Das Buch ist motivisch sehr reich aufgrund der zahlreichen Begegnungen Oskars mit den verschiedenen Blacks, deren Geschichten das stets wechselnde Widerlager zu Oskars Verlust bilden. Die parallel erzählte Leidensgeschichte der Großeltern fügt eine weitere Ebene hinzu, die dazu dient, die Singularität des Geschehens und des Schicksals der Opfer des 11. Septembers zu relativieren. Foers Blick auf den Anschlag ist nicht tagespolitisch, sondern historisch, auch wenn er letztlich absichtlich kindlich-naiv bleibt. Erwähnt werden sollte wohl noch der für einen Roman ungewöhnlich breite Einsatz von Fotomaterial, das Oskars Sicht auf seine Welt direkt visualisiert.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close. London: Hamisch Hamilton, 2005. Softcover, Fadenheftung, 355 Seiten.

Gustave Flaubert: Bücherwahn

Ja, er war trunken von dem, was er empfunden hatte; er war erschöpft von seinen Tagen; er war besoffen vom Leben.

Flaubert_Bücherwahn

Jedes Jahr bringt der Hanser Verlag zur Weihnachtszeit ein kleines Büchlein heraus, das als Präsent der Buchhändler an ihre liebsten Kunden gedacht ist oder an solche, die es werden sollen. In diesem Jahr ist es eine Neuübersetzung von Gustave Flauberts erster Veröffentlichung geworden: »Bücherwahn« wurde 1836 vom erst Fünfzehnjährigen geschrieben und erschien bereits im Jahr darauf im Kulturblättchen »Le Colibri«. Natürlich will Hanser damit nicht nur Lesern eine Freude, sondern auch auf seine Neuübersetzung der »Madame Bovary« aufmerksam machen, die hier bei Gelegenheit auch besprochen werden soll.

Erzählt wird in »Bücherwahn« die tief romantisch gefärbte Geschichte des ehemaligen Mönchs Giacomo, der als Buchhändler und Büchernarr ein ärmliches Leben in Barcelona fristet, weil er nur Buchhändler geworden ist, um eine große Bibliothek sein Eigen nennen zu können. Als ihm jedoch ein konkurrierender Kollege bei einer Auktion ein Unikat (das scheinbar einzige erhaltene Exemplar der ersten in Spanien gedruckten Bibel) vor der Nase wegschnappt, verliert Giacomo anscheinend die Kontrolle über seine Leidenschaft: Er zündet dem Kollegen den Laden an, stürzt sich selbst ins Feuer und rettet das obskure Objekt seiner Begierde. Als die Polizei in Giacomos Besitz das vermeintliche Unikat findet, wird er nicht nur der Brandstiftung angeklagt, sondern auch einer Serie ungeklärter Morde, die das Land in Aufruhr versetzen. Den höchst merkwürdigen Ausgang des Prozesses will ich um der lieben Spannung willen hier nicht verraten.

Die Erzählung weist viele Schwächen auf, wie man sie vom Text eines fünfzehnjährigen Autors erwarten darf: Angefangene Erzählstränge laufen einfach ins Nichts, zwei Bücher werden miteinander verwechselt, wobei unklar bleibt, ob die Verwirrung beim Autor oder bei der Figur liegt, die Mordserie taucht gänzlich unvorbereitet und schlecht motiviert in der Handlung auf und was der Kleinigkeiten mehr sind. Allerdings spürt man schon den späteren Meister: Die romantische Atmosphäre ist gut getroffen, die Ausführung ist dicht und ohne Geschwätzigkeit, und der Leser wird am Ende mit einem hübschen psychologischen Rätsel allein gelassen.

Wer Flaubert und/oder die Übersetzerin Elisabeth Edl schätzt, sollte sich das hübsche Bändchen noch rasch von seinem Buchhändler erbitten.

Gustave Flaubert: Bücherwahn. Deutsch von Elisabeth Edl. Mit Vignetten von Wolf Erlbruch. München: Hanser, 2012. Broschur, 32 Seiten.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Ab und zu macht man sich so seine Gedanken. Über all das Unglück und Leid in dieser Welt. Wie’s überall und jederzeit einschlagen kann, wie der Blitz.

Bereits 2008 hatte der Rowohlt Verlag eine Neuübersetzung von »Licht im August« vorgelegt, der er nun, zum 50. Todestag Faulkners, eine weitere folgen lässt. Der vergleichsweise kurze Roman »Als ich im Sterben lag« gehört ebenfalls zu denen um das fiktive Yoknapatawpha County, Faulkners Very Own County. »Als ich im Sterben lag« gehört zu Faulkners populären Romanen, was an der zwar wuchtigen und komplex erzählten, im Grunde aber einfachen und geradlinigen Handlung liegen mag.

Erzählt wird die Familiengeschichte der Bundrens um und nach dem Tod von Addie Bundren, Gattin Anse Bundrens und Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Addie stammt aus der Bezirkshauptstadt Jefferson und hat ihren Mann versprechen lassen, sie nach ihrem Tod dorthin zu überführen und bei ihren dortigen Verwandten beizusetzen. Die Fahrt nach Jefferson, die eine knappe Woche dauern wird, gerät zu einer Odyssee von Unglück zu Unglück, was Anse nicht daran hindert, sein Versprechen gegen alle Widerstände und koste es, was es wolle, einzuhalten. Zuerst verliert man bei der Überquerung eines Hochwasser führenden Flusses, der alle verfügbaren Brücken weggerissen hat, die beiden Maultiere, und Cash, der älteste Sohn bricht sich das Bein. Dann muss Anse, um neue Maultiere zu beschaffen, den einzigen Schatz seines dritten Sohn Jewel (der nicht sein leiblicher Sohn ist, was Anse aber nicht weiß), ein Texas-Pony, eintauschen. Inzwischen werden die Bundrens von zahlreichen Bussarden begleitet, da die Leiche Addies nun schon mehrere Tage alt ist; entsprechend unbeliebt sind sie bei ihren Mitmenschen. Da Cashs gebrochenes Bein sich gegen das Ruckeln des Wagens nicht ausreichend mit Holzschienen stabilisieren lässt, kommt man auf den grandiosen Einfall, das Bein einzuzementieren, allerdings ohne es zuvor verbunden oder sonstwie geschützt zu haben. Und um allem die Krone aufzusetzen, zündet auf dem letzten Halt vor Jefferson der Zweitälteste, Darl, ein geistig etwas zurückgebliebener junger Mann, die Scheune an, in der man den Sarg gelagert hat, um der schaurigen Reise durch Einäscherung der Leiche ein Ende zu bereiten. Bei der Rettung der Tiere und des Sargs aus den Flammen zieht sich Jewel schwere Verbrennungen zu.

In Jefferson angekommen geht es mit der Beerdigung (die selbst übrigens ungeschildert bleibt) vergleichsweise glatt: Man leiht sich bei einer Frau, die Anse zwei Tage später als neue Mrs. Bundren mit zur Farm zurücknehmen wird, zwei Spaten aus und bringt die Sache hinter sich. Doch fordert auch Jefferson noch Opfer: Der Besitzer der niedergebrannten Scheune hat Darl als Brandstifter angezeigt, der nun verhaftet und in eine Irrenanstalt eingewiesen wird, und die schwangere Tochter Dewey Dell bekommt von einem jungen Drogisten, von dem sie ein Abtreibungsmittel kaufen will, gegen eine sexuelle Dienstleistung nur ein Placebo ausgehändigt. Die zehn Dollar, die sie vom Kindsvater  für das Abtreibungsmittel bekommen hat, nimmt ihr Anse weg und investiert sie in ein Gebiss, das er sich seit Jahren sehnsüchtig wünscht. Cash wird von Doktor Peabody von dem Zementverband und seinem derweil nekrotisch gewordenen Fuß befreit, bevor die Familie sich schicksalsergeben auf den Rückweg macht.

Diese Abfolge von Katastrophen wird ausschließlich aus der Perspektive der Figuren erzählt, nicht nur der Familie (einmal kommt sogar die tote Mutter zu Wort), sondern auch ihrer Bekannten, des Doktors und derjenigen, die der Familie unterwegs Unterkunft und Nahrung gewähren. Insgesamt sind es 14 Erzähler, die aus ihrer Sicht und in ihrer jeweils eigenen Sprache die Geschichte erzählen. Während das zu Anfang dem Leser eine kurze Phase der Orientierung abverlangt, entwickelt die Erzählung bald einen derartigen Sog, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie die Geschichte anders hätte erzählt werden können.

Ein grandioses Buch und ein erzählerisches Kabinettstück, das eine Literatur erzeugt, wie sie entstehen würde, wenn diese Menschen denn tatsächlich schrieben. Der Neuübersetzung gelingt eine exzellente Wiedergabe des lakonischen, am Denken und Sprechen der Figuren ausgerichteten Tons der Erzählung. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt diese Reihe von Neuübersetzungen Faulkners fortsetzen wird.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag. Aus dem Englischen von Maria Carlsson. Reinbek: Rowohlt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 248 Seiten. 19,95 €.

Gustave Flaubert: Salambo

Auf einer Terrasse ein Dromedar, das ein Brunnenrad dreht: so war das gewiß in Karthago.

Reisetagebuch 1858

»Salambo« hat nun seit einiger Zeit auf meinem Nachttisch gelegen und auf die Wiederlektüre gewartet. Im Gegensatz zu den anderen Romanen Flauberts, hatte ich »Salambo« bislang nur ein einziges Mal gelesen (damals in der Übersetzung von Georg Brustgi), und es war von dem Buch nicht mehr als ein vager Eindruck geblieben. Auch diesmal hat mich das Buch nicht wirklich überzeugt, aber dazu später einige Sätze.

Erzählt wird die Geschichte des Söldneraufstandes gegen Karthago nach dem Ende des Ersten Punischen Krieges: Karthago war nicht in der Lage oder willens, die Söldner aus dem Krieg zu bezahlen und sah sich unerwartet in eine weitere ernsthafte kriegerische Auseinandersetzung verwickelt, die seine Position im Mittelmeerraum auf Jahre hinaus deutlich schwächte. Die einzige umfangreiche historische Quelle für den Konflikt ist die Römische Geschichte des Polybios, die auch Flauberts wichtigste Referenz darstellte. Darüber hinaus war zu Flauberts Zeit sehr wenig Konkretes über die Kultur Karthagos bekannt, was man angesichts der Fülle der Details, die der Roman präsentiert, leicht vergessen könnte. Flaubert hat die sehr reiche Welt des Romans allerdings nicht frei erfunden, sondern aus einer umfassenden Lektüre über die antiken mediterranen Kulturen extrapoliert. Hinzuerfunden hat er seine Titelfigur Salambo, eine Tochter des historischen Hamilkar Barkas – dem Vater des weit bekannteren Hannibal –, die für eine obskure Liebesgeschichte benötigt wird, die der ansonsten weitgehend im Militärmilieu situierten Handlung wenigstens den Anschein eines romantischen Interesses geben soll.

Flaubert war sich der Schwächen des Romans, die er hauptsächlich aus seinem Stoff erbt, durchaus bewusst:

Karthago bringt mich noch vor Wut zum Platzen. Ich habe jetzt lauter Zweifel am Ganzen, am allgemeinen Plan; ich glaube, es kommen zuviel Kommißköpfe darin vor. Das ist Geschichte, ich weiß. Aber wenn ein Roman so langweilig ist, wie ein wissenschaftliches Buch, gute Nacht! dann ist es keine Kunst mehr. [An Ernest Feydeau, 15.06.1861]

Auf der anderen Seite war er auf die Wahrhaftigkeit des erfundenen Bildes durchaus stolz, wie seine umfangreiche Verteidigung des Buches gegenüber Saint-Beuve (Brief vom 23./24.12.1862) erkennen lässt. Das Buch war ein weiterer Verkaufserfolg Flauberts, wobei das Interesse Europas im Allgemeinen und Frankreichs im Besonderen an Ägypten und Nordafrika, das nicht zuletzt von Napoleons Expedition nach Ägypten beflügelt worden war, sicherlich eine bedeutende Rolle gespielt haben dürfte.

Doch rettet das den Roman nur in einem historischen Sinne. Für den damaligen und noch mehr für den heutigen Leser ist die Fülle der historischen Details, die die Beschreibungen aufbläht und die Handlung immer wieder für Seiten zum Stillstand bringt, eher hinderlich, da sich bei aller Fülle am Ende doch beinahe nie ein abgerundetes Bild ergibt. Am eindrücklichsten sind die Beschreibungen der Stadt Karthago und des Palastes Hamilkars; die Kriegsgeräte und das Schlachtengetümmel bleiben nahezu notwendig eher undeutlich, wobei sie einen nicht unwesentlichen Teil des Romans ausmachen. Die zeitgenössischen Leser waren sicherlich überrascht über die ausführlich und präzise geschilderten Grausamkeiten sowohl in den Schlachten als auch in den Kulthandlungen; hier bewährt sich einmal mehr Flauberts Verachtung des allgemeinen Publikumsgeschmacks.

Warum einige deutsche Übersetzungen, darunter auch die hier besprochene, den französischen Eigennamen der Heroin Salammbô mit Salambo eindeutschen, hat sich mir bislang nicht entschlossen. Abgesehen davon ist Räbels Neuübersetzung bis auf einige wenige Modernismen gut lesbar und scheint – soweit ich das beurteilen kann – sprachlich auf Höhe des Originals zu sein. Die Ausgabe von Haffmans ist naturgemäß nur noch antiquarisch greifbar; die Übersetzung ist aber derzeit im Taschenbuch bei Fischer lieferbar.

Gustave Flaubert: Salambo. Aus dem Französischen von Petra-Susanne Räbel. Zürich: Haffmans, 1999. Pappband, Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 413 Seiten.

Aus meinem Poesiealbum (XII) – Mond

Am Abend geht der Mond auf, seine feine gebogene Sichel ist wie der Pantoffel einer Chinesin.

Gustave Flaubert
Reisetagebuch 1858

[…] die Sonne begann zu sinken, und auf der gegenüberliegenden Seite des Himmels zog bereits die Sichel des Mondes herauf.

Gustave Flaubert
Salambo

»Könnten Sie mal bei Walter Scott, im Original, nachsehen«, fiel mir als weitere Bestechung für ihn ein : »Da kommt im ‹Herz von Midlothian› das Phänomen vor, daß ‹der volle Mond breit im Nordwesten› aufsteigt.« Er hatte mir lässig das verbrauchte Profil hingehalten, und fragte jetzt vornehm erschöpft : »Warum ? Gibt’s das nicht ?« (Man ist also doch letzten Endes allein !).

Arno Schmidt
Rollende Nacht

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen

Es gibt nicht viele große, entscheidende Schritte der Philosophie, trotz des Aufwandes und Windes, den sie durch die Geschichte hindurch gemacht hat.

978-3-518-29355-3Eine der zahlreichen Editionen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg. Dort fand auch eine Mappe mit dem Titel des Buches, der auch der Titel eines der darin gesammelten Essays ist. Thematisch hängt die Sammlung nur locker zusammen: Es geht um Gefälligkeit von Philosophen und Philosophien, um Martin Heidegger und seine nationalsozialistischen Verstrickungen, es geht aber auch um Sigmund Freud – der Essay »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes« enthält eine der knappsten und präzisesten Analysen der Freudschen Psychoanalyse, die ich kenne – und Arthur Schnitzler, um Hegel und das Holstentor.

Insgesamt wie immer bei Blumenberg eine sehr anregende Lektüre, die in diesem Fall zwischen einem gehobenen feuilletonistischen und maßvollen philosophischen Niveau pendelt. Eine anspruchsvolle Lektüre für den Nachttisch.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen. stw 1755. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Broschur, 208 Seiten. 10,– €.