Das Buch vom schlechten Leser

barbey_antigoethe»Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen«, schreibt der sehr große Lichtenberg, »und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Dieser kleine Satz sollte allen Literaturkritikern ganz zu Anfang in ihr Stammbuch geschrieben werden, denn die Grundannahme der Literaturkritik ist im Normalfall, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss, wenn der Kritiker mit dem Werk nichts Rechtes anzufangen weiß. Dass es aber – auch unter Kritikern! – prozentual mindestens ebenso viele schlechte Leser wie schlechte Bücher gibt, wird selten mitbedacht und noch seltener thematisiert. Nur hier und da erscheint einmal ein Beweis solcher Ignoranz, und es müssen schon ganz besondere Umstände zusammenkommen, damit nach über 100 Jahren ein solches Dokument noch einmal veröffentlicht wird.

Im Jahr 1873 erschien eine Reihe von Essays des damals in Frankreich hoch geschätzten Autors und Literaturkritikers Jules Barbey d’Aurevilly (1808–1889), die Goethe gewidmet sind und jetzt bei Matthes & Seitz in Berlin unter dem Titel Gegen Goethe zum ersten Mal auf Deutsch vorliegen. Barbey d’Aurevilly beginnt seine ausführliche Polemik gegen das Gesamtwerks Goethes mit einer skurrilen Szene:

Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe. Die Librairie Hachette hatte mir vor der Belagerung eine Ubersetzung seiner Sämtlichen Werke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung bespräche, und zwischen zwei Wachen las ich immer wieder darin.

Dies ist eine Momentaufnahme aus dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den die Deutschen mit der Krönung Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles abschließen sollten – einer bewussten Provokation und Demütigung der Franzosen, die dies bis zum Vertrag von Versailles im Jahr 1918 auch nicht vergessen würden.

Und auch Barbey d’Aurevilly nimmt auf seine Weise Rache für diese Schmach: Er verreißt Goethe! Und das in aller Aufrichtigkeit: Er muss sich durchaus nicht zwingen, Goethe schlecht und – was ihm unverzeihlicher zu sein scheint – unerträglich langweilig zu finden, seine dramatischen Figuren hölzern, seine Gedichte von des Gedankens Blässe angekränkelt, die Romane unmoralisch oder dumm oder auch beides. Und überhaupt mangele es Goethe an Gefühl, Phantasie und Erfindungsgabe; sein Versuch, diese Mängel durch Gelehrsamkeit auszugleichen, ende in einem Fiasko wie dem zweiten Teil des »Faust«, hinterlasse aber auch sonst überall verhängnisvolle Spuren.

Nun höre ich ringsum schon ein allgemeines Aufatmen: »Endlich sagt es mal einer!« – »Recht so! Immer feste druff!« – »Ich habe es ja immer schon gewusst, nur zu sagen habe ich es mich nicht getraut.« ––– Nein, ich muss alle Erleichterten enttäuschen: Barbey d’Aurevilly hat einfach Unrecht; er war im Grunde genommen nichts weiter als ein schlechter Leser Goethes. Dass er ein solch ausgezeichnet schlechter Leser des Weimarer Klassikers wurde, hatte gleich mehrere Wurzeln, die das kluge Nachwort von Lionel Richard detailliert vorführt und analysiert: Barbeys Konkurrenz zu Sainte-Beuve, Goethes hohes Ansehen bei den Anti-Romantikern Frankreichs und eben nicht zuletzt auch die nationale Konfrontation des gerade verlorenen Krieges. Barbey d’Aurevilly wollte Goethe schlechtfinden, koste es, was es wolle. Sein Unverständnis ist oft einfach nur grotesk zu nennen und selbst da, wo er sich genötigt sieht, wenigstens Teilaspekte des Werkes zu loben, kritisiert er das übrige nur um so heftiger.

Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken.

Goethe zu Eckermann, 13. Februar 1831

Warum wird ein solch weitgehend unbekanntes Buch noch einmal aufgelegt und der Irrtum erneut verbreitet? Nun muss man zuerst einmal natürlich auch Barbey d’Aurevilly und seinen Lesern eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn dieses Buch hat auch ganz unabhängig vom Ziel der Polemik seine Berechtigung und seinen Platz im Werk Barbeys. Dann mag die eine oder andere auch Vergnügen an der Form der Polemik und Barbeys Eifer haben, an den Brotkugeln, die er auf den Adler schießt in der festen Überzeugung, es seien Kanonenkugeln, die einem Spatzen gölten. Und es ist zudem keine kleine Kunst, in einem so schmalen Band gleich so viele Irrtümer, Fehler und Vorurteile zu versammeln. Und ganz zum Schluss ist das Büchlein eben auch das oben genannte Dokument eines schlechten Lesers, eine Mahnung an alle Kritiker – sie werden sie nicht lesen oder, wenn sie sie lesen, nicht verstehen oder, wenn sie sie verstehen, gleich wieder vergessen. Aber vielleicht bleibt es ja als Gewinn bei den guten Lesern übrig, immer mitzubedenken, dass ein Verriss seinen Grund nicht immer darin haben muss, dass das besprochene Buch nichts taugt.

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

Johann Wolfgang von Goethe

Jules Barbey d’Aurevilly: Gegen Goethe. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, 2006. Pappband mit Schutzumschlag, fadengeheftet, Lesebändchen. 142 Seiten. 19,80 €.

Du kaufst jetzt Günter Grass, …

Wieder einmal große Aufregung im Vorfeld einer Grass-Ver­öf­fent­li­chung! Diesmal durch sein um 60 Jahre verzögertes Geständnis, er sei in der Waffen-SS gewesen. Helle Aufregung bei all denen, die sich professionell aufregen, Experten werden befragt, wie diese Nachricht denn nun einzuschätzen sei, ob Grass als moralische Instanz beschädigt würde, ob seine Bücher nun nichts mehr wert sind oder was sonst noch Schreckliches geschehen könnte. Von Marcel Reich-Ranicki habe ich bislang noch nichts gelesen, aber da kommt sicherlich auch noch was. Ich dagegen frage mich, was sich denn eigentlich geändert hat?

Dass Grass als Jugendlicher bis zur Kapitulation an den Endsieg geglaubt hat, konnte, wer wollte, problemlos nachlesen. Dass Grass als junger Mensch im Krieg aktiv war, ebenso. Dass er zu den Verblendeten und Verführten gehört hat – wie viele andere auch – war ebenso bekannt. Nun wissen wir, dass er eine andere Uniform getragen hat, als bislang angenommen wurde – so what? Grass hat keine Kriegsverbrechen begangen, nicht einmal in einer Einheit gedient, der Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden.

Sein Biograph Michael Jürgs aber erklärt in einem Gespräch im Deutschlandradio die »moralische Instanz Grass« für »eigentlich erledigt«, weil – wie er Kempowski nachsprach – das Bekenntnis »ein wenig spät« gekommen sei. Selbst die Gutwilligen halten Grass die zahlreichen Gelegenheiten vor, bei denen er sich hätte offenbaren können, »ohne dass man ihm einen Vorwurf daraus gemacht hätte«. Man hätte wahrscheinlich nur so reagiert wie jetzt – da versteht man gleich, warum er so lange zu schweigen versucht hat.

Nehmen wir die Aufregung mal für einen kurzen Moment lang ernst, selbst wenn wir wissen, dass es nur Mediengeschrei ist: Grass ist über viele Jahre hinweg zu einer Medien-Ikone aufgebaut worden. Auf der Liste der zehn Top-Denker Deutschlands der Zeitschrift »Cicero«, einem weithin unbekannten intellektuellen Fachblatt, steht Grass auf Position 1. Er hat dort Harald Schmidt um Haaresbreite geschlagen. So sieht das mit den »Denkern« in Deutschland nämlich aus. Anders gesagt: Grass war immer schon eitel genug, um zu jeder Sache eine Meinung zu haben, von der er wusste, dass sie einer ausreichend großen und medienmächtigen Minderheit in den Kram passen würde. Der Minderheit war Grassens Votum immer recht, und spätestens nachdem er den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, war kein Halten mehr.

Dabei waren Grassens Meinungen immer schon windig. Er neigte dazu, zu komplizierten Sachverhalten einfache Ansichten zu pflegen, weniger mit differenzierten Analysen zu glänzen als vielmehr mit einer aufrechten, moralisierenden Pose, sich mehr auf seine Stimm- als auf seine Denkkraft zu verlassen. Als Schriftsteller hat er Unmengen von unliterarischem und unlesbarem Schamott geliefert – ich erinnere mich mit Grausen an »Die Rättin« und »Der Butt«; »Das weite Feld« war wenigstens in der ersten Häfte einigermaßen erträglich –, und einige wenige denken auch heute noch, dass es das bestgehütete Geheimnis von Günter Grass ist, dass er gar keine Romane schreiben kann. Schon 1981 hat Friedrich Dürrenmatt in einem Interview die schöne Äußerung getan:

Günter Grass hat mir sehr höflich den Butt versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt, also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben.

Das hat mir schon damals aus der Seele gesprochen. Dies »späte Bekenntnis« ist eine gute Gelegenheit, Grass als das zu durchschauen, was er seit vielen Jahrzehnten ist: Die erfolgreiche Marketingstrategie einer Interessengruppe. Dass er selbst das bislang nicht begriffen zu haben scheint, macht ihn so erfolgreich. – »Nachbarin! Euer Fläschchen!«

Robert Graves: I, Claudius

Die erneute Lektüre wurde angeregt durch ein Gespräch über die hervorragende BBC-Serie nach Graves beiden Claudius-Romanen, die ich vor einiger Zeit auf DVD gekauft hatte. Ich hatte das Buch als Jugendlicher auf Deutsch gelesen und dann vor über zwanzig Jahren die hier gezeigte deutsch-englische Ausgabe aus dem Jahr 1941 geschenkt bekommen. The Albatros war ein Leipziger Verlag, der auf englische Texte für deutsche Leser spezialisiert war. Der Text ist sehr sorgfältig gesetzt, der Buchblock fadengeheftet und anschließend broschiert. Ich habe das Buch während der Lektüre recht lieb gewonnen.

Diesmal habe ich natürlich gemerkt, wie sehr »I, Claudius« ein geschickt aufgefüllter Sueton ist. Aber die Betonung liegt eben auf dem Wort geschickt, denn Graves gelingt es ganz erstaunlich gut, auf der Grundlage des Berichts von Sueton eine Romanhandlung zu stricken, die die Zeit von den letzten Jahren der Regierung Augustus’ bis zur Einsetzung von Claudius als Kaiser umfasst. Die meisten Leser werden sich so wie ich auf den ersten einhundert Seiten auf den Berichtston des Romans einstellen müssen. Graves gestaltet Claudius als einen Historiker, der auch in dieser privaten Familiengeschichte seine eigentliche Berufung nicht verleugnen kann und will. Später wird der Text auch reicher an Dialogen und damit unmittelbarer in seiner Darstellung, aber er gerät nie zu einem der typischen historischen Romane, wie etwa Clavell oder Jennings sie später geschrieben haben. Mir ist unklar, wie weit dies Berechnung des Autors ist oder ob er einfach Zeit gebraucht hat, um den Ton für das Buch zu finden.

»I, Claudius« ist ein gewendeter Narrrenroman: Claudius kann gelesen werden als klassische Narrenfigur, an deren vermeintlicher Beschränktheit sich die fürchterliche Normalität seiner Welt bricht; in einer solchen Lektüre ist das Spannenste wahrscheinlich, dass der Narr Claudius beinahe als der einzig geistig Gesunde erscheint, während der überwiegende Teil seiner Familie sich auf die ein oder andere Weise dem Wahnsinn überantwortet. Claudius ist der Fels in der Brandung, dessen Stoizismus dem Leser die Ungeheuerlichkeit der berichteten Ereignisse erst glaubhaft und wahrscheinlich macht.

Eine Rezension des Nachfolgebandes »Claudius the God« folgt hier bei Gelegenheit.

Aktuelle Ausgabe:
Graves, Robert: I, Claudius
Penguin, 2001. ISBN 0-14-000318-5
Kartoniert – 400 Seiten – ca. 15,00 Eur

Arno Geiger: Es geht uns gut

61682415_8f58efb4c0Gewinner des Deutschen Buchpreises 2005.

Eine österreichische Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst. Die Fabel wird grob gesagt alterierend entlang zweier Zeitlinien entwickelt, wobei sich die Erzählung in beiden Zeitlinien immer auf die Schilderung einzelner Tage konzentriert, die mit genauen Daten in den Kapitelüberschriften bezeichnet sind. Die detailliertere Zeitlinie, mit der der Roman beginnt und endet umfasst den Zeitraum zwischen dem 16. April und dem 20. Juni 2001. In dieser Zeit räumt der junge Philipp Erlach, ein angehender Schriftsteller, der gerade emotional und sozial in einer Sackgasse zu stecken scheint, die Villa seiner Großeltern aus, die er offenbar nach dem Tod seiner Großmutter geerbt hat. Höhepunkt der Aufräumungsarbeiten ist sicherlich das Ausmisten des Dachstuhls, der seit einem Jahrzehnt von wilden Tauben als Schlag genutzt wurde.

Philipp Erlach zeigt sich dabei nicht sehr interessiert am Nachlass seiner Großeltern; erst seine beiden Gehilfen Steinwald und Atamanov, die ihm seine Geliebte Johanna für die Reinigung des Dachbodens aufgenötigt hat und die sich dafür anschließend für eine Weile selbst im Haus einnisten, realisieren die geschäftlichen Dimensionen des Mobiliars, das Philipp dem Müll übergibt.

Die Erzählung der zweiten Zeitlinie beginnt mit dem 25. Mai 1982 und schildert zuerst einen Tag von Philipps Großmutter Alma Sterk, deren Ehemann Richard seit einiger Zeit unter den Symptomen einer Alzheimererkrankung leidet. Das nächste Kapitel dieser Zeitlinie springt in das Jahr 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, zurück. Von hier ausgehend wird in großen Sprüngen die Geschichte der Familie von Richard und Alma Sterk erzählt, deren Tochter Ingrid die Mutter Philipps ist. Sie heiratet Peter Erlach, den sie in ihrer Ehe in jeglichem Sinne hinter sich lässt: Beruflich, sexuell und als Partner. Peter Erlach beweist sich und seine menschlichen Qualitäten erst nach dem überraschenden, frühen Tod seiner Frau. Einzig von Philipps Schwester Sissi erfahren wir zu wenig: Wir erleben sie nach dem Tod ihrer Mutter als gegen den Vater opponierende Jugendliche und erfahren später, dass sie in New York als Journalistin lebt und eine Tochter hat.

Insgesamt ein überzeugender Roman, sowohl was den formalen Aufbau, die Gestaltung der Figuren als auch was die Fülle des verarbeiteten Materials angeht. Das Ende, bei dem Philipp in einem Gewitter auf dem Dachfirst des großelterlichen Hauses reitend endlich aus seiner Apathie herauszufinden scheint, ist wohl ein wenig gesucht und leidet unter einem pathetischen Beigeschmack, aber man sollte es dem Buch angesichts seiner sonst durchweg disziplinierten Erzählhaltung verzeihen.

Geiger, Arno: Es geht uns gut
Hanser, 2005. ISBN 3-446-20650-7
Gebunden – 392 Seiten – 21,50 Eur[D]

John Griesemer: Rausch

48746508_02bc0ea3b0Ein Roman fast so lang wie das Atlantikkabel, das in ihm verlegt werden soll. (Wahrscheinlich eine Formulierung, die bereits in drei Rezensionen verwendet worden ist.) John Griesemer benutzt die mehrfachen Versuche, zwischen 1857 und 1866 ein Telegraphenkabel durch den Atlantik zu legen, als Hintergrund für eine Odyssee seiner Protagonisten. An erster Stelle steht Chester Ludlow, der verantwortliche Ingenieur aller gescheiterten Versuche, dessen Ehe während dieser Zeit eine tiefe Krise durchläuft, der sich in eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau eines anderen Mannes verstrickt und schließlich nach dem Tod dieser Frau und seines Halbbruders Otis zu seiner Ehefrau zurückfindet. Franny Ludlow, eine ehemalige Schauspielerin, durchlebt ihre eigene Krisenzeit: Tief getroffen vom Tod ihrer kleinen Tochter hat sie sich in sich selbst zurückgezogen und sucht, während ihr Mann unterwegs ist, zusammen mit dessen Halbbruder Otis nach einem spirituellen Weg, mit ihrer Tochter wieder in Verbindung zu treten. Ihr wird eine einzige Vision zuteil, woraufhin sie sich entschließt, als spirituelles Medium die USA zu durchreisen. Otis umrundet derweil beinahe den Planeten auf der Suche nach einer Landroute für ein Telegraphenkabel über die Beringstraße und durch Asien.

Eine weitere Figur, die einen Fokus der Geschichte bildet, ist der Londoner Zeichner und Maler Jack Trace, der für seinen Lebensunterhalt sorgt, indem er Londoner Zeitungen Zeichnungen und kleine Artikel anbietet, darunter auch Berichte über das größte Schiff seiner Zeit, die Great Eastern, die von einem Desaster ins nächste gerät und schließlich das Schiff sein wird, mit dessen Hilfe das Atlantikkabel erfolgreich verlegt wird.

An diesem letzten, geglückten Versuch aber ist John Griesemer kaum mehr interessiert; er behandelt ihn beinahe nur en passant am Schluss seines Romans. Während er die Handlung vorwärts treibt, scheint er es vielmehr darauf anzulegen, den Motiven nachzuhorchen, die seine Figuren umtreiben, und als Hintergrund ein Bild von der englischen und nordamerikanischen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu liefern. Letzteres gelingt allerdings nur bedingt: Die sozialen und ökonomischen Verwerfungen kommen höchstens in Andeutungen vor und der Auftritt von Karl Marx zu Anfang des Romans bleibt eine witzige Episode ohne konkrete Folgen. Griesemer ist zu sehr mit der Innenwelt seiner Figuren beschäftigt, als dass hier mehr hätte gelingen können.

Wahrscheinlich hätte es den Lesern der deutschen Übersetzung geholfen, wenn man den englischen Originaltitel »Signal & Noise« einfach ins Deutsche übertragen hätte, anstatt das Rauschen des Originals zu einem deutschen »Rausch« zu verkümmern. Aber beim Verlag hat sich wohl einer gedacht, dass ein Rausch allemal besser zieht als ein Rauschen. Schade!

Insgesamt ist – um mich zu wiederholen – der Roman schon unmäßig lang. Da er auch nicht in allen Passagen gleich gut gelungen scheint, war die Lektüre dann und wann schon etwas mühsam und zäh; aber dann kam eben wieder eine gelungene Episode – etwa die Beschreibung eines Sturms auf hoher See oder der vom amerikanischen Bürgerkrieg verstörte Jack Trace auf einer gesprengten Eisenbahnbrücke –, so dass der Antrieb zum Weiterlesen wiederkam. Ein ungewöhnliches Buch für geduldige Leser mit Neugier auf das 19. Jahrhundert.

Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg des Titels:
Griesemer, John: Rausch
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke
marebuchverlag, 2003; ISBN 3-936384-86-X
Gebunden
686 Seiten – 23,2 × 13,8 cm – 24,90 Eur[D]