Nicholson Baker: Menschenrauch

978-3-498-00661-7Beeindruckende Sammlung von Quellen im Wesentlichen vom Ende des ersten Weltkriegs bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941. Dokumentiert werden sowohl die Bestrebungen der Kriegstreiber als auch die vergeblichen Bemühungen der Kriegsgegner, den nächsten Krieg zu verhindern bzw. so rasch wie möglich zu beenden. Neben der offiziellen Geschichte werden nahezu gleichrangig Tagebücher und Erinnerungen von Opfern dokumentiert. Einen breiten Raum nehmen auch Zitate aus zeitgenössischen Tageszeitungen ein.

Diese Fleißarbeit Bakers erzeugt ein bislang nicht dagewesenes musivisches Bild der Entwicklung zum Zweiten Weltkrieg hin und der ersten Kriegsjahre. Für Leser, die sich in dieser Zeit einigermaßen gut auskennen, bereichert die Lektüre des Buches ihren Blick auf überraschende Weise. Besonders die Aktivitäten der Pazifisten und Kriegsgegner waren wenigstens mir so präsent nicht. Auch der nicht nur in Deutschland, sondern weltweit verbreitete Antisemitismus tritt sehr deutlich hervor.

Ein wenig ist allerdings zu befürchten, dass sich Leser, die sich mit Hilfe dieses Buches erstmals mit der Epoche auseinandersetzen, ein etwas eigentümliches Bild zusammenstellen könnten. Besonders als Deutscher hegt man Zweifel, ob sich etwa zur Judenvernichtung ein historisch korrekter Eindruck ergibt, wenn pseudorationale Argumente von Antisemiten oder Nationalsozialisten scheinbar gleichrangig neben Klagen von Juden oder jüdischen Hilfsorganisationen stehen. Da die Quellen zudem im Dezember 1941 enden, wird die entsetzlichste Phase des Holocaust nach der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 ausgeblendet. Die Sammlung zeichnet von daher trotz aller dargestellten Gräuel ein schiefes Bild der deutschen Verbrechen an den Juden. Hier liegen Grenzen der auf den ersten Blick durchaus faszinierenden Methode des Buches, die Quellen weitgehend selbst sprechen zu lassen.

Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. Deutsch von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 639 Seiten. 24,90 €.

Shel Silverstein: Lafcadio

978-3-596-85140-9Ein Kinderbuch, das beinahe so alt ist wie ich und das es bereits 1987 einmal auf Deutsch gab. Dann wurde es 2004 von Fischer in seiner »Schatzinsel« noch einmal aufgelegt und hätte es verdient, viel bekannter zu sein. Shel Silverstein erzählt die Geschichte eines jungen Löwen, der nicht wie alle seine Artgenossen vor den Jägern wegläuft, sondern einem von ihnen kurzerhand das Gewehr abnimmt und ihn frisst. Mit dem Gewehr bildet er sich selbst zum Scharfschützen aus und wird daraufhin von einem Zirkusdirektor angeworben und mit dem Versprechen, ihn mit Marshmallows zu füttern, in die Stadt gelockt.

Dort bekommt der Löwe den Namen »Der große Lafcadio« und wird berühmt und ein echter Salonlöwe. Seine Einführung in die gute Gesellschaft verdankt er der zufälligen Begegnung mit dem Erzähler Onkel Shelby, der sein erster und bester Freund wird. Natürlich erweist es sich, dass das Leben in menschlicher Gesellschaft auch einen Löwen auf Dauer nicht glücklich macht. Da kommt es gerade recht, dass der Direktor einen Jagdausflug nach Afrika vorschlägt …

Shel Silverstein: Lafcadio. Ein Löwe schießt zurück. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 112 Seiten (unnummeriert) mit zahlreichen, schwarz-weißen Illustrationen. 11,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (31)

Die Frau: „Arbeiten Sie hier?“
Der Buchhändler: „Ja, mehr oder weniger, meist weniger.“
„Sie, haben Sie eventuell Bücher von diesem … äh … Hölderlin?“
„Ja, schon. Hier zum Beispiel eine Gedichtausgabe, sehr gut kommentiert.“
„Nein, Gedichte nicht um Gottes Willen, haben Sie nicht so kleine Geschichten?“
„Kleine Geschichten hat er nicht verfaßt.“
„Ach so, ja was denn?“
„Einen Briefroman mit dem Titel Hyperion.“
„Ist der spannend?“
„So würde ich das nicht sagen.“
„Was hat er denn Lesbares geschrieben, für abends vor dem Einschlafen?“
„Meines Wissens nichts.“
„Ja, er muß doch was geschrieben haben, sonst würde er doch nicht im Reiseführer stehen.“
„Ein Trauerspiel in fünf Akten über Empedokles.“
„Über was?“
„Empedokles war ein griechischer Philosoph, der sich aus Verzweiflung in den Ätna stürzte.“
„Naja, und wenn ichs mal in einer anderen Buchhandlung versuche?“
„Das können Sie machen, versuchen kostet nichts.“
„Und wo ist die nächste Buchhandlung?“

(Ein wahrhaftiger Dialog aus dem Erlebnisbereich einer Tübinger Buchhandlung.)

Schwäbisches Tagblatt, 5.9.1990

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee

978-3-8031-1268-2Sechs Monologe, darunter ein männlicher, die Alan Bennett im Jahr 1987 für die BBC geschrieben hat. Nachdem »Die souveräne Leserin« ein Erfolg in Deutschland geworden ist, werden nun auch die älteren Veröffentlichung Bennetts peu à peu ins Deutsche übersetzt. Die Sprecherinnen der Monologe sind:

  • ein psychotischer Sohn, der mit seiner Mutter in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt,
  • eine Pfarrersfrau, die die Enge ihrer Ehe nicht erträgt,
  • eine Leserbriefschreiberin,
  • eine Nebendarstellerin,
  • eine Witwe, die langsam, aber sicher Bekanntschaft mit ihrem verstorbenen Ehemann macht und
  • eine alte Dame, die sich endgültig gegen ein Leben im Altersheim entscheidet.

Die Texte lassen hier und da den Humor Bennetts aufblitzen, sind aber insgesamt eher ernst gestimmt. Das folgende Zitat charakterisiert den Ton des Bändchens ganz gut:

Sie sollten aber nicht denken, dass meine Geschichte tragisch ist.
Pause.
Ich bin keine tragische Figur.
Pause.
Der Typ bin ich nicht.
Ausblenden zu schwach hörbarer Musik, vielleicht Johann Strauß.

Bennett begleitet das Bändchen mit einem Nachwort, in dem er sich selbst über einige motivischen Wiederholungen wundert, die ihm beim Lesen aufgefallen sind, und verfolgt einige dieser Motive auf ihre biografischen Quellen zurück. Sehr angenehm, wenn ein Autor seine Texte so lesen kann, als stammten sie von einem anderen.

Abgeschlossen wird das Bändchen mit einem Foto, auf dem Bennett sein Schwein Betty spazieren führt! Eine exzellentes Büchlein für zwischendurch.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2010. Leinen, Fadenheftung, 139 Seiten. 15,90 €.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise …

978-3-86971-014-3 … durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick

Ganz selten hat man heute noch das Vergnügen, ein solches Büchlein in die Hand zu bekommen: Flexibler, bedruckter Leineneinband, abgerundete Ecken, Lesebändchen, exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen, ein informatives, illustriertes Nachwort. Wenn das Bändchen auch noch fadengeheftet wäre, wäre es vollkommen.

Michael Walter hat seiner ambitionierten Übersetzung des »Tristram Shandy« nun auch eine Übertragung von Sternes zweitem Roman an die Seite gestellt. Leider sind von der »Empfindsamen Reise« nur zwei Bände fertig geworden, bevor Sterne 1768 starb. Und so bleibt der empfindsame Ich-Erzähler Yorick, den der Leser bereits aus dem »Tristram Shandy« kennen konnte, nördlich von Lyon in einem Gasthaus stecken und erreicht nie das im Titel angekündigte Italien.

Das Büchlein war ein beinahe noch größerer Erfolg als der »Tristram Shandy« und besonders in Deutschland einflussreich, da von ihm eine kleine Literaturepoche, die Empfindsamkeit, angeregt wurde. Das Wörtchen »empfindsam« wurde übrigens von Lessing zur Übersetzung des englischen Neologismus »sentimental« erfunden; wer mehr dazu und zu der Geschichte der deutschen Übersetzungen erfahren möchte, lese das wohlgeratene Nachwort.

Auch bei dieser Sterne-Übersetzung wird betont, die Waltersche Neuübersetzung mache die erotische Unterfütterung des Textes deutlicher als alle vorangehenden. Das soll hier nicht bestritten werden, nur möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor die sexuellen Beiklänge hier weit gemäßigter gehandhabt hat als in einigen Passagen des »Tristram Shandy«. An dieser Neuübersetzung scheint mir weit interessanter zu sein, wie souverän Michael Walter den Sterneschen Stil insgesamt nachzubilden versteht und dabei einen skurrilen und durch und durch originellen deutschen Text erschafft, der in keinem Moment vergessen lässt, dass wir hier ein Buch vor uns haben, das bereits im 18. Jahrhundert aus der Masse des literarischen Marktes herausgeragt hat.

Wer zuvor noch nichts von Sterne gelesen hat, sei ein wenig vorgewarnt: Es braucht einige Seiten, bis man sich eingelesen hat. Man bringe etwas Geduld mit, denn man wird reichlich dafür belohnt.

Dieses Bändchen ist sicherlich eines der Bücher des Jahres 2010, auch wenn das Jahr noch recht jung ist.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2010. Flexibler, bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 359 Seiten. 24,95 €.

Nochmals: Die gänzlich »Andere Bibliothek«

Im Oktober 2006 stellte der Eichborn Verlag für die wohl bekannteste anspruchsvolle Buchreihe auf dem deutschen Buchmarkt, die »Andere Bibliothek« zwei neue Herausgeber vor: Michael Naumann und Klaus Harpprecht. Wie Spiegel online berichtet, hat der Verlag nach nur drei Jahren diese beiden Herausgeber wieder entlassen:

„Der Eichborn-Verlag hat sich entschieden, mit modernen Marketing- Methoden nach einer neuen Zielgruppe für die Andere Bibliothek zu suchen“, sagte Naumann am Donnerstag. „Sowohl Klaus Harpprecht als auch ich sind der Meinung, dass Zielgruppen-Ideologie jeglicher Art, ob gruppen- oder altersspezifisch, mit dem Charakter dieser Buchreihe nichts zu tun hat. Wir bedauern die Entscheidung des Verlags und wünschen dieser wunderbaren Buchreihe eine Zukunft, die ihrer Tradition entspricht.“

Nun ist die »Andere Bibliothek« der Inbegriff einer Zielgruppen-orientierten Buchreihe gewesen, und man kann begreifen, dass der Verlag zwei Herausgeber der Reihe entlässt, die gerade dieses Konzept nicht verstehen. Andererseits haben wir ja bereits damals, als die Reihe ihren Gründer Hans Magnus Enzensberger verlor, festgestellt, dass auch der Eichborn Verlag lange schon jeglichen Kontakt mit der ursprünglichen Zielgruppe der Reihe verloren hatte, nämlich mit den Buchliebhabern, die rare Texte in solider handwerklicher Ausstattung wollten, statt mit der üblichen Massenware der Papierindustrie abgespeist zu werden. Dieses Profil ist der »Andere Bibliothek« inzwischen aber komplett abhanden gekommen.

Nun soll es ein dem breiten Publikum eher unbekannter Macher richten:

Der Eichborn Verlag teilte mit, neuer Programmleiter der Anderen Bibliothek werde ab 1. Januar 2011 Christian Döring. Der frühere Suhrkamp-Lektor mit Hang zum schillernden Auftritt gilt als eine der markanten Gestalten der deutschen Buchbranche.

Wohlgemerkt, er gilt als markante Gestalt; Enzensberger war eine markante Gestalt. – Sic transit gloria mundi.

»Zettel’s Traum« lesen

Zur Herbstmesse wird als Abschluss der IV. Werkgruppe der Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts die gesetzte Neuausgabe von »Zettel’s Traum« erscheinen. Ich habe mir vorgenommen, das Buch in dieser Neuausgabe zum dritten und wohl letzten Mal zu lesen. Ich werde diese Lektüre mit einem Blog begleiten, das seit vorgestern online ist. Einige einleitende Gedanken und Vorabmeldungen sind dort bereits zu finden. Die Seite wird bis zum Herbst langsam wachsen; es lohnt sich also vielleicht, dort von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte 6

978-3-485-01310-9Der abschließende Band von Herbert Rosendorfers groß angelegter Deutscher Geschichte. Rosendorfer ist inzwischen 76 Jahre alt, und es ist verständlich, dass er sich weitere Bände nicht mehr zumuten möchte, insbesondere weil die Erzählung, je näher sie an die Gegenwart heranrückt, immer detaillierter und die Recherche dafür immer aufwendiger werden muss. Schon diesem letzten Band merkt man an, dass der Autor sich passagenweise zu sehr auf sein Gedächtnis verlässt, was zu dem einen oder anderen vermeidbaren Fehler führt. Besonders in der einleitenden Übersicht über die Literatur der Jahre zwischen 1750 und 1806 finden sich zahlreiche grobe Patzer: Lenz trug den Vornamen Jakob, nicht Konrad; bei Klingers »Faust« handelt es sich um einen Roman, nicht um ein Theaterstück; Klingers Drama »Sturm und Drang« wurde auf Vorschlag von Christoph Kaufmann so benannt, nicht »von einem Theaterdirektor«; und das Zitat von Lichtenberg lautet richtig:

Er las immer Agamemnon statt »angenommen«, so sehr hatte er den Homer gelesen.

Und nicht, wie Rosendorfer schreibt: »Er las versehentlich immer Agamemnon statt Angenommen, so gebildet war er.« All das findet sich auf nur einer Seite, und der Autor hätte es nachschlagen oder dem Lektor auffallen müssen. Ganz zu schweigen von dem Trauerspiel der Darstellung der deutschen Philosophie der Zeit, der fraglos peinlichsten und dümmsten Passage der Deutschen Geschichte, wenn nicht in Rosendorfers Gesamtwerk überhaupt. Der Leser, der sich sein Bild ungeschmälert erhalten will, sollte das erste Kapitel komplett überschlagen, und die Lektüre mit dem zweiten beginnen.

Die eigentlich historische Darstellung ist getragen von einer in den vorangegangenen Bänden seltenen Bewunderung für wenigsten einen der historischen Protagonisten, Friedrich II. Auch Maria Theresia und Katharina die Große bekommen ihr Teil Lob zugeteilt, aber Rosendorfers Held der Zeit ist eindeutig Friedrich. Rosendorfers Haltung zu Napoleon, der naturgemäß im letzten Drittel des Buches eine bedeutende Rolle spielt, kann als durchaus neutral bezeichnet werden, auch wenn die Erzählung mit der Gründung des Rheinbundes und der Aufhebung des Deutschen Reichs endet. Sicherlich wünschte man sich hier eine ausführlichere Weiterführung der Erzählungen bis zu den Folgen des Wiener Kongresses, aber angesichts der Tatsache, dass es sich bei diesem Band ohnehin schon um den umfangreichsten der Reihe handelt, kann man die Beschränkung verstehen.

Es ist zu bedauern, dass die Serie mit diesem Band endet, denn trotz der hier und früher erhobenen Einwände handelt es sich bei Rosendorfers Deutscher Geschichte um ein Projekt, das in Umfang und Stil in der deutschen Literatur seinesgleichen sucht. Selbstverständlich ist diese Deutsche Geschichte in keinem Sinne vollständig und kann nicht für sich stehen, aber sie bietet dem historischen Laien einen wirklich originellen und spannenden Einstieg und Überblick.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Ein Versuch. Friedrich der Große, Maria Theresia und das Ende des Alten Reichs. München: Nymphenburger, 2010. Pappband, 383 Seiten. 22,95 €.