Émile Zola: Die Beute

zola_rougonDer zweite Band der Rougon-Macquart erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg Aristide Rougons, der in Das Glück der Familie Rougon nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Dort war er als leidenschaftlicher Republikaner und Sohn von Félicité und Pierre Rougon am Ende als einer der Verlierer des Umsturzes erschienen, als jemand, der nicht rechtzeitig die Fahne nach dem Wind gehängt hatte. In Die Beute finden wir ihn unter dem angenommenen Namen Saccard in Paris wieder. Er ist mit seiner ersten Frau dorthin geeilt, weil er sich von seinem Bruder Eugène Unterstützung und Protektion erhofft, der beim Staatsstreich eine entscheidende Rolle gespielt und es bis zum Minister gebracht hat. Eugène bleibt allerdings vorerst distanziert und verschafft seinem Bruder nur eine kleine Anstellung im Bauamt von Paris, die sich aber als Sprungbrett für Aristides ambitioniertes Streben nach Reichtum und Einfluss erweist.

Da seine erste Frau gerade zur rechten Zeit stirbt, gelingt es Aristide durch eine einträgliche Neuheirat das Startkapital für eine Reihe schwindelerregender Spekulationen zu erhalten: Durch ebenso riskante wie illegale Immobiliengeschäfte im Zusammenhang mit dem großangelegten Umbau von Paris unter Napoleon III. erwirtschaftet sich Aristide ein Vermögen. Seine junge Frau Renée schwelgt derweil im Wohlleben und beginnt eines Tages eine Affäre mit Maxime, dem Sohn Aristides aus dessen erster Ehe. Dieses leidenschaftliche Verhältnis führt beinahe, aber eben auch nur beinahe zu einer häuslichen Tragödie. Zola verweigert am Ende selbst der unglücklichen Renée jegliche Tragik: Der letzte Satz des Romans nennt die Höhe der von ihr hinterlassenen Schneiderrechnung.

Der Roman ist gleich zweifach eine Dokumentation der gesellschaftlichen Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs: Zum einen demonstriert es in der Karriere Aristides die schamlose Bereicherung der Bauspekulanten am Staatsvermögen, zum anderen führt es den sittlichen Verfall und die innerliche Leere des Großbürgertums vor. Dabei gelingt Zola bei der Beschreibung des Verhältnisses von Renée und Maxime ein beeindruckendes Bild vom sinnlichen Reiz, den diese inzestuöse Beziehung auf Renée ausübt. Der Freibeuter-Stimmung der Spekulanten stellt Zola so die sinnliche Atmosphäre eines Tropen-Treibhauses an die Seite und erschafft auf diese Weise ein erstaunlich einprägsames Bild der Pariser Gesellschaft zwischen 1855 und 1860.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer

3-518-37812-0 Der Band schließt unmittelbar an Sittlichkeit und Kriminalität an, weist aber insgesamt eine wesentlich größere thematische Bandbreite auf. Die gesammelten Aufsätze stammen aus den Jahren 1907–1910. Es finden sich hier einige Kraus-Klassiker wie zum Beispiel »Das Ehrenkreuz« oder »Der Biberpelz«, aber auch ungebrochen aktuelle pressekritische Stücke wie etwa »Die Entdeckung des Nordpols« oder »Das Erdbeben«, letzteres allerdings nur als Vorspiel zum späteren legendären Grubenhund. Erstmals finden sich auch zwei positive Stücke: »Girardi« und »Peter Altenberg« sind umfangreiche Lobreden.

Der Band vermittelt sicher ein realistischeres Bild vom Inhalt der Fackel als der Vorläufer, wenn auch die Gewichtungen der Themen in Zeitschrift und Buch immer noch deutlich voneinander abweichen.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer. st 1312. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 338 Seiten. Derzeit anscheinend nur innerhalb der kompletten Werkausgabe lieferbar.

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

978-3-492-05362-4 Stilistisch erstaunlicher Erstling. Der Band enthält elf kurze Kriminalerzählungen, die in einem markanten, lakonischen und sehr präzisen Stil erzählt sind. Nicht alle Erzählungen können die Stilhöhe halten, aber die besten zeigen einen abgeklärten Erzähler, der keinen Satz zu viel gebraucht. Alle sind aus der Ich-Perspektive eines Strafverteidigers heraus erzählt, wobei die Schilderung der Fälle in einer weitgehend auktorialen Perspektive geschieht, die die deutliche Distanz des Erzählers zum Geschehen noch weiter erhöht.

Die meisten Erzählungen scheinen mir zudem auch stofflich originell zu sein, wobei ich als Nicht-Krimileser zugestehen muss, das nicht gut beurteilen zu können; mich jedenfalls haben die meisten überrascht. Auch die kurzen Darstellungen exzessiver Gewalt haben mich wahrscheinlich mehr berührt, als dies dem abgeklärten Krimileser passieren wird.

Ein bisschen ärgerlich fand ich die Verlagswerbung, die penetrant auf die Wahrheit der geschilderten Fälle abhebt. Das Buch selbst ist zum Glück deutlich intelligenter als diese Sensationsmache: Es schließt mit dem schönen Satz René Magrittes »Ceci n’est pas une pomme.«

Ferdinand von Schirach: Verbrechen. München: Piper, 2009. Pappband, Lesebändchen, 208 Seiten. 16,95 €.

Elisabeth von Thurn und Taxis: fromm!

Lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm!

978-3-939684-61-9Ich habe mich lange damit getragen, wie ich dieses Buch besprechen soll. Da gäbe es zum einen die Möglichkeit, sich über die Werbung des Verlages zu amüsieren, der sich nicht entblödet, seine Autorin als Prinzessin Elisabeth von Thurn und Taxis zu präsentieren, um dann folgen zu lassen:

Dieses Buch zeigt: Katholisch ist das Gegenteil von spießig. Katholisch ist chic, katholisch ist cool.

Aber man soll eine Autorin nicht die Dummheiten des Vertriebs büßen lassen.

Zum anderen könnte man sich über den naiven Aberglauben der Autorin lustig machen:

Neulich reservierte ich in einem recht teuren Kurhotel ein Doppelzimmer. […] Leider buchte ich die Zimmer zwar für die richtigen Tage, aber im falschen Monat. Als ich dann durch eine E-Mail auf die Stornierungsfrist hingewiesen wurde, drehte sich fast mein Magen um. Der volle Betrag sollte bezahlt werden! […]

Schnell schickte ich dem Hotel eine herzzerreißende Entschuldigungs-E-Mail hinterher. Ich erhoffte mir davon allerdings nicht sehr viel, immerhin hatte ich schon eine klare Ansage bekommen: Zahlen! Da fiel mir plötzlich mein treuer Freund und Helfer, der heilige Antonius, wieder ein. Ich betete also ein kurzes Stoßgebet. Ich machte ihm ein Angebot, dass er, so hoffte ich, nicht ablehnen konnte. Überwältigt war ich, als ich in meinem Posteingang eine neue E-Mail des Hotels vorfand. Meine Stornierungsgebühr war tatsächlich storniert worden!

Gott sei Dank muss ich dieses Phänomen nicht begreifen.

Aber dies hieße nur, dem Zynismus beitreten, der der Veröffentlichung dieses Buches offenbar zugrunde liegt.

Dann wieder könnte man die zahllosen Blüten eines Abitur-Aufsatz-Stils auflesen:

  • Wie auch das Frühstücksei ist die Beichte eigentlich ein Genuss, den man ruhig öfter mal konsumieren darf.
  • Kaum aber berührt nach unendlicher Enthaltsamkeit eine Laugenbrezel wieder den Gaumen, macht sich auch gleich der gegen den Hosenbund drückende Bauch wieder bemerkbar! Alles für die Katz!
  • Ich schaffe in mir Platz für den Willen Gottes, in dem [sic!] ich meinen eigenen Willen in den frisch gemahlenen Kaffeebohnen vergrabe.
  • Auch die Buddhisten beschäftigen sich viel mit Meditation.
  • Das Hinknien fiel langsam aber sicher unter den Tisch.
  • Das Erwachsenwerden hat vielerlei Vor- und Nachteile.

Aber es erschiene mir letztlich doch zu billig, eine Autorin, die in gutem Glauben einer Veröffentlichung dieser Texte zugestimmt hat, auf diese Weise vorzuführen.

Schließlich könnte man noch der Geschwätzigkeit des Buches das notwendige Schweigen wahrer Frömmigkeit gegenüberstellen, aber damit würde man nur mit theologischen Kanonen auf betende Spatzen schießen.

Ich habe mich daher entschlossen, das Buch lieber gar nicht zu besprechen. Tut mir leid!

Elisabeth von Thurn und Taxis: fromm! Kißlegg: fe-medienverlags GmbH, 2009. Pappband, 192 Seiten. 9,95 €.

(geschrieben für Literaturwelt.de)

Horst Tappe: Nabokov

3-85616-152-XNetter, kleiner Bildband mit 24 Schwarz-Weiß-Fotos Vladimir Nabokovs aus den Jahren 1962 bis 1973, jeweils garniert mit einem Nabokov-Zitat in Englisch, Deutsch und Französisch. Sowohl der Schriftsteller als auch der Lepidopterologe werden ins Bild gesetzt; auch zwei Bilder mit Ehefrau Vera finden sich. Unter den Fotos sind einige klassische Nabokov-Ikonen, so etwa die Silhouette des Schreibenden vor dem Fester im Montreux Palace.

Horst Tappe: Nabokov. Hg. v. Tilo Richter. Basel: Christoph Merian Verlag, 2001. 64 Seiten. Derzeit nicht im Druck.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

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Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität

978-3-518-37811-3 Start eines weiteren Langzeit-Projekts: Da es nur wenigen Fachleuten gegeben ist, in ihrem Leben wenigstens einmal Die Fackel komplett durchzulesen, hält man sich als normaler Kraus-Leser – falls es so etwas tatsächlich gibt – mehr aus Resignation, als dass man eine wirkliche Wahl hätte, an die insgesamt 20-bändige Werkausgabe, die von Christian Wagenknecht herausgegeben wurde und die sich in ihrer ersten Abteilung an den von Kraus selbst zusammengestellten Büchern orientiert.

Sittlichkeit und Kriminalität erschien erstmals 1908 und versammelt in weitgehend chronologischer Reihenfolge Aufsätze und Notizen, in denen sich Kraus mit der Gerichtspraxis im Österreich der Jahre 1902 bis 1907 auseinandersetzt, insbesondere mit Fällen, in denen das Sexualleben der Angeklagten thematisiert wurde. Dazu gehören natürlich sogenannte Unsittlichkeits- oder Prostitutions-Prozesse, aber auch Raub- oder Tötungsdelikte, in denen das Sexualleben der Angeklagten herangezogen wurde, um diese zu charakterisieren. Kraus’ Kritik an der Rechtspraxis ist gekoppelt mit starken Forderungen nach einer Legalisierung der Homosexualität und der Prostitution, die aber nur als Aspekt seiner zugrunde liegenden Ansicht erscheinen, dass Sexualität, solange sie aus freiem Entschluss zwischen erwachsenen Menschen stattfindet, niemanden anderen etwas angeht, am allerletzten die Gerichte. Dabei richtet sich seine Kritik nicht nur gegen Richter und Staatsanwälte, sondern auch gegen eine Presse, die die intimen Details der Prozesse zur Hebung ihrer Auflagenzahlen in der Öffentlichkeit breit tritt.

Kraus hat die Texte dieses Bandes für die Buchveröffentlichung noch einmal stark überarbeitet. Dies und die thematische Verdichtung, die der Band im Gegensatz zu den verstreuten Publikationen in der Fackel erreicht, lohnt allein die Lektüre. Er ist aber auch eine gute Einführung in das Werk von Kraus überhaupt. Nicht nur lernt man Kraus’ Ton kennen, der seine Texte aus der Menge der Veröffentlichungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich heraushebt, sondern deutlich wird auch die tiefe moralische Haltung, aus der heraus seine Kritik stets erwächst.

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. st 1311. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 382 Seiten. 10,– €.

Sony Touch Edition PRS-600

Ich habe ein wenig gezögert, hier eine Rezension des eBook-Readers einzustellen, den ich mir gekauft habe, denn schließlich berichte ich auch nicht davon, wenn ich mir eine neue Leselampe kaufe. Aber nun hat Giesbert danach gefragt, also will ich wenigstens ein paar Eindrücke aufschreiben. Diejenigen, die hier regelmäßig mitlesen, entschuldigen hoffentlich diesen Ausflug in die Sphäre des Erlebnis-Aufsatzes.

Gekauft habe ich einen eBook-Reader in der Hauptsache aus dem Grund, dass vor über einem Jahr die Batterien meines Handhelds – es war ein Palm – aufgegeben haben, und ich beschlossen habe, das Gerät weder reparieren zu lassen noch zu ersetzen. Meine Termine verwalte ich seitdem im Netz und komme auch auf diese Weise prima zurecht. Was mir mit der Zeit allerdings wirklich fehlte, war der Reader auf meinem Palm. Zugegeben: Das Display war winzig, aber ich hatte immer etwas zu lesen dabei und nicht nur ein Buch, sondern gleich eine ganze Auswahl. Ich habe daher mit stillem Interesse die Entwicklung der eBook-Reader verfolgt. Nachdem der PRS-600 erschienen war, habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, das Gerät anzuschauen, und es dann auch gekauft.

Entscheidend beim PRS-600 war für mich der Touchscreen, der es einerseits ermöglicht, Textstellen auf dem Bildschirm direkt zu markieren, und andererseits das Anlegen von Notizen erlaubt. Wie man in allen Rezensionen des Readers lesen kann, nimmt man dafür einen etwas schwächeren Kontrast des Bildschirms in Kauf; außerdem neigt der Bildschirm dazu, leicht zu spiegeln. Beides habe ich mir vor dem Kauf angeschaut und es als tolerabel empfunden. Es empfiehlt sich, den PRS-600 bei gutem Licht zu benutzen, wobei nach meiner Erfahrung eine Lichtquelle direkt von oben oder schräg hinten ideal ist. Je besser das Licht, desto besser der Kontrast. Außerdem sollte man nicht erwarten, dass ein Reader die Lesequalität einer gedruckten Buchseite erreicht. Das mag bei guten Lichtbedingungen so scheinen, aber bei schlechten Lichtverhältnissen zeigt sich die Überlegenheit einer gedruckten Seite.

E-Books mit einer flexiblen Seitengröße (z. B. im epub-Format) kann der Reader in variabler Schriftgröße darstellen, wobei für meinen Geschmack der Sprung zwischen den beiden kleinsten Größen S und M schon zu heftig ist. Alternativ kann man die Anzeige um 90 Grad drehen und sich die obere und untere Hälfte der Seite nacheinader anzeigen lassen. Insbesondere bei Büchern mit festem Seitenformat (etwa pdfs mit eingescannten Seiten) führt dies zu guten Ergebnissen.

Nicht unproblematisch ist aber  die von Sony mitgelieferte Software zur Verwaltung des Readers. Mir ist eine dauerhaft funktionierende Installation unter Windows Vista nicht gelungen. Bei meiner Recherche bin ich auf entsprechende Berichte auch von Nutzern von Windows 7 gestoßen. Zum Glück habe ich noch einen Rechner der mit Windows XP arbeitet; hier ist die Installation problemlos verlaufen und der Betrieb ist einwandfrei.

Lesestoff für den Reader gibt es natürlich zu kaufen (der PRS-600 bevorzugt das epub-Format, kann aber auch pdf, rtf, Word-doc u.a.), aber auch auszuleihen (die Stadtbibliothek Solingen hat ein entsprechendes Angebot). Bei mir kommt der bedeutende Teil aber von den CD-ROMs der Digitalen Bibliothek. Für diese CDs gibt es ein Update der Verwaltungssoftware (Digitale Bibliothek 5), das die strengen Restriktionen der Vorläuferversion aufhebt: Es können nun beliebig viele Seiten gleichzeitig kopiert oder ausgedruckt werden und es lassen sich ganze Bücher auf einen Schlag in diverse Formate (darunter auch epub) exportieren. So habe ich etwa ein File mit dem kompletten Shakespeare erstellt und ebenso mit der deutschen Gesamtausgabe der Märchen aus 1001 Nacht. Selbst solche großen Files mit mehreren tausend Seiten sind innerhalb weniger Sekunden exportiert und werden vom Reader problemlos verarbeitet.

Nach der Lektüre eines vollständigen Buchs auf dem Reader bin ich recht zufrieden mit der Wahl. Sicherlich könnte manches besser sein, aber ich habe nun wieder die Möglichkeit, stets eine kleine Bibliothek dabeizuhaben und das in besserer Qualität und höherer Flexibilität als zuvor.

Émile Zola: Das Glück der Familie Rougon

zola_rougon Beginn eines Langzeit-Projekts: Nach der begeisternden Lektüre von Germinal hatte ich mir vorgenommen, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen. Leider ist derzeit keine geschlossene Ausgabe des Zyklus im Druck; allerdings ist die Ausgabe des Verlages Rütten & Loening, die zwischen 1952 und 1976 in der DDR gedruckt worden ist und die auch in der BRD mehrere Nachdrucke erfahren hat, im Jahr 2005 als digitale Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek erschienen. Diese Ausgabe kann auch heute noch für sage und schreibe 10,– €  erworben werden. Nach der jüngsten Anschaffung eines eBook-Readers wird diese digitale Ausgabe nun peu à peu gelesen werden.

Der Zyklus beginnt mit Das Glück der Familie Rougon, dessen Handlung in der Hauptsache im Jahr 1851 spielt, in dem der französische Staatspräsident Louis Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zum Zweiten Kaiserreich ebnet, das genau in dem Jahr enden sollte, in dem Zola diesen ersten Band seines Zyklus herausgeben wird. In seinem Zentrum steht die Familie Pierre Rougons, der als Sohn aus der Ehe zwischen Adélaïde Fouque und einem Gärtner hervorgeht. Nach dem frühen Tod des Gärtners wählt Adélaïde den Schmuggler Macquart zu ihrem Geliebten, mit dem sie zwei Kinder hat: Antoine und Ursule.

Der heranwachsende Pierre betrügt seine beiden Halbgeschwister um ihren Anteil am Erbe der Mutter, noch bevor diese gestorben ist, und verschafft sich durch das Geld eine Chance zum sozialen Aufstieg: Er heiratet die Tochter eines Kaufmanns, ist aber nur eher schlecht als recht in der Lage, das ererbte Geschäft über Wasser zu halten. Daher versucht er, seine Stellung auf politischem Wege zu verbessern. Die große Chance bietet sich ihm während der Unruhen, die durch den Staatsstreich Louis Napoleons ausgelöst werden, in denen es dem intriganten und im Grunde feigen Pierre schließlich gelingt, sich als Retter seiner Heimatstadt zu inszenieren.

Der Roman ist für den heutigen  Geschmack sicherlich in einigen Passagen zu langatmig, zeigt in seinen Kernpassagen aber schon die erzählerische Präzision und boshafte Beobachtungsgabe, die Germinal zu einem Meisterstück machen werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

William Shakespeare: Titus Andronicus

dvd-titus Bei Titus Andronicus handelt es sich um eines der unbekannteren Stücke Shakespeares, das allerdings in den letzten Jahren ein etwas merkwürdiges Interesse gefunden hat. Auch die hier vorgestellte Verfilmung ist ein Produkt dieser dramatischen Modewelle. Beim Stück handelt es sich um eine Horror-Tragödie im elisabethanischen Geschmack; es ist wahrscheinlich die erste Tragödie Shakespeares überhaupt, wie die Forschung heute überwiegend meint. Für die frühe Einordnung spricht nicht nur die krude, eher unwahrscheinliche und nicht widerspruchsfreie Fabel des Stücks, sondern auch die etwas grobe Figurenzeichnung und der übertriebene Einsatz schauerlichster Szenen.

Die Fabel spielt im Rom einer fiktiven Kaiserzeit: Der gerade von einem siegreichen Feldzug gegen die Goten nach Rom zurückgekehrte Titus Andronicus erweist sich als treuer und aufrechter Staatsbürger, als er die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlägt und sich für einen der beiden Söhne des verstorbenen Kaisers, Saturninus, stark macht. Der, kaum zum Kaiser gewählt, ehrt den alten General mit der Idee, dessen Tochter Lavinia zur Kaiserin zu machen. Der Geehrte muss allerdings erfahren, dass seine Tochter bereits mit dem Bruder des Kaisers, Bassianus, verlobt ist. Bassianus entführt Laviania, woraufhin Saturninus die als Gefangene nach Rom geführte Königin der Goten Tamora zur Kaiserin macht. Titus aber hat sich Tamora zum Feind gemacht, als er ihren ältesten Sohn als Sühneopfer für seine im Krieg gefallenen Söhne geopfert hat.

Aus dieser Konstellation entwickelt Shakespeare ein äußerst grausames Kammerspiel der Rache mit fürchterlichsten Toden, einer Vergewaltigung, Hinrichtungen, einer Selbstverstümmelung, Kannibalismus und schließlich der Ermordung Lavinias, Titus und des Kaiserpaares. Der Film tut ein Übriges, indem er dem Verbrechen auch eine ordentliche Portion Sex hinzufügt.

Dem Film kann man nicht vorwerfen, die Vorlage mit Blick auf das moderne Publikum zu übertreiben; man hält sich im Gegenteil, was die Grausamkeiten angeht, recht eng an die Vorlage. Die ist so deftig, dass man sich einerseits fragen kann, wie derartiges zu Shakespeares Zeit auf der Bühne realisiert wurde, sich auf der anderen Seite doch sehr bemühen muss, die Frage zu vermeiden, warum man sich solch eine Orgie des schlechten Geschmacks eigentlich anschauen soll. Die Verfilmung wird sicherlich gerettet durch die hervorragenden Leistungen der Schaupieler (Anthony Hopkins als Titus, Jessica Lange als Tamora, aber auch Colm Feore als Marcus Andronicus und Harry Lennix als Haupt-Bösewicht Aaron), und Shakespeare-Kenner finden natürlich auch hier schon Elemente, die sich erst in späteren Tragödien Shakespeares entfalten werden, aber den Film als solchen kann man kaum empfehlen.

Titus. Regie: Julie Taymor. ems, 2003. 1 DVD. Laufzeit ca. 162 Minuten. Sprache: Englisch, Deutsch. FSK: ab 16 Jahren. Ca. 7,– €.