Martin Walser: Ein liebender Mann

Das Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.

Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.

Geschrieben ist das Buch in jener hölzernen Prosa, die auch schon frühere Bücher Walsers ausgezeichnet hat. Auch dieses Buch ist eher monologisch, repetitiv und eintönig geraten. Es scheint Walser nicht mehr groß darauf anzukommen, worüber er schreibt, er ergießt seine Sprache über alles und ebnet mit ihr alle Differenzen ein: In allen Teilen des Buches herrscht derselbe überspannte und überhöhte Ton, selbst dort, wo Entspannung oder Intimität behauptet wird. Mancher mag das für Stil halten, es ist aber nicht mehr als eine steife Manier, die jegliche Beweglichkeit, jede Angemessenheit an den verhandelten Gegenstand oder die konkrete Situation vermissen lässt und stets nur sich selbst setzt und niemanden und nichts zu Wort kommen lässt. Wie weit Walsers Sprache – trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen – von der Goethes entfernt ist, kann man exemplarisch an dem durchgehend verwendeten, hässlichen Wort „kriegen“ (im Sinne von „bekommen“) ablesen, das in diesem Buch wohl ungefähr sooft verwendet wird wie im Gesamtwerk Goethes – um von der Variante „mitkriegen“ ganz zu schweigen.

Inhaltlich ist das Buch so spekulativ, wie es angesichts der Quellenlage sein muss. Man kann Walsers Einfälle schätzen, seine Erfindungen glücklich finden; ebenso gut kann man die konkrete Fabel als albern, lärmend und langatmig bezeichnen. Ob es nötig ist, die einzige ausführliche authentische Quelle – die Aufzeichnungen der alternden Ulrike von Levetzow – Lügen zu strafen, mag ebenfalls eine Geschmacksfrage sein. Bezeichnender ist, dass Walser zum zentralen Goetheschen Text, der Marienbader Elegie, die vollständig abgedruckt wird, nichts als Allgemeinplätze und Phrasen mitzuteilen hat. Die besten Urteile sind noch die, die er aus den zeitgenössischen Quellen abschreibt – der Rest ist Schweigen. Dass die Marienbader Elegie entstanden ist, wird wahrheitsgemäß berichtet, wie sie aber möglich gewesen ist, bleibt demjenigen, der nur Walsers Goethe kennt, gänzlich unverständlich. Trotz des gewaltigen Aufwands an vorgeblicher Einsicht in die Goetheschen Gedanken bleibt Goethe dem Leser wesentlich fremd. Es ist schlicht falsch, dass Goethe in den Wochen und Monaten nach der Trennung in Karlsbad nichts als Getriebensein, Verzweiflung, Neigung zum Suizid erlebt und empfunden habe und ihm jene bei ihm stets vorhandene zweite, distanzierte und objektive Ebene der Reflexion unzugänglich geblieben wäre. Dass sie Walser fehlt, dokumentiert der Roman; dass und wie sehr sie Goethe zugänglich war, dokumentieren die vorhandenen Quellen. Dies als „Entsagungstheater“ oder „kulturellen Firnis“ denunzieren zu müssen, ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, wie fremd Walsers Lamentieren dem Goetheschen Wesen geblieben ist.

Dass der Roman auch mit den historischen Tatsachen flüchtig und oberflächlich umgeht, ist bereits an einem Beispiel aufgezeigt worden. Es ist nicht das einzige. Offensichtlich war es sowohl dem Autor als auch dem Lektorat zu lästig, das Buch einmal gründlich anzuschauen. Mag auch sein, dass Walser wenigstens mit einem Satz Recht behalten hat:

Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.

Das würde einiges erklären.

Bestürzend aber ist einmal mehr, als wie weit entfernt von Goethe sich ein Großteil des deutschen Kulturbetriebs gerade in den Momenten beweist, wo er ihn angeblich feiert. Goethe verkommt den Deutschen bei jedem Durchgang mehr zur Phrase.

Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 287 Seiten. 19,90 €.

Ian McEwan: Zwischen den Laken

mcewan_laken Sammlung von sieben routiniert und gekonnt erzählten Geschichten McEwans, von denen drei (Zwei Fragmente, Hin und Her und Psychopolis) bereits zuvor bei Diogenes veröffentlicht worden sind. Der Band hat kein wirklich einheitliches Thema, wenn sich auch die meisten mehr oder weniger zentral um das Thema Sexualität drehen. Sie umfassen stilistisch eine deutliche Bandbreite, so dass kein geschlossenes Bild der Sammlung entsteht. Die Übersetzungen scheinen – soweit sich das vom deutschen Text ablesen lässt – anspruchsvoll und sorgfältig gearbeitet zu sein.

Pars pro toto hier ein paar inhaltliche Hinweise: Pornographie erzählt von einem jungen Mann, der im Sexshop seines Bruders arbeitet. Nebenher hat er Verhältnisse zu mindestens zwei Frauen, die aber nichts voneinander wissen. Nun zwingt ihn eine Geschlechtskrankheit, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und als er wieder Kontakt zu seinen Damen aufnimmt, erwartet ihn eine Überraschung …

Der kleine Tod erzählt von einem sehr erfolgreichen Londoner Geschäftsmann, der sich eines Tages in eine Schaufensterpuppe verliebt und mit ihr einige glückliche Wochen verbringt. Dann allerdings schöpft er Verdacht, dass sie ihn mit seinem Fahrer betrügen könnte und verfällt einer zunehmend tiefen Verzweiflung. So absurd die Grundkonstellation auf der einen Seite zu sein scheint, so realistisch gerät die aus ihr entwickelte Beziehungsgeschichte. Diese Erzählung stellt sicherlich das humoristische Prunkstück der Sammlung dar.

Die Titelerzählung erzählt von einem geschiedenen Schriftsteller, den die beginnende Pubertät seiner bei seiner Frau lebenden Tochter in einige Verwirrung stürzt. Der Titel In Betwen the Sheets stammt übrigens aus dem Rolling-Stones-Song Live With Me, der in der Erzählung auch zitiert wird.

Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Bernhard Robben. detebe 21084. Zürich: Diogenes Verlag , 2008. 224 Seiten. 8,90 €.

Hartmut Lange: Der Therapeut

lange_therapeut Im Rahmen der Vorbereitung für einen Vortrag über Geschichte und Begriff der Novelle habe ich zum ersten Mal auch Hartmut Lange gelesen, der sich von den lebenden deutschsprachigen Autor wahrscheinlich am intensivsten mit der Form auseinandersetzt. Der Therapeut enthält drei Texte, die alle in Berlin spielen und in deren Zentrum jeweils ein alleinstehender, älterer Mann steht. In allen drei Texten bleibt ein wesentliches Element vom direkten Erzählen ausgespart und lässt sich nur vage aus dem Erzählten erschließen.

So erzählt Der Hundekehlesee vom Berliner Kunstprofessor Wernigerode und seiner arabischen Lebensgefährtin Alima, die allerdings zu Beginn der Erzählung verschwindet oder bereits verschwunden ist. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto unklarer wird die Geschichte um Alima, so dass am Ende bezweifelt werden kann, ob es eine Beziehung zwischen Wernigerode und Alima überhaupt je gegeben oder Wernigerode sie sich nur eingebildet hat, ob Alima Selbstmord am Hundekehlesee begangen oder zu ihrer Familie nach Tunesien zurückgekehrt ist, oder ob Wernigerode sie gar umgebracht und die Tat mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hat.

Der von Der Hundekehlesee angeschlagene Ton setzt sich auch in den Erzählungen Der Therapeut und Die Kränkung fort, wenn diese beiden Erzählungen auch thematisch deutlich anderes gelagert sind. Insgesamt steht dieser Novellen-Band Langes klar in der Erzähltradition, deren hervorragende Protagonisten Heinrich von Kleist, dessen Erzählungen sich dadurch auszeichnen, dass sie umso unklarer werden, je genauer man sie anschaut, oder Franz Kafka sind. Alle drei Novellen Langes lohnen die Lektüre, nur darf man als Leser eben keine glatten und abgeschlossenen Texte erwarten.

Hartmut Lange: Der Therapeut. Drei Novellen. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 148 Seiten. 18,90 €.

Jesu sahniger Same

sananda_galilaa 1. Es ist nicht einfach, dieses Buch richtig einzuordnen: Die Gattungsbezeichnung „Biographie“ im Untertitel „Die Biographie Jesu“ könnte einen verleiten, es für einen nicht fiktionalen Text zu halten. Auch die Webseite des Verlages legt unter der Überschrift „Wie dieses Buch entstand“ nahe, dass es der Autor für eine Schilderung von Tatsachen hält. In diesem Fall wäre das Buch nicht zu rezensieren, da es dann kein Artefakt wäre, sondern Symptom für eine Psychose des Autors. Statt einer Rezension sollte daher die Empfehlung gegeben werden, dass sich der Autor rasch in fachkundige Behandlung begibt. Sowas kann böse enden, wenn man das schleifen lässt.

2. Gehen wir aber davon aus, dass der Autor nur ein wenig Schwierigkeiten mit dem Konzept der Fiktionalität hat, so behauptet die Einführung des Buches, dass einem Erzähler, der zufällig denselben Namen trägt wie sein Autor, im Rahmen eines therapeutischen Verfahrens Erzählungen zahlreicher wiedergeborener Seelen zugänglich wurden, die alle unmittelbar mit Jesus von Nazareth zu tun hatten. Das Buch erzählt anschließend die Lebensgeschichte Jesu aus den wechselnden Perspektiven dieser Seelen. Geschrieben ist das Buch in etwas, das der Autor wohl für einen Stil hält. Und das sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass Nebensätze mit einem Punkt abgetrennt werden. Was im Deutschen eher unüblich ist.

Die Erzählung steht inhaltlich in eklatantem Widerspruch zu den ältesten vorliegenden Quellen zum Leben Jesu und deutet den spirituellen Gehalt dieser Quellen grundlegend um. Jesus ist ein Mensch, von Menschen gezeugt und von Menschen – scheinbar – getötet. Er überlebt die Kreuzigung, weil ihm der Apostel Markus im legendären Essig-Schwamm ein Gift verabreicht hat, das ein vorzeitiges Ableben simulierte. Nach der Auferstehung reist Jesus nach Zypern und von dort aus nach Samarkand, wo er noch rasch ein paar Buddhisten den Buddhismus erklärt, bevor seine Seele in die Arme des Herrn zurückkehrt.

Insoweit ist das Buch unerheblich, da es den spirituellen Gehalt der christlichen Legende weitgehend ignoriert und verflacht. Der Autor wäre wahrscheinlich besser beraten gewesen, seine Geschichte frei zu erfinden, wäre dann allerdings Gefahr gelaufen, dass der Leser sie rasch als so unerheblich durchschaut hätte, wie sie ist. Da ist es dann schon cleverer, sie der Legende von Jesus aufzupfropfen, was nicht zuletzt durch die Tatsache bewiesen wird, dass ich das Buch hier bespreche.

Herzlich gelacht habe ich nur an zwei Stellen: Eine wurde im Titel oben schon paraphrasiert. Während nämlich Maria Magdalena als erfahrene Gunstgewerblerin Jesus in verschiedene Sexualpraktiken einweist, findet sich bei der Lektion zum Oralsex auch Gelegenheit, die Qualität des Samens des Heilands positiv zu vermerken:

Schließlich konnte er es nicht mehr halten. Und kam in meinen Mund. Sein Samen war sahnig und fein.

Na, wenn das kein Abendmahl ist! Die andere überaus spaßhafte Bemerkung entschlüpft dem Autor, als Jesus nach der Auferstehung gern etwas zu trinken hätte:

»Liebste.«, sagte er heiser. »Ich habe Durst.«
In der Nacht hatten uns Josephs Leute versorgt. Ich sah am Eingang des Grabes Krüge stehen. Und Tonbecher. »Ich habe Wein.«
»Dann gib mir bitte Wein. Unvermischt. Ich hatte einen schlechten Tag. Und einen noch schlechteren Morgen.«

„Liebling, bin wieder da! Hast Du einen Wein für mich? Ich hatte heute einen echt schweren Tag am Kreuz!“ – So lieben wir unsere Götter!

3. Der Grund, warum ich das Buch überhaupt rezensieren wollte, war, dass es als Sachbuch beworben wurde, in dem es um die Datierung der Geburt von Jesus von Nazareth gehe. Dazu ist das Buch allerdings unergiebig. Nur eine Fußnote gibt trocken und ohne weitere Erklärungen folgende Daten:

Die Geburt fand am 9. Feb. 15 n. d. Zw. um 15:26 Uhr Ortszeit statt.
Sechs Tage später, also am 14. Feb., stand Mars genau zwischen Jupiter und Saturn.

Sehen wir davon ab, dass der 14. nicht sechs, sondern fünf Tage nach dem 9. liegt: Angehängt ist diese Fußnote an einen Satz, der dem gerade geborenen Jesuskind zugeschrieben wird: „Durch die Tür sah ich Mars, wie er rückwärts zwischen Saturn und Jupiter lief.“ Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass sich Mars rückläufig am Himmel bewegt haben soll. Die Rückläufigkeit von Planeten ist ein optisches Phänomen, das den Astronomen der Antike große Erklärungsschwierigkeiten bereitet hat. Es entsteht dadurch, dass die Erde an einem der oberen Planeten vorbeiläuft und dieser Planet dabei optisch vor der Fixsternsphäre zurückbleibt. Diese Rückläufigkeit ist bei Mars besonders auffällig, da Mars der Erde bei diesem Überholvorgang astronomisch relativ nahe ist und so ein erheblicher optischer Effekt entsteht. Nun kann man leider in einem Blick nicht erfassen, ob ein Planet gerade rückläufig ist, sondern kann dies nur aus Beobachtungen an mehreren Tagen oder wenigstens zu verschiedenen Stunden erkennen.

Nun wäre Jesus nicht Jesus, wenn er nicht – und das kurz nach seiner Geburt, wenn bei normalen Babys das Sehvermögen noch gar nicht so ausgebildet ist, dass sie ein weit entferntes Objekt wie den Mars sehen könnten – sofort erkennte, dass Mars rückläufig ist. Nun wäre Jesus aber leider auch dann nicht Jesus, wenn er sich dabei irrte, und das tut er, zumindest, wenn er – wie der Autor angibt – am 9. Februar 15 geboren sein soll. Denn im Jahr 15 wurde Mars um den 22. Juli herum rückläufig, und sowas geschieht höchstens einmal in einem Jahr. So ein Pech aber auch!

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

Das Jahr 15 ist ansonsten kein origineller Einfall des Autors, sondern eines der bekannten Spekulationsdaten eben aufgrund der erwähnten nahen Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn, die astronomisch selten ist und für astrologisch bedeutsam gehalten wurde und wird. Da die Amtszeit des Pontius Pilatus aus anderer Quelle gesichert ist, muss Sananda seinen Jesus spätestens am Passah-Fest im Jahre 36 kreuzigen lassen, so dass er bei ihm zu diesem Zeitpunkt erst 21 ist. Auch dies ist ein eher ungünstiger Widerspruch zu den biblischen Quellen, die das Wirken Jesu in sein 30. bis 33. Lebensjahr verlegen. Zwischen einem 20- und einem 30-Jährigen werden auch die Apostel recht sicher haben unterscheiden können. Aus diesem Grund steht das Jahr 15 in der biographischen Forschung zu Jesus von Nazareth auch kaum ernsthaft zur Debatte.

Aber Schwamm drüber! Reden wir nicht weiter davon!

Uwe Sananda: Galiläa Zeitenwende. Die Biographie Jesu. Weingarten: Next-Books.de, 2008. Broschur, 184 Seiten. 12,50 €.

(geschrieben für Literaturwelt)

Stendhal: Rot und Schwarz

stendhal-rot Die Neuübersetzung von Elisabeth Edl präsentiert den Roman in weiten Teilen in einer nüchternen, manchmal sogar lakonischen Sprache und hebt sich damit von allen früheren Übersetzungen ab. Vertraut man der Übersetzungskritik im Anhang (S. 724–726), so liegt mit dieser Neuübersetzung erstmals eine dem Original adäquate deutsche Ausgabe vor. Ob dies – unabhängig von der Frage der früheren Übersetzungen – tatsächlich der Fall ist, müssen andere beurteilen, da mir die dafür notwendigen Sprachkenntnisse fehlen. Allerdings macht die Übersetzung insgesamt einen sorgfältigen und ausgewogenen Eindruck. Sie liegt inzwischen auch schon im Taschenbuch bei dtv vor.

Der schon erwähnte Anhang enthält sowohl einen klugen und zur historischen Einordnung des Buches hilfreichen Essay als auch umfangreiche Anmerkungen zu Einzelstellen, die nicht nur sachliche Erläuterungen liefern, sondern in Auszügen auch Stendhals spätere Selbstkritik des Romans dokumentieren. Ich hätte es für die Erst-Lektüre wohl hilfreicher gefunden, wenn man diese beiden Ebenen getrennt hätte; aber das ist eine Kleinigkeit.

Insgesamt kann die Ausgabe zur Erst- oder erneuten Lektüre des Romans unbedingt empfohlen werden. Überhaupt ist er nicht nur an sich ein Lesevergnügen, sondern stellt auch eine wichtige Stufe in der Entwicklung des modernen Romans dar. Julien Sorel ist fraglos ein Vorläufer Frédéric Moreaus, wenn Flaubert auch auf äußerere Dramatik weitgehend verzichtet. Dabei ist Stendhal sowohl gesellschaftlich als auch politisch deutlich reicher als Flaubert, ohne dabei die Psychologie und innere Dynamik seiner Figuren zu vernachlässigen. Um Julien Sorel entsteht ein erstaunlich reiches und detailliertes Bild der französischen Gesellschaft der Restauration am Fuße der Juli-Revolution 1830.

Für alle, die den Roman noch nicht kennen, eine echte Empfehlung, wenn man an der Literatur und/oder an der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert ist.

Stendhal: Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2004. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 872 Seiten. 29,90 € (nur für Mitglieder der BG).

Miniaturen (6)

Die Gutsherrschaft war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen das Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde, umgelegt wurde. Das junge Blut weinte sehr, teils weil es die Sitte so wollte, teils aus wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen Haushalt vorstehen, unter den Augen eines mürrischen alten Mannes, den sie noch obendrein lieben sollte. Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des Hohen Liedes, der »in die Kammer tritt wie die Morgensonne.« – »Du hast nun genug geweint,« sagte er verdrießlich; »bedenk, du bist es nicht, die mich glücklich macht, ich mache dich glücklich!« – Sie sah demütig zu ihm auf und schien zu fühlen, daß er recht habe.

Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche

Allen Lesern ins Stammbuch (15)

Ach, Monsieur, ein Roman ist ein Spiegel, der eine Landstraße entlangspaziert. Mal spiegelt er das Blau des Himmels wider, mal den Schlamm der Drecklöcher auf der Straße. Und der Mann, der den Spiegel auf seinem Rücken trägt, wird von Ihnen der Unmoral beschuldigt! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und Sie beschuldigen den Spiegel! Beschuldigen Sie lieber die Landstraße mit ihren Drecklöchern oder noch besser den Beamten von der Straßenaufsicht, der zuläßt, daß das Wasser faulig wird und ein Dreckloch entsteht.

Stendhal
Rot und Schwarz

Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein!

stroh-latein Eine kleine Geschichte der lateinischen Sprache von den Anfängen bis in die Gegenwart liefert das Büchlein. Es zielt offensichtlich auf eine breitere Leserschaft ab und ist daher mit seinem saloppen Ton etwas oberflächlich geraten, was aber die Zielgruppe, die von lateinischer Literatur und ihren Autoren nur wenig wissen wird, nicht weiter stören sollte. Mir ist der Enthusiasmus des Autors etwas auf die Nerven gegangen, ebenso wie seine Manier, seine antikommunistische Idiosynkrasie zu thematisieren. Ein neutralerer Ton hätte dem Buch gutgetan: Es ist nicht nötig, einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung ein Internat in Malawi »heimsuchen« zu lassen, ebensowenig den Pädagogen Herbart als »griesgrämig« zu bezeichnen, nur weil er das Argument, Latein schule das Denken, für Unsinn hält. Auch hat sicherlich Karl Marx nicht die Bezeichnung Kommunismus statt Humanismus benutzt, weil er »Angst« hatte, »ein Humanistisches Manifest […] in Latein schreiben zu müssen.« Und ganz sicher ist die Vorherrschaft des Englischen in den modernen Wissenschaften nicht »verheerend«, sondern höchstens bedauerlich oder unangemessen. Hier und an vielen anderen Stellen wäre es angebracht gewesen, wenn der Autor seinen Humor ein wenig die Zügel hätte spüren lassen.

Die historische Darstellung ist durchtränkt von einer fachlich nicht unkomischen Cicero-Begeisterung Strohs, die aber angesichts der Tatsache, dass Cicero heutzutage gewöhnlich als eine Art Schulbuch- Autor angesehen wird, als ausgleichende Ungerechtigkeit begriffen werden kann. Die historische Darstellung legt das Schwergewicht auf die römische Antike und dann wieder auf die Neuzeit. Das lateinische Mittelalter wird etwas summarisch abgehandelt und der Leser dann auf Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter verwiesen, wo er sich allerdings gehörig umgucken dürfte, falls er hier eine Fortsetzung Strohs erwarten sollte.

Insgesamt ein inhaltlich nicht unproblematisches Buch, das aber als Einstieg ins Thema weitgehend konkurrenzlos dasteht und dem Laien wahrscheinlich nützliche Dienste leisten wird. Wer eine römische Literaturgeschichte sucht, sollte besser zur Geschichte der römischen Literatur von Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1999) greifen.

Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2007. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 415 Seiten. 15,90 € (nur für Mitglieder der BG).

Johannes Willms: Balzac

willms_balzacJohannes Willms legt eine sehr lesbare, detaillierte und kenntnisreiche Biographie dieses in Deutschland immer noch als zweitrangig betrachteten Autors vor. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerbiographien akademischen Ursprungs handelt es sich tatsächlich um eine Lebensbeschreibung, nicht um eine Einführung ins Werk. Auch im Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten verzichtet Willms auf Fußoder Endnoten oder ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Sekundärliteratur, was ihm die meisten Leser wahrscheinlich danken werden. Was allerdings schmerzlich fehlt sind Abbildungen; besonders Reproduktionen der an einigen Stellen erwähnten zahlreichen Karikaturen Balzacs habe ich vermisst.

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau. Balzac hat Zeit seines Lebens mit seinen ständig wachsenden Schulden und seinen Gläubigern gerungen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, seinen luxuriösen Lebensstil fortzuführen, ja den Luxus entgegen besserer finanzieller Einsicht immer noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac stets durch irgendwelche wundersamen Geschäftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nächsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag aller Sorgen entledigen sollte. Mehr der Not gehorchend als der Neigung sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stützen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. So erwähnt Willms häufiger strohgelbe Glacéhandschuhe, von denen Balzac scheint’s immer ein oder zwei Dutzend Paar zur Verfügung haben musste, um sich wohl zu fühlen.

Willms Biographie zeichnet sich durch ihren Stil und ihre Aufrichtigkeit aus. Wie schon für seinen »Napoleon« wertet Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu erreichen. Dabei weicht er den unangenehmen Seitens Balzacs nicht aus: nicht dem gespannten und oft wahnverpflichteten Verhältnis zur Mutter, nicht seiner rücksichtslosen Ausnutzung von Menschen, die ihn offensichtlich schätzen oder gar lieben, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenüber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung für seine Misere auf andere zu übertragen, nicht der gänzlich blauäugigen Naivität in Geld- und Geschäftsangelegenheiten. All dies wird von Willms mit der nötigen Neutralität dargestellt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen, ohne aber auch zu behaupten, dies alles sei notwendig so geschehen, wie es geschehen ist. Willms bewahrt eine objektive, aber zugleich empathische Distanz, die man sich in der biographischen Literatur häufiger wünschen würde. Hinzukommt, dass Willms über eine eingängige und sehr gut lesbare Sprache verfügt, die das Buch zu einem wirklichen Lektürevergnügen macht. – Allen »guten Lesern« ans Herz gelegt!

Johannes Willms: Balzac. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 367 Seiten. 24,90 €.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters

widmer_vater In Der Geliebte der Mutter spielte der Vater des Erzählers eine marginale, rein funktionale Rolle: Die Mutter, enttäuscht von ihrem Geliebten Edwin, heiratet den ersten besten Mann, der ihr über den Weg läuft, hat mit ihm ein Kind und verfällt dann langsam, aber sicher ihrer großen Krise. Nach Hochzeit und Zeugung wird der Vater wohl nur noch ein- oder zweimal erwähnt, er scheint aber weder für sich noch für die Mutter irgend eine Bedeutung zu haben.

Dieses Manko behebt Widmer nun mit diesem Buch, das die Geschichte des Vaters erzählt. Im Buch heißt der Vater zwar Karl, aber zahlreiche Lebensdetails dürften direkt der Biographie des Romanisten und Übersetzers Walter Widmer entnommen sein, was das Buch wesentlich reichhaltiger und spannender werden lässt als seinen Vorgänger. Widmer macht aber deutlich, dass es sich nicht um den Versuch einer Biographie seines Vaters handelt, sondern er im Gegenteil eine Figur erfindet, die sein Vater hätte sein können. Auch darf man nicht erwarten, dass beide Bücher naht- und bruchlos ineinandergreifen; sie widersprechen einander sogar in wesentlichen Details, da es sich in beiden Fällen um fiktionalisierte und erzählerisch idealisierte Biographien handelt, die auf die eine Strukturierung und Intensivierung der biographischen Wirklichkeit abzielen. Man sollte sie also zugleich und gleichwertig als Pendants und jeweils für sich stehend lesen.

Das Buch des Vaters beginnt mit der Feststellung: »Mein Vater war ein Kommunist.« Im Gegensatz zu diesem Auftakt folgt aber nun gerade keine politische Biographie, sondern die Politik spielt eher eine Nebenrolle. Indem der Erzähler dann den Tod des Vaters vorwegnimmt, führt er das zentrale Motiv des Buches ein, das auch den Titel des Buches bedingt: Der Vater verfügt über ein Lebensbuch, das er an seinem zwölften Geburtstag in einer märchenhaften, feierlichen Zeremonie im Heimatdorf seines Vaters überreicht bekommen hat und in dem er von da an täglich Ereignisse und Gedanken seines Lebens notiert. Allerdings ist Das Buch des Vaters nicht mit diesem Lebensbuch identisch; aber da soll nicht zuviel verraten werden.

Was Das Buch des Vaters deutlich angenehmer als Der Geliebte der Mutter macht, ist sein größerer Humor, was aber in der Hauptsache stoffliche Gründe haben dürfte. Während Der Geliebte der Mutter die Geschichte eines Liebeswahns ist, von dem sich die Mutter bis an ihr Lebensende nicht wirklich zu befreien versteht, erinnert Das Buch des Vaters eher an einen Schelmenroman, den Roman eines beinahe romantischen Taugenichts, der sein Leben weitgehend sorglos treiben lässt, seiner Leidenschaft für französische Literatur und hier und da auch die Frauen lebt und ansonsten den Lieben Gott einen guten Mann sein lässt. In einem gewissen Sinne ist er noch weltverlorener als die Mutter, was wiederum einen wichtigen Reflex auf das Buch der Mutter wirft, da es verständlich macht, warum der Vater in ihm eine so marginale Rolle spielt.

Erst zusammen mit diesem Buch wird Der Geliebte der Mutter richtig rund, und es ist, wie bereits gesagt, zu empfehlen, beide Bücher als Passepartouts für einander zu lesen.

Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. Zürich: Diogenes Verlag, 2005. Pappband, 209 Seiten. 8,90 €.