Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«

978-3-548-60784-9Sogenannte autorisierte Biografie Marlen Haushofers, was auch in diesem Fall wenig anderes bedeutet, als dass sich die Verfasserin von der Nachlassverwaltung einen Maulkorb hat umhängen lassen müssen, um wenigstens an irgendein Material heranzukommen. Inwieweit die Biografie korrekt ist, lässt sich nicht beurteilen, da sie derzeit allein auf weiter Flur steht. Angesichts der naiven Laienanalyse, zu der Daniela Strigl neigt, bin ich eher geneigt, ihr nicht weit über die blanken Fakten und Daten hinauszutrauen; doch ist hier – wie gesagt – kein solider Grund zu gewinnen.

Was das Leben Marlen Haushofers angeht, so sind ihre »originellen« Lösungen bestimmter Lebenslagen zu bewundern: Als sie von ihrem ersten Verlobten ungewollt schwanger wird, heiratet sie ihn etwa nicht – was der Reflex der Zeit gewesen ist –, sondern löst die Verlobung und bekommt das Kind heimlich, wahrscheinlich um ihrer streng katholischen Mutter gegenüber den vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht eingestehen zu müssen. Auch als ihre spätere Ehe in eine scharfe Krise gerät, bewährt sich ihr Sinn für überraschende Lösungen: Die Eheleute lassen sich scheiden, verraten es aber niemandem und leben auch weiterhin in einem gemeinsamen Haushalt. Man gibt sich also nach innen hin gegenseitig die »Freiheit«, hält aber nach außen hin die bürgerliche Fassade aufrecht.

Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«. Marlen Haushofer – die Biografie. List Taschenbuch 60784. Berlin: List, 32009. 406 Seiten. 9,95 €.

Marlen Haushofer: Die Wand

978-3-548-60571-5Das Buch, mit dem sich Marlen Haushofer in die deutschsprachige Literatur eingeschrieben hat. Der bis heute anhaltende Erfolg ist wohl in der Hauptsache einer feministischen Lektüre des Buches zu verdanken, die aber nur einen der vielfältigen sich anbietenden Zugriffe darstellt.

Die Fabel des Buch dürfte weitgehend bekannt sein: Es handelt sich um den Bericht einer namenlosen Erzählerin, die sich bei einem Kurzurlaub im Gebirge unversehens von einer durchsichtigen Wand von der übrigen Welt abgeschnitten sieht, in der alle höheren Lebewesen gestorben zu sein scheinen. Weder die Existenz der Wand noch der allgemeine Tod außerhalb von ihr werden im Roman zureichend erklärt und müssen als Voraussetzung der Fiktion schlicht hingenommen werden. Den Hauptteil des Berichts, der eine Rückschau der Erzählerin nach 2½ Jahren darstellt, bildet die Beschreibung des blanken Überlebens im abgezirkelten Bereich der Wand. Die Autorin stellt ihrer Figur die notwendigsten Grundlagen zum Überleben zur Verfügung: Werkzeug, Saatgut (Kartoffeln und Bohnen), ein Gewehr mit Munition und schließlich auch eine trächtige Kuh. Zudem bekommt sie eine Katze und einen Hund als Gefährten zugesellt. Die Parallelen zum »Robinson Crusoe« sind offensichtlich, doch ist dies nicht die einzige Lesart, die das Buch anbietet.

Es lässt sich ebenso als Dystopie, Katastrophenroman, psychische Allegorie oder existentialistisches Experiment lesen; wie schon erwähnt, hat sich auch die feministische Literaturforschung den Text erfolgreich angeeignet. Der Text hält offenbar für alle diese Zugriffe ausreichendes Material bereit, ohne von seiner Autorin auf eines dieser Konzepte hin festgelegt worden zu sein. Es scheint vielmehr von seinem stofflichen Grundeinfall her geschrieben und ansonsten bewusst so offen wie möglich angelegt worden zu sein. Dies führt für manchen Leser sicher zu der unbefriedigenden Lage, dass viele Details schlicht als willkürlich gesetzt und unreflektiert erscheinen; andererseits muss man der Autorin zugestehen, dass sie aus der doch recht dünnen stofflichen Grundlage knapp 280 Seiten Text zu erzeugen verstanden hat, ohne die Geduld der Leser übermäßig zu strapazieren.

Ein ungewöhnliches Buch, das einerseits der apokalyptischen Stimmung seiner Zeit Rechnung trägt, andererseits das Thema vom Einzelnen und seiner Welt originell durchexerziert.

Marlen Haushofer: Die Wand. List Taschenbuch 60571. Berlin: List, 122009. 285 Seiten. 8,95 €.

David Gilmour: Unser allerbestes Jahr

978-3-10-027819-7Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte, in lakonischem Ton erzählt. Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung eines kanadischen Autors, dessen heranwachsender Sohn sich so sehr mit der Schule quält, dass er ihm anbietet, er müsse nicht mehr dorthin gehen, falls er bereit sei, sich zum Ausgleich pro Woche drei Filme zusammen mit dem Vater anzusehen. Der Vater hat eine Filmhochschule besucht, was verständlich macht, dass er das Anschauen von Filmen für ein alternatives Erziehungsprogramm hält. Das Buch heißt denn auch im Original »The Film Club«, was dem deutschen Verlag wahrscheinlich ein zu männlicher Titel war, weshalb er ihm den nicht nur belanglosen, sondern auch noch sachlich falschen deutschen Titel verpasste: Das Buch beschreibt nämlich drei Jahre dieses Vater-Sohn-Experiments und nicht nur eines.

Abgesehen davon ist das Buch eine nette Unterhaltungslektüre, von deren cineastischer Ebene man allerdings nicht zu viel erwarten sollte. Die Filmauswahl selbst ist gut, wenn auch in weiten Teilen dem Mainstream folgend und nur hier und da für echte Tipps gut. Die Besprechung der Filme durch Vater und Sohn hat ja nach Film recht unterschiedliches Gewicht, doch nichtsdestotrotz bekommt der Junge eine solide Einführung ins kritische Anschauen von Filmen. Und zumindest ich kann niemandem böse sein, der »Ishtar« schätzt. Ansonsten erfahren wir auch viel über die ersten Liebesbeziehungen des Sohnes, bei denen der Vater den Sohn zu stützen versucht, wo er kann; dann auch ein wenig über die erste und zweite Ehe des Vaters (der Sohn stammt aus der ersten Ehe), dessen Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, von Abenteuern auf Kuba und der frühen Gesangskarriere des Sohnes. Alles in allem muss man wohl sagen, dass es sich bei David Gilmour um einen außergewöhnlich coolen Vater handelt.

Ein entspanntes Buch, dessen Hauptforce darin besteht, wenig Aufhebens von sich zu machen. Es wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert.

David Gilmour: Unser allerbeste Jahr. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2009. Pappband, Lesebändchen, 254 Seiten. 18,95 €.

Émile Zola: Seine Exzellenz Eugène Rougon

zola_rougonNach dem Experiment mit symbolistischen Elementen in »Die Sünde des Abbé Mouret« kehrt der nächste Roman der Rougon-Macquart zum gesellschaftlichen und politischen Hauptthema des Zyklus zurück: Wie der Titel schon anzeigt, steht in »Seine Exzellenz Eugène Rougon« jener Sohn Pierre Rougons und seiner Frau Félicité im Zentrum, der sowohl in »Das Glück der Familie Rougon« als auch in »Die Beute« als einflussreiche Figur im Hintergrund agierte und wohl auch in »Die Eroberung von Plassans« zu den fernen, geheimen Drahtziehern des Geschehens gehörte.

Eugène Rougon ist einer jener politischen Abenteurer, die beim Staatsstreich Napoleon III. mit nach oben gespült wurden. Wir finden ihn am Anfang des Romans, im Jahr 1856, bei seinem vorläufigen Abgang von der politischen Bühne: Er tritt als Präsident des Staatsrates wegen einer eher unerheblich erscheinenden Konfrontation mit der Kaiserin zurück. Rougon ist umgeben von einer Clique politischer Schmarotzer, die von ihm zahlreiche Gefälligkeiten erwarten, die nun durch seinen zeitweiligen Sturz gefährdet erscheinen. Darunter befindet sich auch die italienische Gräfin Balbi, deren Tochter Clorinde offensichtlich auf der Suche nach einem passenden Ehemann ist.

Zwischen Rougon und Clorinde entwickelt sich eine spannungsreiche Beziehung, die allerdings nicht zu einer Affäre gerät, da Rougon dies dadurch verhindert, dass er Clorinde mit einem seiner politischen Vasallen verkuppelt. Dennoch bleibt Clorinde auch weiterhin die einzige Leidenschaft Rougons außer der Macht.

Nach dem Orsini-Attentat am 14. Januar 1858 wird Rougon vom Kaiser zum zweiten Mal in das Amt des Innenministers berufen, in dem er seine Machtbesessenheit weitgehend rücksichtslos auslebt. Sein Programm besteht in der möglichst vollständigen Unterdrückung politischer Freiheiten und der Bekämpfung der Republikaner. Aber auch seine alten Freunde vergisst er nicht, wobei es gerade diese Vetternwirtschaft ist, die letztlich als Vorwand für seinen erneuten politischen Sturz dient. Nach nur fünf Monaten muss Rougon – in der Hauptsache aufgrund einer Intrige Clorindes – erneut die politische Bühne verlassen, aber auch diesmal ist sein Abgang nur vorläufig. Das letzte Kapitel des Romans zeigt uns Rougon 1861, also drei Jahre später, als er als frisch berufener Minister ohne Portefeuille im Corps législatif in einer großen Rede die kaiserliche Politik verteidigt.

Zola porträtiert in Eugène Rougon einen neuen, bürgerlichen Typus von Politiker, wie er ihn für das Zweite Kaiserreich für exemplarisch hielt: Einen Mann mit großen Machtinstinkt, aber geringer Bildung – Rougon bezeichnet sich mehrfach als einfachen Bauern, dessen Ideal eine absolute Herrschaft über Hof und Vieh darstellt –, der von Napoleon III. als fügsames, nützliches Instrument seiner Herrschaft eingesetzt wird. Rougon ist ein Mann ohne Geist oder Bildung und – abgesehen von seiner Leidenschaft für Clorinde, der er selbst versucht, die Spitze zu nehmen – mit nur einem einzigen Begehren, dem nach Macht. Den Mangel an Geist und Bildung ersetzt ein sicherer Instinkt für Menschenführung. Rougon betreibt keine Politik der Ziele, verfolgt kein anderes Programm als das der Herrschaft über andere, kennt kein politisches oder moralisches Ideal als das einer hündischen Loyalität zu seinem Herrscher, die aber auch nur als Mittel erscheint, selbst Herrschaft über andere zu erlangen. Rougon hat keine Freunde und keine familiären Bindungen, die ihn berühren; beinahe macht es den Eindruck, dass sein politischer Widersacher de Marsy die einzige Person ist, mit der ihn eine Emotion, Respekt, verbindet. Er ist ein Primitiver, eine kultureller Barbar, der in der Lust an seiner Funktion vollständig aufgeht.

»Seine Exzellenz Eugène Rougon« war einer der erfolglosesten Romane des Zyklus, vielleicht auch deshalb, weil sein Protagonist notwendig ein eindimensionaler, abstoßender und letztendlich langweiliger Charakter werden musste. Es gehört zu Zolas Qualitäten, sich in diesem Punkt nicht nach dem Geschmack der Mehrheit der Leser gerichtet zu haben.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Dennis Lehane: Shutter Island

978-3-548-26194-2An den Haaren herbeigezogener Psychothriller mit einem unzuverlässigen personalen Erzähler. Die erzählte Fabel ist bis ins Detail zu unwahrscheinlich und unausgegoren, um sie hier nacherzählen zu müssen. Ich hatte überhaupt nur zu dem Buch gegriffen, da von Lehane die Romanvorlage zum Film »Mystic River« stammt, der mir gut gefallen hat. Ich hätte eben auf meine Instinkte hören und zurückzucken sollen, als ich auf der Rückseite des Buches geschrieben fand, das Buch sei »für jeden anspruchsvollen Thriller-Fan ein Muss« und das Wort »genial« gleich noch dahinter angehängt. Wenn dies tatsächlich die Lektüre anspruchsvoller Thriller-Fans darstellt, was müssen sich dann wohl die armen ohne Anspruch zu Gemüte führen?

Dennis Lehane: Shutter Island. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. Ullstein Tb. 26194. Berlin: Ullstein, 2005. 365 Seiten. 8,95 €.

Michael Chabon: Schurken der Landstraße

978-3-462-04189-7Witzger, kleiner Abenteuerroman, in dessen Zentrum zwei jüdische Abenteurer stehen, die sich im 10. nachchristlichen Jahrhundert im Reich der Chasaren zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer herumtreiben. Zelikman, offenbar ein Regensburger Arzt, und Amram, der aus Afrika stammt, geraten durch Zufall in die Folgen eines Staatsumsturzes. Ihnen fällt der einzige Überlebende des alten Herrscherhauses in die Hände, den sie zu einem Verwandten in Sicherheit bringen sollen. Aber natürlich geraten sie zwischen alle Fronten, so wie sich das für zwei echte Abenteurer gehört. Die Fiktion ist kenntnisreich und detailliert, die Fabel genretypisch, allerdings durch einige Übertreibungen und besonders auch den tief pessimistischen Zelikman – einen Don Quijote ganz eigenen Gepräges – weitgehend ironisiert.

Angenehme, leichte Lektüre für nebenbei, dafür aber deutlich zu teuer.

Michael Chabon: Schurken der Landstraße. Eine Abenteuergeschichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010. Pappband, Karte auf dem vorderen Vorsatz, 184 Seiten. 17,95 €.

Émile Zola: Die Sünde des Abbé Mouret

zola_rougonDer fünfte Roman der Rougon-Macquart schließt nahezu unmittelbar an den vierten, »Die Eroberung von Plassans«, an. Im Mittelpunkt steht Serge, der Sohn von François und Marthe Mouret, der im vorangegangenen Buch bereits das Priesterseminar besucht hatte und nun in dem winzigen Ort Les Artaud Priester ist. Bei ihm lebt auch seine Schwester Désirée, die zwar geistig etwas zurückgeblieben zu sein scheint, nichtsdestotrotz aber der wohl glücklichste Mensch im ganzen Roman ist. Serge Mouret scheint zuerst nur ein etwas schüchterner, den Ansprüchen seiner bäuerlich-robusten Gemeinde nicht ganz gewachsener Geistlicher zu sein, doch erweist er sich rasch als Opfer eines tiefen religiösen Wahns, der sich in einem privaten Kult der Marienverehrung manifestiert.

Überfordert von seinen seelsorgerischen Pflichten und überspannt durch seinen Wahn bricht er eines Nachts zusammen und wird von seinem Onkel, dem Doktor Pascal aus Plassans, zur Pflege in ein nahe gelegenes Refugium gebracht: das Paradou, einen ehemaligen herrschaftlichen Garten, der inzwischen verwildert ist. Dort lebt Albine, ein kaum 16-jähriges Mädchen, mit ihrem Onkel Jeanbernat, einem eingefleischten Atheisten, der das Mädchen ebenso hat verwildern lassen wie den Garten. Serge ist durch seinen Zusammenbruch seines Gedächtnisses beraubt worden und so in einen Zustand der Unschuld zurückversetzt worden. Der Prozess seiner Genesung ist eng verknüpft mit der Erforschung des riesigen Gartens und dem Wachsen der Liebe zwischen Albine und ihm. Dieser Prozess gipfelt darin, dass Albine eine geheimnisvolle Lichtung im Park entdeckt, in deren Zentrum ein uralter Baum steht. Dort lieben sich Albine und Serge zum ersten Mal, und Serge, auf diese Weise wieder vollständig gesundet, findet sein Gedächtnis wieder und muss in die Welt zurück.

Der dritte Teil des Romans resümiert den angerichteten Schaden: Serge hat sowohl seinen religiösen Glauben des ersten, als auch den unreflektierten Zugang zur Natur des zweiten Teiles verloren. Zwar erfüllt er auch weiterhin die Pflichten als Pfarrer, doch hat er seinen Marienkult zugunsten eines Kreuzkultes aufgegeben. Doch die scheinbar wiedererlangte Normalität seines Lebens wird durchbrochen, als Albine ihn in der Kirche aufsucht. Diese Begegnung löst in Serge eine massive Vision aus, in der das Kirchengebäude von der Natur angegriffen und vollständig zerstört wird. Serge ist daraufhin bereit, zu Albine ins Paradou zurückzukehren, doch erweist sich natürlich die einmal verlorene Unschuld als unwiederbringlich. Albine bereitet sich ein Sterbelager aus Blumen und vergeht zwischen ihnen. Serge nimmt zu seine Pflichten als Pfarrer wieder auf und mit der Beisetzung Albines endet der Roman.

Vielleicht macht diese Inhaltsangabe schon deutlich, dass es sich bei »Die Sünde des Abbé Mouret« um einen ungewöhnlichen Roman Zolas handelt. Neben seiner grundlegenden naturalistischen Tendenz weist er zusätzlich klar symbolistische Strukturen auf. Besonders im zweiten, mittleren Teil des Romans geraten der zur Natur verwilderte Garten und die zur Unschuld zurückgekehrten Kinder zu einer Allegorie des Paradieses. Die reine Liebe zwischen Albine und Serge verkommt aber im Laufe von Serges Gesundung, bis sich die Natur ihr Recht verschafft. In Zolas Paradies gibt es keinen personifizierten Verführer, sondern die Natur selbst ist es, die die Unschuldigen zur Sünde verführt. Wie wichtig Zola diese Allegorie war, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er aus dem in der Dorfschule unterrichtenden Klosterbruder zugleich einen Erzengel – Bruder Archangias – macht, der denn auch pünktlich am Ausgang des Paradou steht, um in Serge Adam zum zweiten Mal aus dem Paradies hinauszuweisen. Auch Désirée ist in diese allegorische Ebene des Romans eingebunden: Sie betreibt bei der Pfarre selbstständig einen kleinen Wirtschaftshof und steht mit ihrem pragmatischen Umgang mit der nützlichen Natur in der Mitte zwischen  Serges Naturphobie und Albines romantisierender Unschuld. In Désirées Welt sind Geburt und Tod notwendige Elemente im Prozess alles Lebendigen.

Es wäre aber verfehlt, »Die Sünde des Abbé Mouret« aufgrund dieser symbolistischen Tendenzen für einen nicht-naturalistischen Ausrutscher Zolas zu halten. Gerade im zentralen allegorischen Teil des Buches frönt Zola ausgiebig einem überschwänglichen Realismus: Weite Passagen der Beschreibung des Paradou lesen sich wie ein umgestülptes botanisches Bestimmungsbuch; ebenso herrscht bei der Darstellung des Gottesdienstes und der dafür nötigen Zurüstungen und Gerätschaften eine minutiöse Detailversessenheit, die nahtlos an »Die Beute« und »Der Bauch von Paris« anschließt. Und auch bei der Schilderung des Dorfes Les Artaud und seiner Bewohner lässt Zola seinen präzisen Blick nicht vermissen: Ehen sind auch hier in erster Linie eine Frage des Geldes und erst in zweiter oder dritter eine der Moral, heidnische Rituale und christlicher Glaube existieren fröhlich Seite an Seite, und in der Kirche bewundern die Bauern mehr die Eloquenz des Priesters oder die frisch gestrichenen Möbel als die gepredigten Glaubensinhalte. Und nicht zuletzt dürfte die handfeste Schlägerei zwischen Bruder Archangias und dem Atheisten Jeanbernat ein Bild von der Lage der katholischen Kirche in Frankreich zeichnen, das weder dem Bürgertum noch der Geistlichkeit gefallen haben dürfte.

»Die Sünde des Abbé Mouret« erweist sich als eine überraschende Mischung zeitgenössischer Stile und liefert trotz aller Allegorie mit der innerlich und äußerlich kleinen Welt, die er präsentiert, einen weiteren wesentlichen Mosaikstein zum umfassenden soziologischen Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Benjamin Stein: Die Leinwand

978-3-406-59841-8-1Einer der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre. Es beginnt damit, dass es sich bei diesem Buch um einen sogenannten Zwillingsband oder ein Dos-à-dos handelt, also ein Buch, das zwei Texte enthält, die Rücken an Rücken einen Einband teilen. Das Buch hat daher zwei vordere Buchdeckel, zwei Titelblätter etc.; aus Sicht des einen Textes steht der jeweils andere auf dem Kopf. Durch diese ungewöhnliche Präsentation der beiden Texte, die sich zu einem Roman fügen, erscheinen beide tatsächlich gleichberechtigt, und der Autor überlässt es dem Leser ausdrücklich, wo er mit dem Lesen anfängt, ja auch, ob er zuerst den einen Text zur Gänze und dann den anderen oder ob er seiner Lektüre sonst eine (Un-)Ordnung zugrunde legen will.1 Natürlich hält man dergleichen auf den ersten Blick für einen Manierismus des Autors (was es in vielen ähnlich gelagerten Fällen auch ist), doch leuchtet es nach der Lektüre ein, dass kaum eine andere Form dem Roman angemessen wäre.

978-3-406-59841-8-2Die bedeutendste Schwierigkeit für eine Rezension scheint mir zu sein, die Fabel auch nur andeutungsweise nachzuerzählen, ohne dem Leser einen Teil des Spaßes an der Lektüre zu nehmen. Vielleicht nur soviel: Der Roman erzählt das Leben zweier Juden nach, die sehr unterschiedliche Biographien haben, deren Leben aber durch die Bekanntschaft mit einer dritten Person unlösbar miteinander verschränkt werden. Amnon Zichroni stammt aus Israel, zieht aber als Jugendlicher zu einem Nenn-Onkel nach Zürich, der für seine Ausbildung sorgt. Zichroni hat die ungewöhnliche Gabe, Erinnerungen anderer Menschen durchleben zu können. In der Absicht, diese Fähigkeit zum Wohle anderer einzusetzen, wird er Psychoanalytiker. Jan Wechsler dagegen ist zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin aufgewachsen und ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller geworden. Wie schon gesagt, ist beider Leben durch ihre Bekanntschaft mit einer dritten Person verbunden, über die man am besten vorweg so wenig wie möglich erzählt.

Das zentrale Thema des Romans ist die Frage nach der Identität: Wie konstituiert sich ein Mensch, wenn seine Erinnerungen nicht ihm zu gehören scheinen bzw. den sogenannten Tatsachen seines Lebens widersprechen. Wann und wie hört jemand auf, er selbst zu sein? Ist er in der Lage, seine Erinnerungen angesichts dieser Tatsachen aufrecht zu erhalten oder wird er sie aufgeben und akzeptieren, dass er nicht ist, wen er zu erinnern glaubt? Diese Fragen scheinen sehr abstrakt zu sein, und es ist kein kleines Kunststück, einen Roman zu erfinden, in dem sie sich in eine wirklichkeitsnahe und überzeugende Fabel einfügen.

Es beweist die Stärke von Steins Roman, dass er die Antworten, nach denen seine Erzählung verlangt, nicht auszubuchstabieren braucht, sondern dass er es sich leisten kann, vieles – wenigstens dem Anschein nach – offen zu lassen. Das Buch mündet in ein sorgfältig konstruiertes Rätsel, dessen Lösung zu entdecken der Autor ganz bewusst seinen Lesern überlässt. Was der Autor ausdrücklich nicht erzählt, gehört mit zum Interessantesten an diesem Buch.

Eine der überraschendsten und intelligentesten Lektüren seit langem – jedem ambitionierten Leser unbedingt empfohlen!

Benjamin Stein: Die Leinwand. München: C.H. Beck, 2010. Pappband, 416 Seiten. 19,95 €.

1: Es sei hier nur ganz am Rand und sehr leise und entgegen der Intention des Autors empfohlen, zuerst der Geschichte Amnon Zichronis zu folgen und dann erst die Jan Wechslers zu lesen.

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren

978-3-423-20655-6Jaan Kross ist von all den unbekannten estnischen Autoren wahrscheinlich der bekannteste, da etwa ein halbes Dutzend seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden, angefangen bei seinem großen ersten »Das Leben des Balthasar Rüssow«, der bereits 1984, also nur vier Jahre nach Erscheinen des vierten Bandes in Estland, in der DDR erschien. Ich hatte mir danach immer wieder vorgenommen, mehr von Kross zu lesen, bin aber erst in den letzten Wochen dazu gekommen.

Auch bei »Der Verrückte des Zaren« (1978) handelt es sich um einen historischen Roman. Kross erzählt die Geschichte des baltendeutschen Adeligen Timotheus Eberhard von Bock, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts unter Zar Alexander I. in der russischen Armee Karriere macht und sich 1816 auf ein Gut in Estland zurückzieht. Er war zuletzt als Oberst Flügeladjutant des Zaren, mit dem ihn eine freundschaftliche Beziehung verbunden zu haben scheint.

Für Kross wird von Bock erst nach diesem Rückzug aus Russland interessant, da er kurz darauf gleich zwei in den Augen der meisten seiner Zeitgenossen unverzeihliche Fehler begeht: Zum einen heiratet er ein estnisches Mädchen (eine doppelte Mesalliance: eine kaum bürgerliche und estnische Braut), zum anderen wendet er sich 1818 mit einer Denkschrift an den Zaren, die eine Beschränkung des Absolutismus und die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland fordert. Von Bock wird daraufhin festgenommen und unter der Voraussetzung, er sei verrückt, in Festungshaft genommen. Erst 1827 wird er in den Hausarrest auf seinen estnischen Gütern entlassen. Dort lebt er, bis er sich im Jahr 1836 wahrscheinlich das Leben nimmt.

Der Roman erzählt dieses Schicksal weitgehend getreu nach. Als Erzähler erfindet Kross einen Schwager von Bocks hinzu, also einen fiktiven Bruder von Kross Frau Eeva. Dieser Erzähler Jakob führt ein fiktives Tagebuch, in dem er einerseits fortlaufend, wenn auch mit immer größeren Lücken, die Ereignisse nach von Bocks Entlassung aus der Haft darstellt, andererseits durch Rückblenden die Vorgeschichte der Ehe und der Denkschrift einholt. Alle diese Aufzeichnungen, die angeblich in ein einziges Heft passen (der Roman umfasst knapp 400 Seiten), muss der Erzähler natürlich geheim halten; am Ende übergibt er sie Timotheus’ Sohn, dem er es überlässt, sie zu bewahren oder zu vernichten.

Mit der Wahl dieses estnischen Erzählers gewinnt Kross einen erheblichen Abstand zur Figur und den Handlungen von Bocks. So wundert sich Jakob zusammen mit dem Leser eine erhebliche Zeit lang, ob von Bock tatsächlich verrückt ist, es vielleicht schon immer war oder auch erst in der Haftzeit geworden ist. Auch teilt Jakob durchaus nicht den Idealismus seines Schwagers, sondern findet die Reaktion des Zaren auf die Denkschrift eher gnädig. Sogar zu seiner Schwester hat Jakob zu Anfang ein eher distanziertes Verhältnis. Diese doppelte Perspektive von Figuren und Erzähler, erlaubt es dem Autor, ein sehr differenziertes Bild der Verhältnisse zu zeichnen, wenn auch schließlich seine Sympathien für von Bock durchschlagen, wenn er den Lesern suggeriert, dessen Tod sei weder Selbstmord noch ein Unfall gewesen, sondern eine Hinrichtung durch einen zaristischen Agenten.

Nicht zuletzt wird der Roman dadurch interessant, dass Kross hier sicherlich eigene Erlebnisse verarbeitet: Sowohl seine Zeit in Sibirien als auch seine Erwägungen, ob er in Estland bleiben solle oder in den Westen gehen, sind anscheinend in den Text eingegangen. Ein ungewöhnlicher Roman, dem man ein paar Seiten mehr geben sollte, damit er seine Wirkung entfalten kann.

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. Aus dem Estnischen von Helga Viira. dtv 20655. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 32004. 415 Seiten. 11,90 €.

Émile Zola: Die Eroberung von Plassans

zola_rougonDer vierte Roman der Rougon-Macquart: Nachdem die Teile 2 und 3 des Zyklus in Paris spielen, kehrt der 4., wie bereits der Titel anzeigt, in die französische Provinz zurück. Die Romanhandlung umfasst die Jahre 1857 bis 1863 und erzählt im Wesentlichen die Geschichte des Abbé Faujas, der offensichtlich mit einer politischen Agenda nach Plassans kommt. Er wird Mieter bei François und Marthe Mouret, Cousin und Cousine aus der Familie Rougon-Macquart, die miteinander verheiratet sind und drei Kinder haben. Ihre beiden Söhne Octave und Serge gehen zu Anfang des Romans noch zur Schule, die Tochter Désirée ist geistig etwas zurückgeblieben und verbringt ihre Zeit hauptsächlich zusammen mit ihrer Mutter im Haus. Vater Mouret hat sich als Kaufmann zur Ruhe gesetzt, lebt im Wesentlichen von seinem Vermögen, das er hier und da durch ein lukratives Geschäft aufbessert.

In dieses bürgerlich ruhige, wenn auch etwas enge Familienleben kommt durch die Ankunft des Abbés und seiner Mutter Bewegung. Während diese beiden Mieter sich zu Anfang sehr zurückhaltend und diskret verhalten, beginnt im Laufe der Zeit das, was der Titel des Romans bereits besagt: Abbé Faujas, der zuerst als etwas obskure Gestalt in fadenscheiniger Kleidung auftritt, gewinnt langsam aber sicher mehr und mehr Sympathien in Plassans. Damit einher geht, dass er und seine Mutter in immer familiäreren Umgang mit der Familie Mouret kommen, was zu dramatischen Veränderungen in deren Familienleben führt. Vater Mouret, bislang ein unangefochtener Patriarch, wird durch den Einfluss des Priesters auf Marthe und die Köchin zur Randfigur im eigenen Haus. Marthe entschlüpft der atheistischen und antiklerikalen Indoktrination ihres Ehemannes und entwickelt als Ausdruck ihrer Verliebtheit in den Abbé eine schwärmerische Religiosität, der Sohn Serge geht sogar ins Priesterseminar, Tochter Désirée kommt in Pflege zu ihrer Amme, kurz gesagt: Der Haushalt Mouret löst sich peu à peu auf.

Was die gute Gesellschaft Plassans angeht, so vermeidet es Abbé Faujas sorgfältig, sich einer der politischen Parteien anzuschließen. Er hat das Haus der Mourets überhaupt nur als Wohnung ausgewählt, weil der Garten der Mourets genau zwischen zwei anderen Gärten liegt, in denen regelmäßig die beiden politisch führenden Gruppen Plassans zusammenkommen. Der eigentliche Grund für Faujas Anwesenheit in Plassans ist, wie schon gesagt, ein politischer, der aber von Zola bemerkenswert zurückhaltend dargestellt wird. Der Abbé ist offenbar ein Agent von Eugène Rougon, der es in Paris zum Innenminister gebracht hat und dem daran gelegen ist, den derzeitigen Abgeordneten von Plassans in der Nationalversammlung, einen Marquis de Lagrifoul, der im Roman sonst keine Rolle spielt, durch eine politisch unbedeutende Figur ersetzen zu lassen. Es genügt zu sagen, dass es dem Abbé gelingt, seinen Stellung in  Plassans soweit auszubauen, dass es ihm ein Leichtes ist, die nächste Wahl entsprechend zu beeinflussen. Allerdings endet der Roman in einer unvorhersehbaren Katastrophe.

Der Roman gewinnt seinen Reiz im Wesentlichen daraus, dass Zola drei soziale Modelle parallel beschreibt: Die Familie Mouret, deren Haushalt durch ihre Mieter komplett zerstört wird, die Kleriker von Plassans und ihre Intrigen um Anerkennung und Macht und schließlich die Oberen 50 von Plassans mit ihren Eitelkeiten und ihrem kleinkarierten Geschwätz. Dass der Roman zu den eher unbekannten Zolas gehört, mag daran liegen, dass der Leser längere Zeit nicht genau weiß, wohin sich die Handlung entwickeln wird und warum er diesen Figuren folgt. Weder der Abbé noch die Familie Mouret sind für sich genommen interessant genug, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Man muss dem Roman also gutwillig eine Weile lang folgen, bis sich die Motive zu einem Gesamtbild runden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.