Philip K. Dick: The Man in the High Castle

978-1-59853-009-4Nicht ganz runder Roman auf der Grenze zwischen Science-Fiction und Alternativer Geschichte. Erzählt wird über eine nur lose miteinander verbundene Handvoll von Menschen, die 1962 im Westen der ehemaligen USA leben. Die Fiktion geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg 1948 vom Deutschen Reich und den Japanern gewonnen wurde. Die Japaner haben im Westen der USA eine Besatzungszone errichtet, die Nazis eine Vichy-ähnliche Regierung im Osten der USA etabliert. Dazwischen liegen als Pufferzone die sogenannten Rocky Mountain States. Hier und in der japanischen Besatzungszone, genauer in San Francisco spielt der Roman hauptsächlich.

Der Roman unterscheidet sich durch seine thematische Vielfalt und seinen Reichtum an Reflexionen wohltuend von üblichen Beispielen der Genre-Literatur. Man muss es Dick wohl zugutehalten, dass er sich für die gut 220 Seiten des Romans zu viel vorgenommen hat. Nicht nur  versucht er, ein authentisches Bild einer Nachkriegswelt zu entwickeln, in der Japan und der Nazi-Staat die führenden und miteinander konkurrierenden politischen Kräfte sind, es wird auch die grundsätzliche Schwierigkeit der US-Amerikaner dargestellt, japanische Kultur und Umgangsformen zu begreifen, ein Diskurs über Historizität und Originalität als ästhetische Kriterien geführt, das I Ging ausführlich benutzt und zitiert, eine Poetik des Buches anhand eines Buches im Buch geliefert, wobei das Buch im Buch eine weitere alternative Fassung der Nachkriegsgeschichte liefert sowie eine Agenten-Geschichte mit Sex and Crime erzählt. Und das sind nicht einmal alle Handlungsfäden, die das Buch verfolgt.

Es ist verständlich, dass Dick nur einen der Handlungsstränge einigermaßen einem Ende zuführen kann und auch das nur auf einer eher allegorischen Ebene, indem er den Autor des Buches im Buch, bei dem es sich um den Titel gebenden Man in the High Castle handelt, auftreten und den ganzen Roman als Fiktion entlarven lässt. Dieser Abschluss ist nicht wirklich überzeugend, ist aber natürlich dem Widerspruch zwischen literarischem Anspruch und begrenzter Seitenzahl geschuldet. Von daher ist der Roman zwar etwas kurzatmig geraten, insgesamt aber durchaus lesenswert.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 225 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

Johannes Willms: Stendhal

978-3-446-23419-2Wie schon bei seiner Balzac-Biografie liefert Johannes Willms auch für Stendhal in der Hauptsache die biografischen Daten und nur wenig zum Werk. Das ist in diesem Fall um so bedauerlicher, weil ein Großteil des Lebens von Stendhal ein sich wiederholendes Muster aufweist, das mit geringer Variationsbreite immer erneut abgearbeitet wird: Stendhal verliebt sich unglücklich, belagert das »obskure Objekt der Begierde« eine längere Weile, kommt mehr oder weniger zum Erfolg und wechselt dann das Objekt, kaum aber sein Empfinden oder seine Methoden. Natürlich kann man seinem Biografen nicht vorwerfen, dass dies auch weite Teile der Lebensbeschreibung ziemlich eintönig macht.

Erst relativ spät tauchen in Stendhals Leben einige andere interessante Leute auf, und wir erfahren etwas über die literarische Kultur und die Salons in Paris im frühen 19. Jahrhundert. Aber schon muss Stendhal wieder fort nach Italien, um im provinziellen Civitavecchia den Posten eines Konsuls zu bekleiden. Nach der Lektüre des Buches musste wenigstens ich feststellen, dass die Romane Stendhals unvergleichlich viel interessanter sind als sein Leben. Von daher ist es ein wenig Schade, dass sich Johannes Willms nur vergleichsweise knapp mit der literarischen Produktion Stendhals auseinandersetzt, zum Ausgleich aber sehr ausführlich mit dessen narzisstischer Veranlagung.

Johannes Willms: Stendhal. München: Hanser, 2010. Pappband, 333 Seiten. 24,90 €.

Karl Kraus: Literatur und Lüge

Der 3-518-37813-9 dritte Band der Karl-Kraus-Werkausgabe, der den Fokus auf Literaturkritik legt. Neben einigen positiven Essays etwa zu Peter Altenberg oder Frank Wedekind stehen in der Hauptsache negative Kritiken des zeitgenössischen Literaturbetriebs und der Literaturgeschichte gegenüber. Nicht in allen Fällen scheint dem heutigen Leser der von Kraus betriebene kritische Aufwand der Bedeutung der Anlässe dieser Kritik angemessen; anders gesagt: Kraus scheint des öfteren mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.

Immer noch vergnüglich zu lesen sind die »Übersetzungen aus Harden« oder Kraus’ Dokumentation der zeitgenössischen Vorurteile der Literarhistoriker,

die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen.

Auch der Essay zu Arthur Schnitzler enthält immer noch gültige und nötige Anmerkungen zur Einordnung dieses überschätzten Autors:

Es ist das Los der Süßwasserdichter, daß sie die Begrenzung spüren, sich unbehaglich fühlen und dennoch drin bleiben müssen.

Insgesamt hat aber auch die Lektüre dieses Bandes den Eindruck verdichtet, dass man Kraus mit größeren Pausen lesen sollte, damit er einem nicht mit seiner stets gleichbleibenden Intensität auf die Nerven geht.

Karl Kraus: Literatur und Lüge. st 1313. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 381 Seiten. 10,– €.

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch

Je älter ich werde, desto schwerer fällt mir die Bewertung von Nachlass-Editionen. Das mag vielleicht daran liegen, dass mit den Jahren das Empfinden für die Vorläufigkeit von Entwürfen zunimmt, vielleicht auch das Wissen, dass einiges, und nicht immer unbedingt das Unwesentliche, spät und zufällig seinen Platz finden kann, und nicht zuletzt auch das Bewusstsein, dass für ein gelungenes Werk manchmal viel ausprobiert werden muss.

Die nun bei Suhrkamp vorgelegten Entwürfe Max Frischs zu einem dritten Tagebuch wurden von ihm in den Jahren 1982 und 1983 erstellt. Erhalten geblieben ist nicht Frischs Arbeitsexemplar, sondern ein Durchschlag seiner Sekretärin. Frisch hat den Versuch wohl abgebrochen, als sein zweiter Versuch einer Beziehung zu Alice Locke-Carey (dem Vorbild für Lynn aus »Montauk«) im April 1983 endete; ihr sollte das »Dritte Tagebuch« ursprünglich auch gewidmet sein.

Das »Dritte Tagebuch« setzt die Form der ersten beiden fort: Um eine bestimmt Anzahl von Themen entwickelt Frisch in essayistischen Bruchstücken und kurzen Erzählungen ein Mosaik von Meinungen, Zugriffen und Positionen. Als Hauptthemen kristallisieren sich heraus:

  • Der politische Zustand der USA, wie ein Europäer ihn wahrnimmt,
  • das Sterben des Freundes Peter Noll,
  • der Tod und das Sterben,
  • Frischs Verhältnis zu Frauen (welch eine Überraschung!) sowie
  • Wohnorte und Reisen.

Besonders die politische Ebene ist geprägt von einer überraschenden Naivität; ich müsste nun das »Tagebuch 1966–1971« noch einmal anschauen, um zu sehen, ob diese Einschätzung einer Entwicklung von Frischs oder meiner Perspektive geschuldet ist.

Es stellt sich beim Lesen – wie zu Erwarten ist – kein gerundetes Bild ein, auch nicht die Vorstellung, ein gerundetes Werk habe dem Autor vorgeschwebt, als er das vorhandene Material schrieb. Im Gegenteil sind seine Reflexionen über das Anstreichen von Säulchen und Fensterläden eindrücklicher als seine Gedanken zu den USA und ihrer Politik. Das Buch ist also nur jenen alten Frisch-Lesern ans Herz zu legen, die aus Verbundenheit auch diesen letzten Schritt mit dem Autor noch gehen wollen.

Allen anderen sei vor dem Kauf ein Blick auf die Seiten 138 und 139 empfohlen:

Wollen Sie für eine solche Seitenschinderei tatsächlich Geld ausgeben?

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Berlin: Suhrkamp, 2010. Pappband, 215 Seiten. 17,80 €.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz

978-3-596-18074-5Roman um einen jungen, jüdischen Tausendsassa, der in den Nachkriegsjahren in Montreal eine fieberhafte geschäftliche Tätigkeit entwickelt, um in den Besitz eines Sees zu gelangen, an dem er Hotels und ein Ferienlager errichten möchte. Er gründet zu diesem Zweck eine Filmproduktion, die Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern dokumentiert. Da Duddy jedoch einen in Hollywood durchgefallenen, avantgardistischen Regisseur anheuert, muss er all seine Überredungskünste aufbringen, um seinen ersten Film als Kunstwerk verkaufen zu können. Nebenbei holt er seinen weggelaufenen Bruder Lennie wieder zurück und rettet dessen Medizinstudium, fährt, wenn das Geld mal wieder knapp wird, zusätzliche Schichten im Taxi seines Vaters, vereinigt seinen totktranken Onkel wieder mit dessen Frau, vermittelt hier und da einige kleinere Geschäfte, wird unfreiwillig als Drogenkurier eingesetzt und erleidet, wie nicht anders zu erwarten, einen ordentlichen Nervenzusammenbruch. Und natürlich kommt auch die Liebe vor:

»Ich kapier’s nicht«, sagte Duddy nachher. »Stell dir mal vor, Kerle heiraten und hängen sich für ihr ganzes Leben an ein einziges Weib, dabei laufen so viele herum.«
»Menschen verlieben sich«, sagte Yvette. »Das kommt vor.«
»Es stürzen auch Flugzeuge ab«, sagte Duddy.

Erzählt wird all dies in einem hohen Tempo und mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Sowohl die Milieuschilderungen als auch die Charaktere sind durchweg überzeugend. Nur das Ende des Romans fällt ein klein wenig ab; hier scheint Richler der entscheidende Einfall gefehlt zu haben.

Erstaunlich ist, dass dieser Roman bereits 1959 erscheinen ist – er war Richlers Durchbruch –, seine Verfilmung 1975 sogar für einen Oscar nominiert war, er aber erst 2007 auf Deutsch erschienen ist. Das scheint dafür, dass Richler als einer der bedeutendsten Autor Kanadas gilt, eine ungewöhnlich lange Zeitspanne zu sein. Wollen wir hoffen, dass Richler auch spät noch die Leser findet, die er verdient.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Fischer 18074. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. 432 Seiten. 9,95 €.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn

Übersetzungen und Neuübersetzungen des Hanser Verlages kaufe ich normalerweise blind, da der Verlag allgemein für ein hohes Niveau und große Sorgfalt bei seinen Übersetzungen steht. Wenn dann auch noch eine feine Ausstattung des Bandes hinzukommt, freue ich mich ganz besonders auf die Lektüre. So auch diesmal: Zwei Klassiker der amerikanischen Literatur, bisher nicht gerade selten eingedeutscht, werden in einer Neuübersetzung vorgelegt, so wie es sich für Klassiker gehört: Leineneinband, feines Dünndruck-Papier und Fadenheftung – alles so, wie es sein soll. Da greife ich dann gern auch einmal tiefer in die Tasche.

Dann wird es Frühling, und an einem unerwartet sonnigen Tag greife ich mir den Band vom SUB (Stapel ungelesener Bücher) und nehme ihn mit ins Café. Als der Kaffee auf dem Tisch steht, schlage ich voller Vorfreude den »Huckleberry Finn« auf und beginne zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten  stutze ich: Das kommt alles so betulich daher, und als die ersten Dialoge erscheinen, wundere ich mich doch sehr darüber, wie diese Mississippi-Kinder miteinander reden:

»So«, sagte Ben Rogers, »was ist denn die Geschäftssparte der Bande?«
»Nix, nur Raub und Mord«, sagte Tom.
»Aber wen rauben wir denn aus. Häuser … oder stehlen wir Vieh … oder …«
»Quatsch! Vieh stehlen und so was, das hat nix mit Räuberei zu tun, das ist Diebstahl«, sagte Tom Sawyer. »Wir sind keine Diebe. Das hat doch keinen Stil. Wir sind Wegelagerer. Wir halten Postkutschen und andere Kutschen auf der Straße an und haben Masken auf und töten die Leute und nehmen ihre Uhren und ihr Geld.«
»Müssen wir die Leute immer umbringen?«
»Ja, klar doch. Das ist das beste. Manche Fachleute denken da anders, aber die meisten halten es für das beste. Außer ein paar, die man in die Höhle hier bringt und gefangen hält, bis sie ausgelöst sind.«
»Ausgelöst? Was soll’n das sein?«
»Ich weiß nicht. Aber das wird so gemacht. Ich hab’s in Büchern gelesen. Und also müssen wir’s genauso machen.«
»Aber wie sollen wir’s machen, wenn wir nicht wissen, was es ist?«
»Das ist doch egal, wir müssen’s eben machen. Hab ich nicht gesagt, dass es in den Büchern steht? Wollt ihr es anders machen, als es in den Büchern steht und alles durcheinander bringen?«
»Das ist ja alles schön und gut, was du sagst, Tom Sawyer, aber wie zum Kuckuck sollen diese Leute ausgelöst werden, wenn wir nicht wissen, wie man das macht? Das möchte ich gerne mal wissen. Was glaubst du denn, was es ist?«
»Naja, ich weiß nicht. Aber vielleicht, wenn wir sie behalten, bis sie ausgelöst sind, dann heißt das, dass wir sie behalten, bis sie tot sind.«
»Na, das hört sich schon anders an. Das kommt hin. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir behalten sie, bis sie zu Tode ausgelöst sind – aber es wird schon verdammt mühsam mit der Truppe, die werden uns die Haare vom Kopf essen und immer versuchen abzuhauen.«
»Wie du daherredest, Ben Rogers. Wie können sie abhauen, wenn eine Wache auf sie aufpasst und sie sofort abknallt, wenn sie einen falschen Schritt machen?«
»Eine Wache? Ja, das ist mal gut. Dann sitzt also jemand die ganze Nacht da, ohne zu schlafen, und passt auf sie auf. Das halte ich für den reinsten Blödsinn. Warum kann nicht jemand einen Knüppel nehmen und sie gleich auslösen, wenn sie ankommen?«
»Weil’s nicht so in den Büchern steht – deswegen. […]«

Stellen wir dem rasch mal die Original-Passage gegenüber:

»Now,« says Ben Rogers, »what’s the line of business of this Gang?«
»Nothing only robbery and murder,« Tom said.
»But who are we going to rob? houses – or cattle – or –«
»Stuff! stealing cattle and such things ain’t robbery, it’s burglary,« says Tom Sawyer. »We ain’t burglars. That ain’t no sort of style. We are highwaymen. We stop stages and carriages on the road, with masks on, and kill the people and take their watches and money.«
»Must we always kill the people?«
»Oh, certainly. It’s best. Some authorities think different, but mostly it’s considered best to kill them. Except some that you bring to the cave here and keep them till they’re ransomed.«
»Ransomed? What’s that?«
»I don’t know. But that’s what they do. I’ve seen it in books; and so of course that’s what we’ve got to do.«
»But how can we do it if we don’t know what it is?«
»Why blame it all, we’ve got to do it. Don’t I tell you it’s in the books? Do you want to go to doing different from what’s in the books, and get things all muddled up?«
»Oh, that’s all very fine to say, Tom Sawyer, but how in the nation are these fellows going to be ransomed if we don’t know how to do it to them? that’s the thing I want to get at. Now what do you reckon it is?«
»Well I don’t know. But per’aps if we keep them till they’re ransomed, it means that we keep them till they’re dead.«
»Now, that’s something like. That’ll answer. Why couldn’t you said that before? We’ll keep them till they’re ransomed to death – and a bothersome lot they’ll be, too, eating up everything and always trying to get loose.«
»How you talk, Ben Rogers. How can they get loose when there’s a guard over them, ready to shoot them down if they move a peg?«
»A guard. Well, that is good. So somebody’s got to set up all night and never get any sleep, just so as to watch them. I think that’s foolishness. Why can’t a body take a club and ransom them as soon as they get here?«
»Because it ain’t in the books so – that’s why. […]«

Wer ein Gespür für den Ton des Originals hat, bemerkt dass die neue Übersetzung den Dialog aufpoliert: Weder das »per’aps« noch das »reckon« des Originals sind angemessen übersetzt, überhaupt sind in der Übersetzungen die Verschleifungen reduziert und das sprachliche Niveau angehoben. Nicht, dass die Übersetzung falsch wäre, sie trifft nur den Ton des Originals nicht.

Doch ist das noch eine unproblematische Stelle. Jede Übersetzung des »Huck Finn« steht und fällt mit dem, was der Übersetzer aus der Sprache Jims macht:

I says:
»Hello, Jim!« and skipped out.
He bounced up and stared at me wild. Then he drops down on his knees, and puts his hands together and says:
»Doan’ hurt me – don’t! I hain’t ever done no harm to a ghos’. I awluz liked dead people, en done all I could for ’em. You go en git in de river agin, whah you b’longs, en doan’ do nuffn to Ole Jim, ’at ’uz awluz yo’ fren’.«
Well, I warn’t long making him understand I warn’t dead. I was ever so glad to see Jim. I warn’t lonesome, now. I told him I warn’t afraid of him telling the people where I was. I talked along, but he only set there and looked at me; never said nothing. Then I says:
»It’s good daylight. Le’s get breakfast. Make up your camp fire good.«
»What’s de use er makin’ up de camp fire to cook strawbries en sich truck? But you got a gun, hain’t you? Den we kin git sumfn better den strawbries.«
»Strawberries and such truck,« I says. »Is that what you live on?«
»I couldn’ git nuffn else,« he says.
»Why, how long you been on the island, Jim?«
»I come heah de night arter you’s killed.«
»What, all that time?«
»Yes-indeedy.«

Grundsätzlich sind hier drei Lösungswege versucht worden: Einige Übersetzer haben versucht, Jim einen bestimmten deutschen Dialekt reden zu lassen. Aber weder Bayerisch noch Sächsisch führen zu wirklich befriedigenden Ergebnissen. Andere Übersetzer haben versucht, einen Kunstdialekt zu erfinden, der den Ton von Jims Sprechweise im Deutschen nachzuahmen versucht. Wieder andere haben vor dem Problem kapituliert und ersetzen den starken Dialekt Jims durch einige wenige Verschleifungen. Diesen Weg geht auch die Neuübersetzung:

Dann sagte ich:
»Hallo, Jim!« und hüpfte hinter dem Busch hervor.
Er schrak hoch und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie und presste die Hände zusammen und sagte:
»Tu mir nix – bloß nix! Ich hab noch nie nem Gespenst was getan. Ich hab Tote immer gern gehabt und alles für sie getan, was ich konnte. Du gehst jetzt wieder innen Fluss zurück, wo du hingehörst, und tust dem alten Jim nix, der immer dein Freund gewesen is.«
Na, ich machte ihm schnell klar, dass ich nicht tot war. Ich war so froh, Jim zu sehen. Jetzt war ich nicht mehr allein. Ich sagte ihm, ich hätte keine Angst, dass er den Leuten verrät, wo ich war. Ich redete einfach drauflos, und er saß nur da und starrte mich an, sagte aber kein Sterbenswort. Dann sagte ich:
»Es ist schon richtig hell. Lass uns frühstücken. Mach dein Lagerfeuer ruhig wieder an.«
»Was hat’n das für ’n Sinn, das Lagerfeuer anzumachen, um Erdbeern und so ’n Grünzeug zu kochen. Aber du hast ja ’n Gewehr! Da können wir was Besseres wie Erdbeern holen.«
»Erdbeeren und so ’n Grünzeug«, sagte ich. »Was andres zum essen hast du nicht?«
»Ich hab sonst nix gefunden«, sagte er.
»Wieso, wie lang bist du denn schon auf der Insel, Jim?«
»Ich bin hier in der Nacht her, nachdem sie dich ermordet haben.«
»Was, die ganze Zeit?«
»Ja, so isses.«

Das ist natürlich im Vergleich zum Original gar nichts. Nun ist es aber so, dass die Verwendung der Dialekte im »Huck Finn« programmatisch ist. Der Verfasser stellt seinem Text ausdrücklich dies voran:

Explanatory

In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary ›Pike- County‹ dialect; and four modified varieties of this last. The shadings have not been done in a hap-hazard fashion, or by guess-work; but pains-takingly, and with the trustworthy guidance and support of personal familiarity with these several forms of speech.
I make this explanation for the reason that without it many readers would suppose that all these characters were trying to talk alike and not succeeding.

THE AUTHOR.

Mark Twain scheint also davon ausgegangen zu sein, dass die sprachliche Vielfalt seines Textes zum Vergnügen seiner Leser beitragen wird. Und er betont, dass er die  Ausdifferenzierung unter Mühen erarbeitet hat, um die Sprechweise seiner Figuren so genau wie möglich an die von ihm erlebte Sprachfülle anzunähern.

Natürlich weiß das auch der Übersetzer Andreas Nohl, denn er hat die entsprechende Passage des Buches mit übersetzt. Was also bringt ihn dazu, die sprachliche Färbung weiter Textpassagen einfach zu ignorieren und zu ein paar Verschleifungen zu verflachen? Es ist einmal mehr die »Lesbarkeit«, der dies angeblich geopfert wurde:

Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, den Slang des Ich-Erzählers und der sprechenden Personen in einem künstlichen deutschen Slang oder in einem Dialekt abzubilden. Darin unterscheidet sich die neue Übersetzung grundlegend von den bisherigen Übersetzungen.
[…]
Bei Huckleberry Finn gibt es neben den älteren Jugendbuchbearbeitungen zwei neuere Übersetzungen, deren Lesbarkeit aber durch deutsche Dialekteinsprengsel bzw. einen deutschen Kunst-Slang stark beeinträchtigt ist.

Was glaubt denn wohl der Übersetzer, wie das Original in dieser Beziehung von Muttersprachlern wahrgenommen wird? Und was mag er wohl über deutsche Bücher denken, deren Hauptforce gerade darin liegt, einen Kunst-Slang (z. B. Herbert Rosendorfers »Briefe in die chinesische Vergangenheit«) oder Dialekte und Sprechweisen (z. B. Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«) abzubilden. Wünscht er auch diese Bücher ins »Lesbare« übersetzt? Und was glaubt er wohl, warum sich ein deutscher Leser eine Übersetzung des »Huck Finn« kauft – um Mark Twain zu lesen oder Andreas Nohl?

Nun können sich deutsche Leser zum Glück entscheiden: Entweder sie folgen Andreas Nohl ins Land der sprachlichen Plattitüde, oder sie greifen zur Übersetzung von Friedhelm Rathjen und haben zusammen mit ihm und Mark Twain Spaß an der Sprache. Ich jedenfalls habe die Neuübersetzung bedauernd beiseite gelegt – so ein schönes Buch und so eine vertane Liebesmüh.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. München: Hanser, 2010. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 711 Seiten. 34,90 €.

Shel Silverstein: Lafcadio

978-3-596-85140-9Ein Kinderbuch, das beinahe so alt ist wie ich und das es bereits 1987 einmal auf Deutsch gab. Dann wurde es 2004 von Fischer in seiner »Schatzinsel« noch einmal aufgelegt und hätte es verdient, viel bekannter zu sein. Shel Silverstein erzählt die Geschichte eines jungen Löwen, der nicht wie alle seine Artgenossen vor den Jägern wegläuft, sondern einem von ihnen kurzerhand das Gewehr abnimmt und ihn frisst. Mit dem Gewehr bildet er sich selbst zum Scharfschützen aus und wird daraufhin von einem Zirkusdirektor angeworben und mit dem Versprechen, ihn mit Marshmallows zu füttern, in die Stadt gelockt.

Dort bekommt der Löwe den Namen »Der große Lafcadio« und wird berühmt und ein echter Salonlöwe. Seine Einführung in die gute Gesellschaft verdankt er der zufälligen Begegnung mit dem Erzähler Onkel Shelby, der sein erster und bester Freund wird. Natürlich erweist es sich, dass das Leben in menschlicher Gesellschaft auch einen Löwen auf Dauer nicht glücklich macht. Da kommt es gerade recht, dass der Direktor einen Jagdausflug nach Afrika vorschlägt …

Shel Silverstein: Lafcadio. Ein Löwe schießt zurück. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 112 Seiten (unnummeriert) mit zahlreichen, schwarz-weißen Illustrationen. 11,90 €.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee

978-3-8031-1268-2Sechs Monologe, darunter ein männlicher, die Alan Bennett im Jahr 1987 für die BBC geschrieben hat. Nachdem »Die souveräne Leserin« ein Erfolg in Deutschland geworden ist, werden nun auch die älteren Veröffentlichung Bennetts peu à peu ins Deutsche übersetzt. Die Sprecherinnen der Monologe sind:

  • ein psychotischer Sohn, der mit seiner Mutter in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt,
  • eine Pfarrersfrau, die die Enge ihrer Ehe nicht erträgt,
  • eine Leserbriefschreiberin,
  • eine Nebendarstellerin,
  • eine Witwe, die langsam, aber sicher Bekanntschaft mit ihrem verstorbenen Ehemann macht und
  • eine alte Dame, die sich endgültig gegen ein Leben im Altersheim entscheidet.

Die Texte lassen hier und da den Humor Bennetts aufblitzen, sind aber insgesamt eher ernst gestimmt. Das folgende Zitat charakterisiert den Ton des Bändchens ganz gut:

Sie sollten aber nicht denken, dass meine Geschichte tragisch ist.
Pause.
Ich bin keine tragische Figur.
Pause.
Der Typ bin ich nicht.
Ausblenden zu schwach hörbarer Musik, vielleicht Johann Strauß.

Bennett begleitet das Bändchen mit einem Nachwort, in dem er sich selbst über einige motivischen Wiederholungen wundert, die ihm beim Lesen aufgefallen sind, und verfolgt einige dieser Motive auf ihre biografischen Quellen zurück. Sehr angenehm, wenn ein Autor seine Texte so lesen kann, als stammten sie von einem anderen.

Abgeschlossen wird das Bändchen mit einem Foto, auf dem Bennett sein Schwein Betty spazieren führt! Eine exzellentes Büchlein für zwischendurch.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2010. Leinen, Fadenheftung, 139 Seiten. 15,90 €.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise …

978-3-86971-014-3 … durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick

Ganz selten hat man heute noch das Vergnügen, ein solches Büchlein in die Hand zu bekommen: Flexibler, bedruckter Leineneinband, abgerundete Ecken, Lesebändchen, exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen, ein informatives, illustriertes Nachwort. Wenn das Bändchen auch noch fadengeheftet wäre, wäre es vollkommen.

Michael Walter hat seiner ambitionierten Übersetzung des »Tristram Shandy« nun auch eine Übertragung von Sternes zweitem Roman an die Seite gestellt. Leider sind von der »Empfindsamen Reise« nur zwei Bände fertig geworden, bevor Sterne 1768 starb. Und so bleibt der empfindsame Ich-Erzähler Yorick, den der Leser bereits aus dem »Tristram Shandy« kennen konnte, nördlich von Lyon in einem Gasthaus stecken und erreicht nie das im Titel angekündigte Italien.

Das Büchlein war ein beinahe noch größerer Erfolg als der »Tristram Shandy« und besonders in Deutschland einflussreich, da von ihm eine kleine Literaturepoche, die Empfindsamkeit, angeregt wurde. Das Wörtchen »empfindsam« wurde übrigens von Lessing zur Übersetzung des englischen Neologismus »sentimental« erfunden; wer mehr dazu und zu der Geschichte der deutschen Übersetzungen erfahren möchte, lese das wohlgeratene Nachwort.

Auch bei dieser Sterne-Übersetzung wird betont, die Waltersche Neuübersetzung mache die erotische Unterfütterung des Textes deutlicher als alle vorangehenden. Das soll hier nicht bestritten werden, nur möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor die sexuellen Beiklänge hier weit gemäßigter gehandhabt hat als in einigen Passagen des »Tristram Shandy«. An dieser Neuübersetzung scheint mir weit interessanter zu sein, wie souverän Michael Walter den Sterneschen Stil insgesamt nachzubilden versteht und dabei einen skurrilen und durch und durch originellen deutschen Text erschafft, der in keinem Moment vergessen lässt, dass wir hier ein Buch vor uns haben, das bereits im 18. Jahrhundert aus der Masse des literarischen Marktes herausgeragt hat.

Wer zuvor noch nichts von Sterne gelesen hat, sei ein wenig vorgewarnt: Es braucht einige Seiten, bis man sich eingelesen hat. Man bringe etwas Geduld mit, denn man wird reichlich dafür belohnt.

Dieses Bändchen ist sicherlich eines der Bücher des Jahres 2010, auch wenn das Jahr noch recht jung ist.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2010. Flexibler, bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 359 Seiten. 24,95 €.

Nochmals: Die gänzlich »Andere Bibliothek«

Im Oktober 2006 stellte der Eichborn Verlag für die wohl bekannteste anspruchsvolle Buchreihe auf dem deutschen Buchmarkt, die »Andere Bibliothek« zwei neue Herausgeber vor: Michael Naumann und Klaus Harpprecht. Wie Spiegel online berichtet, hat der Verlag nach nur drei Jahren diese beiden Herausgeber wieder entlassen:

„Der Eichborn-Verlag hat sich entschieden, mit modernen Marketing- Methoden nach einer neuen Zielgruppe für die Andere Bibliothek zu suchen“, sagte Naumann am Donnerstag. „Sowohl Klaus Harpprecht als auch ich sind der Meinung, dass Zielgruppen-Ideologie jeglicher Art, ob gruppen- oder altersspezifisch, mit dem Charakter dieser Buchreihe nichts zu tun hat. Wir bedauern die Entscheidung des Verlags und wünschen dieser wunderbaren Buchreihe eine Zukunft, die ihrer Tradition entspricht.“

Nun ist die »Andere Bibliothek« der Inbegriff einer Zielgruppen-orientierten Buchreihe gewesen, und man kann begreifen, dass der Verlag zwei Herausgeber der Reihe entlässt, die gerade dieses Konzept nicht verstehen. Andererseits haben wir ja bereits damals, als die Reihe ihren Gründer Hans Magnus Enzensberger verlor, festgestellt, dass auch der Eichborn Verlag lange schon jeglichen Kontakt mit der ursprünglichen Zielgruppe der Reihe verloren hatte, nämlich mit den Buchliebhabern, die rare Texte in solider handwerklicher Ausstattung wollten, statt mit der üblichen Massenware der Papierindustrie abgespeist zu werden. Dieses Profil ist der »Andere Bibliothek« inzwischen aber komplett abhanden gekommen.

Nun soll es ein dem breiten Publikum eher unbekannter Macher richten:

Der Eichborn Verlag teilte mit, neuer Programmleiter der Anderen Bibliothek werde ab 1. Januar 2011 Christian Döring. Der frühere Suhrkamp-Lektor mit Hang zum schillernden Auftritt gilt als eine der markanten Gestalten der deutschen Buchbranche.

Wohlgemerkt, er gilt als markante Gestalt; Enzensberger war eine markante Gestalt. – Sic transit gloria mundi.