Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern

Vanderbeke_DaslaesstBirgit Vanderbeke ist bei der Gesellschafts-Utopie angekommen. Bereits »Sweet Sixteen« ließ so etwas befürchten, aber nun ist es geschehen. Erzählt wird die Geschichte der Erzählerin, die aus einem betuchten bürgerlichen Haus stammt, und des Handwerkers Adam Czupek, die gegen den Widerstand der bürgerlichen Eltern ein Paar werden und mit zwei Kindern aufs Land ziehen, wo sie zusammen mit einem benachbarten Bauern und einer befreundeten türkischen Familie beginnen, sich ein autarkes Leben aufzubauen. Das Haus, indem sie wohnen, ist geerbt, das Geld von dem sie leben und das Haus renovieren, verdienen sie an Krankenkassenpatienten, der Filz für die autarke Jurte kommt per LKW aus der Türkei und wird mittels einer Telefon-Transaktion bezahlt, aber sonst ist man echt total unabhängig von der Gesellschaft, bis vielleicht auf die Wochenendgäste des Bauern, die man braucht, damit der seinen Hof nicht verkaufen muss. Aber sonst: total autark! Und die Philosophie zum Lebensentwurf liefern die Texte von »Ton Steine Scherben« und »Die Ärzte«. Zum Glück bekommt gerade keines der Kinder einen Hirntumor, denn bis man einen Positronen-Emissions-Tomografen auf dem Sperrmüll findet, das kann dauern.

Stilistisch ist das Buch entgegen den früher sehr disziplinierten und kargen Texten Vanderbekes (»Ich sehe was, was Du nicht siehst« ist wohl immer noch das Muster) ungewöhnlich geschwätzig, ja einzelne Phrasen wiederholen sich ohne jede Notwendigkeit. Den absoluten Tiefpunkt erreicht Vanderbekes Sprache auf Seite 98 beim Wort »Spannkraft«, ein Wort aus der Doppelherz-Reklame, nicht aus dem Ingenieurs-Handbuch.

Ein dummes, überflüssiges Buch aus der Kategorie gut gemeint. 

… solch einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben; das können die Andern auch.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. München: Piper, 2011. Pappband, Lesebändchen, 147 Seiten. 16,95 €.

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde

Endlich, sagte Fina, jetzt hat’s ihn erwischt, er ist verliebt.

vargas-llosa-hundeDiese Erzählung erschien zum ersten Mal 1967 in Barcelona, da Vargas Llosa damals bereits in Spanien lebte und in seiner Heimat Peru kein Verlag das zumindest für die 60er Jahre sowohl stilistisch als auch thematisch ungewöhnliche Buch drucken wollte. Die Erstveröffentlichung enthielt bereits die jetzt bei Suhrkamp erstmals auch von einem deutschen Verlag realisierte Kombination des Textes von Vargas Llosa und der 35 Schwarz-Weiß-Fotografien Xavier Miserachs’. Zwar dokumentieren die Bilder offensichtlich die frühen 60er Jahre in Spanien während die Erzählung selbst in den späten 20er und den 30er Jahren in Lima spielt, doch bis auf das veränderte Kostüm illustrieren die Bilder das von der Erzählung präsentierte Lebensgefühl ganz exzellent.

Der Text verweigert eine einfache Einordnung seiner Erzählform: Er wird offensichtlich als biografische Erinnerung eines älteren Erzählers an seine Jugend präsentiert, dort schwankt die Erzählperspektive ständig zwischen einer nahen, kollektiven Wir- und einer distanzierteren, auktorialen Position, wobei der Wechsel zumeist mitten im Satz stattfindet. Da zudem die wörtliche Rede nicht ausgezeichnet wird, kann es zumindest anfänglich zu Irritationen beim Leser kommen:

Auch ihnen, die wir anfangs noch aufpassten, Cuéllar, Kumpel, rutschte es immer öfter raus, ganz aus Versehen, Kamerad, ganz automatisch, Amigo: Pichulita, und er knallrot, wie?, oder kreidebleich, du auch, Chingolo?, die Augen aufgerissen, Mann, entschuldige, war keine böse Absicht, er also auch?, sein Freund? …

Doch liest sich der Text nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sehr flüssig (was sicherlich auch der Neuübersetzung zu danken ist, die Suhrkamp der Erzählung spendiert hat), und wenn man ihn in einem Zug liest, gewöhnt man sich so vollständig an den ständigen Perspektivwechsel, dass man gegen Ende bewusst nachschaut, ob er denn überhaupt noch benutzt wird. Wenigstens mir erging es so.

Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von fünf Schulfreunden, wobei das Schicksal des jungen Cuéllar im Zentrum steht. Cuéllar wird kurz nachdem er in die Klasse der anderen gekommen ist und sich als ein exzellenter Schüler erwiesen hat, nach einer Sportstunde von einem Hund angefallen und durch einen Biss um sein Geschlechtsteil gebracht. Zwar überlebt er die Attacke, doch ist er von dem Augenblick an ein Außeseiter in der Gruppe, auch wenn das lange Zeit keiner seiner Freunde auch nur wahrnehmen will. Offensichtlich wird Cuéllars Lage aber, als die ersten der Clique Freundschaften mit Mädchen beginnen: Cuéllar, der inzwischen den Spitznamen Pichulita (Schwänzchen) trägt, reagiert zuerst aggressiv, sondert sich dann ab, kehrt jedoch immer wieder zur Gruppe zurück. Er huldigt dem Machismo auf seine Weise, indem er ein herausragender und waghalsiger Sportler und Autofahrer wird, aber er traut sich aus verständlichen Gründen nicht, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu beginnen. Als er sich schließlich doch gegen seinen Willen verliebt, wird er für eine Weile geselliger und normaler, doch spitzt sich seine Lage durch diese Verliebtheit nur noch weiter zu, da sie seine Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer sexuellen Erfüllung einer Beziehung zum Grundgefühl seiner Existenz werden lässt.

Es macht den Rang Vargas Llosas aus, dass er darauf verzichtet, Cuéllar ein noch tragischeres Ende nehmen zu lassen als ohnehin sein Leben schon war. Die Freunde verlieren sich über Studium, Arbeit und Gründung einer Familie wie zu erwarten mehr und mehr aus den Augen; Cuéllar lebt für eine Weile in den Bergen, geht dann in den Norden Perus und wird Opfer seines riskanten Fahrstils. Der Leser bleibt mit dem Erzähler ratlos zurück, wie diesem Jungen auf Erden zu helfen gewesen wäre; sein Elend ließ sich erzählen, aufzuheben war es nicht.

Ein beeindruckend dicht erzählter Text, dem es wie nebenbei gelingt, das Lebensgefühl wohl einer ganzen Generation junger Männer darzustellen. Unbedingt lesenswert!

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Mit Fotografien von Xavier Miserachs. Berlin: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 98 Seiten, davon 48 Seiten mit 35 Schwarz-Weiß-Fotografien. 24,90 €.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße

Als er endlich wieder herunterkommt, sagt er: »Sie halten das Haus aber in Ordnung.« »Ich war mal Lehrerin«, sage ich. »Und was haben Sie unterrichtet?«, fragt er. »Kinder«, sage ich. »Haben Sie welche?«, fragt er. »Sieht es hier so aus?«, frage ich.

978-3-8031-1276-7Fortsetzung des Bandes Ein Kräcker unterm Kanapee,die beide im Original des Titel »Talking Heads«, also Redende Köpfe tragen. Auch diesmal handelt es sich um Monologe, hier sieben an der Zahl, darunter auch das erste Stück »Eine Frau ohne Bedeutung«, mit dem Bennett die Form begründet hat. Geschrieben wurden alle Talking Heads für die BBC. Dieses Mal sind die Monologisierenden:

  • eine Antiquitätenhändlerin, die das Geschäft ihres Lebens verpasst,
  • eine Verkäuferin, die mit ihren Füßen einen lukrativen Nebenerwerb findet,
  • ein Kinderschänder,
  • die reinliche Frau eines Serienmörders,
  • die botanisierende Gattin eines Voyeurs,
  • eine an Alzheimer Erkrankte und
  • »Eine Frau ohne Bedeutung«.

Auch in diesem Band sind die Monologe geprägt von stiller Tragik und Selbstvergessenheit der Hauptfiguren und beziehen ihre Kraft aus der unglaublichen Verblendung der Protagonistinnen, von der der Leser zugleich begreift, dass es gerade so in den Köpfen der meisten zugehen muss, damit ihnen ihre Existenz überhaupt erträglich ist.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2011. Leinen, Fadenheftung, 138 Seiten. 15,90 €.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen.

Tod-in-VenedigNachdem mir bei der Besprechung von Koeppens »Der Tod in Rom« der grobe Schnitzer unterlaufen war, Gustav Aschenbach für einen Tonsetzer zu erklären, war klar, dass es dringend an der Zeit war, Thomas Manns Erzählung wieder einmal zu lesen. Innerlich hatte ich wohl vor etwa zwanzig  Jahren mit den Erzählungen Manns abgeschlossen, nachdem ich auch die letzten eher aus einem Sinn für einen Abschluss als aus echtem Interessen heraus gelesen hatte. Viele der kürzeren Erzählungen von Thomas Mann schienen mir damals wenig zu taugen, so dass ich mich , wenn Mann bei mir noch einmal dran sein würde, auf die Romane konzentrieren wollte. Überhaupt muss ich gestehen, dass mir die Deutschen Thomas Mann weit zu überschätzen scheinen, nicht etwa als Erzähler, wo er fraglos zur ersten Garnitur gehört, sondern als Intellektuellen.

Wie genau Thomas Mann um die Windigkeit seines Status als Intellektueller wusste, macht eine kleine Passage aus seinem schlechtesten Roman »Königliche Hoheit« deutlich. Da muss die Königliche Hoheit gelegentlich in einem kleinen Ort ein Denkmal enthüllen und zu diesem Anlass einige Worte sagen:

Als er im Namen des Großherzogs, »meines gnädigsten Herrn Bruders«, die Enthüllung des Johann-Albrecht-Standbildes zu Knüppelsdorf vollzog, hielt er auf dem Festplatze gleich nach dem Vortrage des Vereins »Geradsinnliederkranz« eine Rede, in der alles untergebracht war, was er sich über Knüppelsdorf notiert hatte, und die allerseits den schönen Eindruck hervorrief, als habe er sich zeit seines Lebens vornehmlich mit den historischen Schicksalen dieses Mittelpunktes beschäftigt. […] Und Klaus Heinrich stand lächelnd, mit einem Gefühle der Ausgeleertheit unter seinem Theaterzelt, froh in der Sicherheit, daß niemand ihn weiter fragen dürfe. Denn er hätte nun kein Sterbenswörtchen mehr über Knüppelsdorf zu sagen gewußt.

Präziser lässt sich der Status des Festredners Thomas Mann nicht auf den Punkt bringen.

Doch zu »Der Tod in Venedig«: Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück  des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, wie es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeutung, Spiegelungen und  Ringstrukturen angeht, eine Perle traditioneller Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Kindle Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2009. 317 KB. 6,99 €.

(Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der
Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)

Ágota Kristóf: Irgendwo

Es war kaum noch zu ertragen.

978-3-492-25196-9Dünnes Bändchen mit 25 Erzählungen. Es handelt sich um einen der typischen Sammelbände, die die Aufgabe haben, die Arbeiten eines Autors zusammenzufassen und für die Zukunft zu sichern, nicht um einen durchkomponierten Erzählband, die eine eigene Kunstform für sich bilden. Der Band trägt sie etwas seltsame Gattungsbezeichnung Nouvelles, was den nicht frankophonen deutschen Leser wohl dazu verführen soll, etwas Ähnliches wie Novellen zu erwarten, wenn er denn eine erkennen würde, wenn sie ihm begegnete. Tatsächlich wäre die Gattungsbezeichnung wohl eher mit Nachrichten zu übersetzen, was den Normalleser eher ein Sachbuch als eine Sammlung fiktionaler Texte erwarten ließe. Wie dem auch sei …

Aufgrund des Sammlungscharakters sind die präsentierten Erzählungen von recht unterschiedlicher Qualität. Da aber eine Dokumentation der Erstveröffentlichungen oder Entstehungszeiten ebenso fehlt wie ein Inhaltsverzeichnis, lässt sich das Material nur schwer einordnen und beurteilen. Es ist allerdings kein gutes Zeichen für das Vertrauen der Autorin in ihre Texte, dass die witzigste Geschichte gleich zu Anfang als Captatio benevolentiae zu finden ist. Bei den besten Geschichte handelt es sich um kurze Variationen über das zentrale Thema Kristófs: Der oder die wegen dieser oder jener Gründe von seiner Umwelt isolierte Einzelne. Aber es finden sich auch naive Aufrufe gegen den Krieg oder eine platte feministische Fabel auf den bürgerlichen Ehemann.

Wer die Geduld hat, die wenigen Perlen herauszulesen, wird Freude an dem kurzen Bändchen haben; die anderen sollten sich an die Romane Kristófs halten.

Ágota Kristóf: Irgendwo. Nouvelles. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Serie Piper 5196. München: Piper, 2008. Broschiert, 121 Seiten. 7– €.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Ausgelöst durch die Lektüre von Yann Martels Beatrice and Virgil habe ich mir noch einmal Flauberts Drei Erzählungen aus dem Schrank genommen, diesmal in der relativ neuen Übersetzung des Haffmans-Verlages, Gott habe ihn selig. Die drei Erzählungen repräsentieren jeweils einen Aspekt von Flauberts Romanschaffen: Ein schlichtes Gemüt seine realistischen Romane, in Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen spiegelt sich Die Versuchung des heiligen Antonius wider und Herodias schließlich ist ein Gegenstück zu Salambo, das ich auch wieder einmal lesen müsste.

Ein schlichtes Gemüt ist eine meisterhafte Erzählung, die auf weniger als 50 Seiten ein ganzes Leben umfasst: Félicité wird Hausangestellte bei der verwitweten Madame Aubain, nachdem sie wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte von daheim fortgelaufen ist. Sie geht ganz und gar im Dienst für die Familie ihrer Herrin auf; einzig ihr Neffe Victor liegt ihr noch am Herzen, aber der stirbt jung als Seemann auf einer Fahrt nach Amerika. Tiefer jedoch trifft sie der Tod von Virginie, der Tochter des Hauses, die als Klosterschülerin an einer Lungenentzündung stirbt; Félicité beginnt einen heimlichen Totenkult um die Verstorbene. Doch ihre Liebe erfüllt sich schließlich, als sie von ihrer Herrin einen Papagei geschenkt bekommt, den diese von einer Nachbarin erhalten hatte. Loulou bleibt Félicité auch nach seinem Tod treu, nachdem sie ihn  hat ausstopfen lassen. Mehr und mehr gerät er ihr zu einer Personifizierung des Heiligen Geistes, ja es gelingt ihr schließlich, ihn auf einem von ihr geschmückten Fronleichnamsaltar zu platzieren und ihn auf diese Weise mit Zustimmung des Pfarrers ganz und gar zu einer religiösen Ikone zu machen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe und erzählerischen Ökonomie Flaubert auf den wenigen Seiten der Erzählung ein ganzes Leben umspannt. Jegliche Sentimentalität ist dem Erzähler fremd; er bleibt auch hier ein Gott hinter den Kulissen:

Der Künstler muß in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.

an Mlle Leroyer de Chantepie, 18.3.1857

Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen ist inhaltlich eine traditionelle Heiligenlegende, die angeblich durch die Darstellung der Legende in einem Kirchenfenster von Rouen inspiriert wurde. Julien wird unter Prophezeiungen geboren: Während der Schwangerschaft wird seiner Mutter seine Bestimmung zum Heiligen vorausgesagt, dem Vater am Tag der Geburt seine Karriere als großer Kriegsmann und Angehöriger einer kaiserlichen Familie. Julien wächst auf als ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermessliche Anzahl von Tieren, die er alle tötet, um am Ende vom letzten Hirschen verflucht zu werden, er werde seine beiden Eltern ermorden. Von dieser Prophezeiung verschreckt und im Glauben tatsächlich seine Mutter aus Versehen getötet zu haben, flieht Julien, wird wie vorausgesagt ein gesuchter Krieger und heiratet schließlich in eine kaiserliche Familie ein. Natürlich muss sich auch noch die andere Prophezeiung erfüllen, und Julien tötet in einem Anfall von Eifersucht seine Eltern, die er für seine Frau und einen Liebhaber hält. Wie zu erwarten wendet er sich nun ab vom weltlichen Wohlleben und wird Fährmann an einem Fluss, lebt in Armut und im Dienst an seinem Mitmenschen. Erlöst wird er am Ende durch Jesus selbst, der ihm in Gestalt eines Aussätzigen erscheint und von ihm nicht nur Gastfreundschaft, sondern Dienst und Demut weit darüber hinaus erbittet. Bei der Geschichte handelt es sich offenbar um eine erzählerische Handübung; Flaubert spricht selbst davon, er habe die Drei Erzählungen als »Buch des Ausruhens« geschrieben.

Herodias erzählt in einiger Ausführlichkeit die Fabel vom Tod Johannes des Täufers, wie sie ihn  den Evangelien des Matthäus und des Markus zu finden ist. Die Perspektive ist dabei die des Herodes Antipas, der sich eingezwängt sieht zwischen den Machtansprüchen der Römer, den Drohungen des Araber, den Vorurteilen der Juden und dem Versuch, die Liebe seiner Frau Herodias zurückzugewinnen. Höhepunkte der Erzählung ist sicherlich die große Strafpredigt des Johannes, die unmittelbarer Auslöser seiner Hinrichtung wird, da er in ihr öffentlich sowohl Herodes als auch Herodias bloßstellt, und die Hinrichtung des Johannes, die zwar hinter den Kulissen bleibt, deren Umstände aber ein letztes Mal die Bedeutung Johannes des Täufers bestätigen. Auch in diesem Fall sollte man nur ein artistisches Interesse Flauberts am Stoff voraussetzen und nicht annehmen, dass es ihm um die eine oder andere Botschaft gegangen sei.

Die Drei Erzählungen waren ein bedeutender Erfolg bei Kollegen und Kritikern, brachten aber nicht die von Flaubert erhofften Einkünfte. Zwar hatte er die Erzählungen vorab zu sehr guten Zeilenhonoraren zwei Zeitungen verkaufen können, aber die Buchausgabe blieb hinter seinen Erwartungen zurück. So war das Buch, das eine kleine artistische Werkschau ist, in Flauberts Einschätzung ein Misserfolg.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Französischen von Claus Sprick und Cornelia Hasting. Zürich: Haffmans, 2000. Leinenrücken, Dünndruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 140 Seiten.

Ferdinand von Schirach: Schuld

978-3-492-05422-5 Wie beinahe immer bei einem schnellen Nachschuss zu einem Bestseller kann der Autor auch in diesem Fall das Niveau nicht halten. Weder erreicht er die durchgängige Lakonie des erzählerischen Tons wie im ersten Band, noch halten alle Geschichten das vorgegebene Niveau, noch sind die Erzählungen so dicht und die Stoffe so überraschend. Nun könnte man dem Autor zugute halten, dass man das zweite Buch nicht am ersten messen sollte, aber sowohl Verlag als auch Autor haben es offensichtlich auf den Eindruck angelegt, bei »Schuld« handele es sich um eine unmittelbare Fortsetzung von »Verbrechen«.

Grundthema der meisten Erzählungen scheint die Differenz zwischen dem tatsächlichen Geschehen – also dem, was der Erzähler weiß – und dem zu sein, was davon in der juristischen Abarbeitung relevant ist. Aber auch dies gilt nicht für alle Erzählungen. Insgesamt macht die Sammlung daher einen eher erratischen Eindruck und kann trotz einiger recht guter Stücke nicht so überzeugen wie »Verbrechen«.

Ferdinand von Schirach: Schuld. München: Piper, 2010. Pappband, Lesebändchen. 200 Seiten. 17.95€.

Bernhard Schlink: Sommerlügen

978-3-257-06753-8 Männer lügen. Sie lügen, weil es bequem ist, weil sie glauben, damit durchzukommen, weil sie emotional distanziert oder auch weil sie geile Trottel sind. Trottel sind sie auf jeden Fall. Hier und dann lügt auch einmal eine Frau, aber wahrscheinlich ist es nur eine Alibi-Lüge oder eine Quoten-Lüge, damit der Autor nicht in den Verdacht gerate, er schreibe genau den Unfug, den er schreibt.

Wie entfernt muss ein Autor von der Existenz seiner eigenen Figur sein, um zum Beispiel so etwas zu schreiben:

Auch ihn schlugen seine Eltern manchmal. Aber wenn es geschah, akzeptierte er es als Reaktion auf eine Torheit, die er begangen hatte. (91)

Wie durch und durch taub für Dialoge, um einen Satz wie diesen zu verfassen:

Du willst vielleicht wissen, warum ich dir nicht geglaubt habe und ihr glaube – ich höre in der Stimme einer Frau besser, ob sie die Wahrheit sagt oder lügt, als in der eines Mannes. (79)

Und den Unterschied zwischen »auf« und »offen« sollte ein Autor auch beherrschen, wenn ihn schon nicht eine Wortwiederholung vor einem stilistischen Patzer bewahrt:

Die Tür stand auf, und er setzte sich auf den Fahrersitz. (120)

Wahrscheinlich endgültig das letzte Buch von Bernhard Schlink, das ich lesen werde.

Bernhard Schlink: Sommerlügen. Geschichten. Zürich: Diogenes, 2010. Leinen, Lesebändchen, 279 Seiten. 19,90 €.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee

978-3-8031-1268-2Sechs Monologe, darunter ein männlicher, die Alan Bennett im Jahr 1987 für die BBC geschrieben hat. Nachdem »Die souveräne Leserin« ein Erfolg in Deutschland geworden ist, werden nun auch die älteren Veröffentlichung Bennetts peu à peu ins Deutsche übersetzt. Die Sprecherinnen der Monologe sind:

  • ein psychotischer Sohn, der mit seiner Mutter in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt,
  • eine Pfarrersfrau, die die Enge ihrer Ehe nicht erträgt,
  • eine Leserbriefschreiberin,
  • eine Nebendarstellerin,
  • eine Witwe, die langsam, aber sicher Bekanntschaft mit ihrem verstorbenen Ehemann macht und
  • eine alte Dame, die sich endgültig gegen ein Leben im Altersheim entscheidet.

Die Texte lassen hier und da den Humor Bennetts aufblitzen, sind aber insgesamt eher ernst gestimmt. Das folgende Zitat charakterisiert den Ton des Bändchens ganz gut:

Sie sollten aber nicht denken, dass meine Geschichte tragisch ist.
Pause.
Ich bin keine tragische Figur.
Pause.
Der Typ bin ich nicht.
Ausblenden zu schwach hörbarer Musik, vielleicht Johann Strauß.

Bennett begleitet das Bändchen mit einem Nachwort, in dem er sich selbst über einige motivischen Wiederholungen wundert, die ihm beim Lesen aufgefallen sind, und verfolgt einige dieser Motive auf ihre biografischen Quellen zurück. Sehr angenehm, wenn ein Autor seine Texte so lesen kann, als stammten sie von einem anderen.

Abgeschlossen wird das Bändchen mit einem Foto, auf dem Bennett sein Schwein Betty spazieren führt! Eine exzellentes Büchlein für zwischendurch.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2010. Leinen, Fadenheftung, 139 Seiten. 15,90 €.

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

978-3-492-05362-4 Stilistisch erstaunlicher Erstling. Der Band enthält elf kurze Kriminalerzählungen, die in einem markanten, lakonischen und sehr präzisen Stil erzählt sind. Nicht alle Erzählungen können die Stilhöhe halten, aber die besten zeigen einen abgeklärten Erzähler, der keinen Satz zu viel gebraucht. Alle sind aus der Ich-Perspektive eines Strafverteidigers heraus erzählt, wobei die Schilderung der Fälle in einer weitgehend auktorialen Perspektive geschieht, die die deutliche Distanz des Erzählers zum Geschehen noch weiter erhöht.

Die meisten Erzählungen scheinen mir zudem auch stofflich originell zu sein, wobei ich als Nicht-Krimileser zugestehen muss, das nicht gut beurteilen zu können; mich jedenfalls haben die meisten überrascht. Auch die kurzen Darstellungen exzessiver Gewalt haben mich wahrscheinlich mehr berührt, als dies dem abgeklärten Krimileser passieren wird.

Ein bisschen ärgerlich fand ich die Verlagswerbung, die penetrant auf die Wahrheit der geschilderten Fälle abhebt. Das Buch selbst ist zum Glück deutlich intelligenter als diese Sensationsmache: Es schließt mit dem schönen Satz René Magrittes »Ceci n’est pas une pomme.«

Ferdinand von Schirach: Verbrechen. München: Piper, 2009. Pappband, Lesebändchen, 208 Seiten. 16,95 €.