Stephen Fry: Mythos / Heroes / Troy

It all gets very confusing and is best left to academics and those with time on their hands.

In Deutschland haben wir in nahezu jedem Bücherschrank „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab stehen. Wer es nicht zur Konfirmation bzw. Kommunion geschenkt bekommen hat, erbt es irgendwann oder – in ganz verzweifelten Fällen – kauft es sich, weil man das doch einmal richtig wissen will. Die einen haben noch das fragwürdige Glück, ein „für die heranwachsende Jugend“ bearbeitetes Exemplar zu besitzen, während andere wenigstens versuchen, sich durch den originalen Text aus den 1830er Jahren zu arbeiten.

Schwab schrieb seine Darstellung antiker Mythen für die erwachsene Leserin seiner Zeit, die sich bewusst war, dass sie für die Lektüre der gerade entstehenden klassischen und romantischen Fossilien die griechische Mythologie präsent haben sollte. Schwab sah sich gezwungen, seine Auswahl und Nacherzählung an die Sensibilität seiner Rezipientinnen anzupassen. So wie es im viktorianischen England den für den Familiengebrauch chemisch gereinigten Shakespeare der Geschwister Lamb gab, so folgt Schwab konsequent seinem Programm, nur die „schönsten“ Sagen seinen Leserinnen zu präsentieren. Daraus folgt zuerst einmal, dass die in der Hauptsache aus Verrat, Mord, inzestuösem Sex und Kannibalismus bestehende Theogonie – also die Geschichte von der Entstehung der Welt und der Götter – bei ihm so gut wie gar nicht vorkommt. Auch sonst ist Schwab so dezent wie möglich, und er behandelt seinen Stoff ganz ernsthaft als hohes und notwendiges Bildungsgut. Man kann schon an dieser Beschreibung ablesen, warum ein solches Projekt in Deutschland dauerhaft Erfolg haben musste.

Und so verhindern die universale Verbreitung des Schwab und seine kommerziell attraktive Gemeinfreiheit, dass wir in Deutschland eine elegante und zeitgemäße Nacherzählung der griechischen Mythen der Antike aus der Feder eines großen Stilisten haben. Zum Glück kann eine Übersetzung jetzt diese Lücke füllen!

Stephen Fry ist eine der erstaunlichen Multibegabungen, derer sich das englische Königreich rühmen darf: Zumindest als Schauspieler, Moderator, Regisseur und Schriftsteller hat er schon geglänzt, er ist ein mehr als ordentlicher Musiker, und es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen würde, dass er heimlich auch als Maler tätig ist. Seit 2017 sind nun drei Bücher von ihm erschienen, in denen er die antiken griechischen Mythen nacherzählt, und er tut dies nicht nur mit souveränem Überblick und beeindruckender Belesenheit, sondern auch mit dem nötigen ironischen Abstand und Witz, um die Stoffe unterhaltsam an die heutigen Leserinnen und Leser zu bringen.

Die bis dato erschienenen Bände umfassen das gesamte für zumindest die drei letzten Jahrhunderte relevante Material (mit Ausnahme der Erzählungen der Odyssee, die wahrscheinlich den nächsten Band füllen werden), angefangen mit der Kosmologie und Theogonie der Griechen und endend mit der Erzählung um den 10 Jahre andauernden Helena-Krieg der Griechen und Trojaner.

Seltsamerweise habe ich nichts gefunden, über das ich mich beschweren könnte (einzig im ersten und dritten Band fehlt jeweils ein In­halts­ver­zeich­nis, was aber durch ein angehängtes Register wett gemacht wird). Fry erzählt die Mythen nicht nur stilistisch elegant und unaufgeregt nach, er lässt es unter den Göttern auch hübsch menscheln, lässt sie die hübschesten Banalitäten austauschen und macht die griechische Antike überhaupt so alltäglich, wie sie wohl einstmals auch gemeint gewesen ist. Das alles ist auch für einen Leser wie mich, der die Stoffe alle mehr oder weniger gut kennt, mit Vergnügen zu lesen und wieder zu lesen. Fry lässt auch die kleineren mythologischen Erzählungen (Hero und Leander, Philemon und Baucis etc.) nicht aus, er weiß überall kurze und sehr präzise Hinweise zur Deutung und Bedeutung der Mythen zu streuen, so dass man bemerkt, was hier noch zu heben wäre, wenn man Zeit und Lust dazu hat, aber dies geschieht immer nur nebenbei und mit leichter und sicherer Hand; und in den Fussnoten blitzt dann und wann Frys umfassende klassische Bildung auf.

Band 1 beginnt mit der Theogonie und umfasst die Mythen der Frühzeit (Erschaffung der Menschen, Kulturstiftung, Verwicklung und -mischung der Götter und Menschen); Band 2 konzentriert sich auf die Erzählung der sogenannte Heldenzeit der Griechen (Perseus, Herakles, Bellerophon, Orpheus, Jason, Atalanta, Ödipus und Theseus) und der 3. Band umfasst, wie schon der Titel sagt, den Sagenkreis um den Trojanischen Krieg herum. Ich warte nun mit Spannung auf die Nacherzählung der Odyssee, die wohl die Reihe beschließen wird.

Die ersten beiden Bände liegen auch schon auf Deutsch vor (bei Aufbau, übersetzt von Matthias Frings); ich habe keinen Zweifel, dass auch der dritte Band bereits in Arbeit ist.

  • Stephen Fry: Mythos. o.O.: Penguin / Random House, 2018. Broschur, 442 Seiten. Etwa 10,– €.
  • Stephen Fry: Heroes. o.O.: Penguin / Random House, 2019. Broschur, 476 Seiten. Etwa 10,– €.
  • Stephen Fry: Troy. o.O.: Penguin / Random House, 2021. Broschur, 414 Seiten. Etwa 10,– €.

Michel Winock: Flaubert

Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen, für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, mußte zu der Anschauung gelangen, daß ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten.

Thomas Mann

Der Hanser Verlag hat im Vorfeld des 200. Geburtstages von Gustave Flaubert die in Frankreich hochgelobte Biographie des Historikers Michel Winock aus dem Jahr 2013 ins Deutsche übertragen lassen. Winock ist zweifellos das, was man einen Fan nennen könnte, aber sein Buch bewahrt dennoch eine weitreichende Obejktivität, nicht nur, was Flaubert selbst angeht, sondern auch die vorhergehende Literatur über ihn betreffend. Es kommt dem Buch sicherlich sehr zugute, dass Winock kein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und so bei einigen der umstrittenen Themen der Flaubert-Forschung die gegensätzlichen Auffassungen schlicht einander gegenüberstellen und dann auf sich beruhen lassen kann. Ebenso ist seine souveräne Position zu Sartres überbordener Interpretation Flauberts erfrischend.

Gustave Flaubert ist ein erstaunlicher Autor: Sein Werk besteht im Wesentlichen aus drei schwierigen Romanen und drei Erzählungen, ergänzt durch das Fragment eines vierten Romans, der bis heute Leser eher irritiert als fasziniert. Zu seinen Lebzeiten scharfer Kritik ausgesetzt, stieg er im 20. Jahrhundert zu einem der Gründungsväter der modernen und Klassiker der französischen Literatur auf; sein Einfluss auf Schriftsteller seiner und nachfolgender Generationen kann kaum überschätzt werden.

Im Vergleich mit seine Kollegen hat Flaubert auf der einen Seite ein weitgehend einsiedlerisches Leben in der Provinz geführt, das der Arbeit an seinen Romane gewidmet war, die langsam und unter den größten stilistischen Skrupeln entstanden sind. Er musste stets seine juvenile Neigung zum Romantizismus und zum sprachlichen Überschwang im Zaum halten, und sein Glaube, dass ein Erzähler sich jedes Urteils über seine Figuren und deren Handlungen enthalten müsse, hat zu seinem bemerkenswert kühlen und distanzierten Stil geführt. Seine Stoffe entstammen einerseits unmittelbar seiner Gegenwart, andererseits einer phantastisch imaginierten Antike, in die er alle seine andern Orts unterdrückten Leidenschaften und schwarzen Gedanken projizierte.

Auf der anderen Seite war er ein aktiver Promoter und Regisseur der Theaterstücke seines Kollegen Louis Bouilhet, der ohne die Freundschaft mit Flaubert heute vollständig vergessen wäre, ein unermüdlicher Briefschreiber, der auf diese Weise durchaus intensive Freundschaften auch zu bedeutenden Kolleginnen und Kollegen (Georg Sand, Iwan Turgenew) unterhielt. Er hat eine Wohnung in Paris unterhalten und gehörte zum Künstlerkreis um die Brüder Goncourt, die in ihren Tagebüchern einige der schönsten und gehässigsten Porträts seiner Persönlichkeit geliefert haben. Er hat Nordafrika, Ägypten, den Nahen Osten und Istanbul bereist und war regelmäßig in England, wahrscheinlich um eine heimliche Geliebte zu treffen – tatsächlich so heimlich, dass auch heute noch nur darüber spekuliert werden kann. Zu diesen persönlichen Widersprüchen treten Flauberts soziologische und politische Vorurteile hinzu, die alles andere als ein einheitliches Weltbild ergeben und zu denen auch noch seine allgemeine Misanthropie und seine tiefe Verachtung der menschlichen, besonders aber der bürgerlichen Dummheit hinzutreten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Winocks resümierendes, letztes Kapitel sich weitgehend in einer Auflistung dieser Gegensätze erschöpft. Flaubert war alles andere als eine gerundete und in sich geschlossene Persönlichkeit, und so erscheint er auch in Winocks Erzählung.

Was die sachliche Ebene angeht ist das Buch, soweit ich sehe, bis auf eine Winzigkeit fehlerfrei. In der ersten Hälfte habe ich als Leser ein wenig zu oft gedacht, das hätte ich so auch schon bei Maxime Du Campe oder Guy de Maupassant gelesen, aber das muss einen anderen Leser durchaus nicht stören. Die Interpretationen der Werke sind durchweg gut bis herausragend – wer sich einen Eindruck von der Qualität des Buches verschaffen will, lese die der Education sentimental gewidmeten Kapitel XVIII bis XX. Bei der Analyse von Leben und Werk wird nebenbei eine kurze Geschichte Frankreichs von der Juli-Revolution bis in die frühen Jahre der Dritten Republik hinein mitgeliefert. Zudem finden sich knappe biographische Portraits etwa von Louis Bouilhet, George Sand oder Maxime Du Camp.

Alles in allem eine runde, gut lesbare und ausgewogene Biographie, nach deren Lektüre man sich als ausreichend informiert und gerüstet für die Lektüre der Werke Flauberts fühlen darf.

Michel Winock: Flaubert. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim. München: Hanser, 2021. Pappband, Lesebändchen, 655 Seiten. 36,– €

Gustave Flaubert: Bibliomanie

Die Bände der Insel-Bücherei sind einerseits beliebte Geschenk-Bücher, andererseits gesuchte und teils sehr rare Sammlerstücke. Viele Titel erinnern noch an die Zeit, als der Insel-Verlag in der Hauptsache als Verlag für Klassiker geglänzt hat; immer sind die Bände für ein kleines, aber besonderes Lesevergnügen gut. So auch diese Neuausgabe der allersten Veröffentlichung Gustave Flauberts. Die düstere, romantische Schauer- und Mordgeschichte um die Bücherleidenschaft eines ehemaligen Mönchs ist sehr üppig mit atmosphärisch passenden Bildern von Burkhard Neie ausgestattet.

Zum Inhalt der Erzählung habe ich bei der Neu-Übersetzung durch Elisabeth Edl schon das Wichtigste gesagt; es muss hier nicht wiederholt werden. Bei der Übersetzung hat man bei Insel leider ein wenig gespart und die schon recht betagte Na-ja-so-ungefähr-Übersetzung von Erwin Rieger gewählt. Aber dennoch ist der Band ein hübsches Präsent für jeden Buchliebhaber. Ostern steht vor der Tür, und Lesern sind die achteckigen Eier oft die liebsten.

Gustave Flaubert: Bibliomanie. Aus dem Französischen von Erwin Rieger. Illustriert von Burkhard Neie. Berlin: Insel, 2021. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 68 Seiten. 8,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (139)

Der Leser wird so freundlich sein, sich zu erinnern, daß wir ihm zu Anfang des zweiten Buches dieser Geschichte einen Wink über unsere Absicht gegeben haben, verschiedene lange Zeitperioden, in denen nichts vorgefallen ist, was in der Chronik aufgezeichnet zu werden verdiente, zu überschlagen. Dabei haben wir nicht nur unsere eigene Würde und Bequemlichkeit im Auge, sondern auch den Nutzen und Vorteil des Lesers, denn abgesehen davon, daß wir es ihm ersparen, seine Zeit mit Lektüre zu vergeuden, die ihm weder Nutzen noch Vergnügen schafft, geben wir ihm bei allen diesen Stellen eine Möglichkeit, den prächtigen Scharfsinn, der ihm zu Gebote steht, anzuwenden, indem er diese leeren Zeiträume mit eigenen Vermutungen ausfüllt, weshalb wir auf den vorhergehenden Seiten dafür gesorgt haben, ihn zu diesem Unternehmen tüchtig zu machen.

Henry Fielding
Tom Jones

Jahresrückblick 2020

Das Lesejahr 2020 war zum Glück überwiegend positiv. Es waren eigentlich nur zwei Titel, bei denen ich die Lesezeit tatsächlich bereut habe:

  • August Lafontaines Quinctius Heymeran von Flaming wurde aufgrund einer späten Empfehlung Arno Schmidts erneut ediert. Das Buch selbst ist höchstens in historischer Perspektive von Interesse, an sich handelt es sich nur um routiniert geschriebene Unterhaltungsliteratur des 18. Jahrhunderts.
  • Orlando Figes’ Die Europäer ist ein weiteres oberflächliches, populär geschriebenes Buch aus der Feder eines Historikers, der es eigentlich besser wissen sollte.

Dem standen zahlreiche gute Lektüren gegenüber:

  • George Eliots Middlemarch hat das Lesejahr sicherlich überstrahlt: Der Roman, gegen den ich lange Zeit unbestimmte Vorbehalte gehegt hatte, erwies sich in der Neuübersetzung von Melanie Walz als eine große, humorvolle und realistische Erzählung, die die Literatur ihrer Zeit souverän überblickt.
  • Salman Rushdies Quichotte hat mich, nachdem ich eine Zeit gebraucht hatte, mich einzulesen, wahrhaftig überwältigt. Ein grandioser und phantasievoller moderner Roman von einem der wirklich großen Erzähler unserer Zeit.
  • Hinzu kommen die Fortsetzung der Dostojewskij-Lektüre mit Böse Geister und dem mich weniger überzeugenden Ein grüner Junge sowie die Lektüre der restlichen drei Bände der Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmanns. Auch bei diesen Autoren wird die systematische Lektüre sicherlich fortgesetzt werden.
  • Als interessante Entdeckung standen am Ende des Jahres zwei Texte von Marguerite Duras, von der ich sicherlich noch das eine oder andere lesen werde.

Orlando Figes: Die Europäer

Da Turgenew durch das schlechte Wetter ans Haus gebunden war, setzte er sich an den Schreibtisch in seinem Zimmer und begann ein Meisterwerk. Er hatte nichts anderes zu tun.

Das Unglück mit diesem Buch beginnt schon im Untertitel: Aus dem Three Lives and the Making of a Cosmopolitan Culture des Originals macht die deutsche Übersetzung Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Nun ist die Entstehung der europäischen Kultur sicherlich nicht im 19. Jahrhundert zu verorten, und was ein kosmopolitisches Leben sein soll, ist auch nicht so leicht auszudenken. Wahrscheinlich ist dieser Missgriff nicht dem Übersetzer anzulasten, aber auch ohne das steht es um dessen Arbeit nicht überall zum Besten.

Die drei Leben, von denen das Buch angeblich in der Hauptsache handelt, sind die der Sängerin Pauline Viardot und des Schriftstellers Iwan Turgenew. Das dritte, von dem das Buch definitiv nicht handelt, ist das von Paulines Ehemann Louis Viardot, von dem zwar hier und da die Rede ist, der es aber – allein was die reine Textmenge angeht – zum Beispiel nicht mit der Entstehung und Nutzung des europäischen Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert aufnehmen kann. Nun ist es sicherlich möglich, auf 560 Seiten eine solide Doppelbiographie zu liefern, doch wenn man gleichzeitig versucht, eine Geschichte der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts – und zwar der Musik, Literatur und Malerei; einzig die Bildende Kunst und Architektur kommen zu kurz –, des Einflusses der Eisenbahn auf die Entwicklung dieser Kultur, der Entstehung des Tourismus und nicht zuletzt der „Schaffung eines europäischen Marktes für die Künste im 19. Jahrhundert“, wie es das Vorwort in aller Bescheidenheit ankündigt, zu liefern, so kann es schon einmal geschehen, dass keiner dieser Aspekte anmessen behandelt werden kann.

So ist denn aus dem allem ein ganz amüsantes Pottpüree geworden, ein Durcheinander unterschiedlichster Ansätze und Absichten, was zum Teil zu Kapiteln führt, die als gelungene Illustration der Hilflosigkeit des Autors gelten können (ich empfehle zur Probe den Abschnitt 2 des 4. Kapitels (S. 260–284) zu lesen). Bei Themen, mit denen sich der Leser auskennt, wimmelt das Buch von Oberflächlichkeiten und Fehlern, die anderen nimmt er amüsiert zur Kenntnis nach dem Motto „So stellt sich also der kleine Orlando das europäische 19. Jahrhundert vor“. Wer sich aber dafür interessiert, welche Schriftsteller und Komponisten es „gelernt haben“, während einer Eisenbahnfahrt zu arbeiten, wird aufs Beste bedient.

Für Leser mit zu viel Zeit oder zu wenig Ahnung sicherlich eine amüsante Lektüre. Für alle anderen Zeitverschwendung. Leider das zweite Buch von Orlando Figes, dem ich ein solches Urteil ausstellen muss.

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung der europäischen Kultur. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser Berlin, 2020. Pappband, Lesebändchen, 640 Seiten. 34,– €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix

Asterix lebt! Mit diesem Band beweist das neue Autorenteam und auch der deutsche Übersetzer Klaus Jöken, dass sie durchaus in der Lage sind, an alte Höhen anzuknüpfen. Der Band hat nicht nur eine akzeptable Geschichte zu erzählen, sondern auch die Wortspiele und Anspielungen funktionieren diesmal und das übergeordnete Thema der Jugendkultur ist einigermaßen überzeugend durchgehalten, wenn auch hier sicherlich die Einschränkung zu machen ist, dass es sich einmal mehr um eine Jugendkultur handelt, wie sie sich jene vorstellen, die an ihr nicht teilhaben.

Die Geschichte knüpft sehr locker an den Vorläufer Asterix und der Avernerschild an und vermeidet zugleich, Asterix und die Normannen zu kopieren: Adrenaline, die Tochter des Häuptlings Vercingetorix, der bei Alesia vor Cäsar kapitulieren musste und als Gefangener nach Rom geführt wurde, wird von den Römern verfolgt, da sie im Besitz des Wendelrings ihres Vaters ist; mit diesem Symbol väterlicher Macht könnte das Mädchen zum Kristallisationspunkt eines neue gallischen Aufstands werden. Um das Mädchen vor den Römern zu schützen, wird sie in das berühmte kleine gallische Dorf gebracht, wo selbstverständlich Asterix und Obelix mit ihrer Bewachung beauftragt werden. Ebenso selbstverständlich kann Adrenaline entkommen, läuft den Piraten in die Hände, die wiederum von Asterix und Obelix verfolgt und erreicht werden, als deren Schiff von einer römischen Galeere aufgebracht wird. Nach der unvermeidlichen Schlägerei wird auch diesmal alles gut, und Adrenaline erfüllt den Auftrag ihres Vaters „Widerstand zu leisten und frei zu bleiben“ auf ihre ganz eigene Weise.

Alles in allem nach langer Zeit wieder einmal ein runder Asterix-Band, der weitgehend funktioniert. Wie schon beim letzten Band gesagt: „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix. Asterix Bd. 38. Berlin: Egmont Ehapa, 2019. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen

Man muss allem ehrlich ins Gesicht sehn und sich nichts weismachen lassen und vor allem sich selber nichts weismachen.

Der kleine Roman aus dem Jahr 1887 spielt in Berlin in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre und erzählt die Liebesgeschichte zwischen der Näherin Lene Nimptsch und Baron Botho von Rienäcker. Kennengelernt haben sich die beiden, als Botho Lene und eine Freundin bei einem Bootsausflug aus einer Notlage errettet und anschließend nach Hause begleitet. Seitdem ist Botho regelmäßiger Gast in der beim Zoologischen Garten gelegenen Gärtnerei, bei der Lene zusammen mit ihrer Ziehmutter wohnt. Für Lene ist es nicht die erste Freundschaft mit einem Adeligen; für Botho ist es eine entspannende Auszeit vom Umgang in der adeligen Gesellschaft, den er als bemüht und anstrengend empfindet. Die Beziehung der beiden gipfelt in einer gemeinsamen Nacht, die sie in einem etwas abgelegenen Gasthaus miteinander verbringen. Doch ist dies zugleich der Anfang vom Ende.

Botho steht von Seiten seiner Familie unter Druck, eine schon lange verabredete Verlobung mit seiner wohlhabenden Kusine endlich zu realisieren. Die Familie Bothos ist auf das Geld angewiesen, und Botho gibt den Vernunftgründen nach, trennt sich von Lene und heiratet das Geld. Seine Frau Käthe erweist sich als eine fröhliche, wenn auch etwas oberflächliche Natur, mit der sich gut auskommen lässt. Dennoch hängt Botho auch nach seiner Hochzeit immer noch seiner Liebe zu Lene nach. Auch Lene macht die Trennung zu schaffen, aber sie bewältigt ihre Trauer: Sie sorgt für den Umzug mit ihrer Mutter in eine bessere Gegend und lernt einen soliden, älteren Mann kennen, der sie trotz ihrer Vorgeschichte heiratet. Sowohl Botho als auch Lene wachsen am Ende über ihre Liebe hinaus und werden vom Autor in eine ernüchternde Normalität entlassen.

Fontane selbst hat Irrungen, Wirrungen ebenso wie den nachfolgenden Roman Stine, der von einer ganz ähnlichen Beziehung erzählt, als „harmlos“ bezeichnet. Offensichtlich handelt es sich in beiden Fällen um Literatur aus Literatur, also eine Variation eines damals populären und in der Trivialliteratur der Zeit viel behandelten Stoffs. Doch das von Fontane gewählte Ende von Irrungen, Wirrungen, das sich sowohl einer Tragödie als auch dem Happy End der Komödie verweigert, hebt seine Abwandlung aus dem zeitgenössischen Schema heraus: Nichts Dramatisches ereignet sich, niemandes Leben wird zerstört, aber es werden auch keine Standesgrenzen gesprengt und das kleine, private Glück der Liebe gefeiert. Lene und Botho bleiben beide mit einem „Knax für’s Leben“ zurück – um noch einmal Fontane selbst zu zitieren –, doch bleibt es bei der „Berliner Alltagsgeschichte“, als die der Roman im Zeitungsvorabdruck bezeichnet wird.

Neben der Liebesgeschichte liefert Fontane besonders im ersten Teil ein breit ausgemaltes Bild vom einfachen Leben im Berlin der 1870er Jahre. Für wie gelungen man das hält, muss jede und jeder für sich entscheiden; mir ist der darin vorherrschende etwas süßliche Idyllenton schon ein wenig auf die Nerven gegangen.

Das Buch hat bei der Vorab-Veröffentlichung einen ziemlichen Skandal gemacht; besonders die gemeinsame Übernachtung der beiden Unverheirateten hat damals einige Gemüter in Wallung gebracht, obwohl es sich gerade bei dieser Passage um die noch dezenteste des ganzen Buchs handelt. An anderen Stellen werden die Umstände, unter denen der „Storch“ die Kinder in die Welt bringt, weit deutlicher angesprochen. Auch wenn sich das für heutige Leser alles gänzlich harmlos liest, kann man hier gut erkennen, welchen Empfindlichkeiten sich ein Autor am Ende des 19. Jahrhunderts noch gegenüber sah.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. RUB 18741. Stuttgart: Reclam, 2010. Broschur, 199 Seiten. 4,40 €.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow

Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten und ziehen dann jedesmal den Kürzeren.

Schach von Wuthenow aus dem Jahr 1882 (Buchausgabe: 1883) ist nach Vor dem Sturm Fontanes zweiter Roman, dessen Handlung in der Napoleonischen Zeit spielt. Ob die Gattungsbezeichnung korrekt ist, wird seit langer Zeit diskutiert; Fontane selbst nannte den Text mehrfach eine Novelle, so dass man je nach Geschmack entweder von einem kurzen Roman oder einer ausgefallenen Novelle sprechen kann. Wie zahlreichen anderen Texten Fontanes liegt auch diesem ein historischer Fall zugrunde, den Fontane dramaturgisch strafft und zuspitzt.

Die Handlung spielt in Berlin im Jahr 1806 am Vorabend der preußischen Niederlage gegen Napoleon. Erzählt wird von dem jungen Baron Schach von Wuthenow, Angehöriger des Regiments Gendarmes, der als ein Außenseiter und eingebildeter Schönling gilt. Schach verkehrt im Salon der verwitweten Josephine von Carayon, die mit ihrer Tochter Victoire in keineswegs luxuriösen Umständen in der Nähe des Gendarmenmarktes wohnt. Ihn verbindet eine offensichtliche Sympathie mit der Mutter; zugleich lässt sich eine Verliebtheit der mit ihm etwa gleichaltrigen Tochter in Schach aber nicht leugnen.

Der erste Teil des Romans widmet sich ausführlich der Schilderung der Situation Preußens, das einen fragilen Frieden mit Frankreich erreicht hat, an dessen Dauer aber niemand recht glauben kann. Zur Knüpfung des dramatischen Knotens kommt es, als Schach eines Abends unangemeldet bei den Carayons vorspricht und Victoire allein antrifft. Statt sich sofort wieder zu verabschieden, wie es sein erster Impuls ist, bleibt Schach und beginnt, mit Victoire zu plaudern.

Ach, das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte. Und nun hörte sie sie willenlos und schwieg in einer süßen Betäubung.

Die Zimmeruhr schlug neun und die Turmuhr draußen antwortete. Victoire, die den Schlägen gefolgt war, strich das Haar zurück, und trat ans Fenster und sah auf die Straße.
» Was erregt dich?«

Der Übergang des Dialogs vom formellen Sie zum intimen Du muss genügen, um das eigentliche Geschehen zu schildern. Victoire ist eine ehemalige Schönheit, die durch eine Erkrankung an Blattern entstellt ist. Alles, was der Leser sonst von ihr erfährt, macht sie zu einer potentiell idealen Gattin Schachs, doch fürchtet der eine offizielle Verbindung mit ihr, die ihn möglicherweise dem Spott seiner Kameraden aussetzen würde. Schach versucht daher in den folgenden Wochen konsequent jede intimere Begegnung mit Victoire zu vermeiden, die auch diese Wendung ihrer Beziehung zu Schach klag- und kommentarlos hinnimmt, bis sie eines Tages zusammenbricht und ihrer Mutter das Geschehene verrät, wohl auch, weil es sich ohnehin nur noch eine begrenzte Zeit würde verheimlichen lassen.

Frau von Carayon stellt Schach daraufhin bestimmt, wenn auch nicht unfreundlich zur Rede, der sich sofort zu seiner Verantwortung bekennt und mit der Mutter sowohl den Verlobungs- als auch den Hochzeitstermin festlegt. Doch in der Woche vor der Bekanntmachung der Verlobung erscheinen in Berlin Stück für Stück drei Karikaturen, die Schachs Verhältnis sowohl zur Mutter als auch zur Tochter thematisieren. Schachs einziger Einfall ist es, sich sofort und ohne sich zu verabschieden auf sein Schloss Wuthenow zurückzuziehen und dort quasi zu verstecken.

Die düpierte Frau von Carayon, die von den Karikaturen noch nichts weiß, glaubt Schach wolle sich nun doch vor der Ehe mit Victoire drücken und nutzt ihre Verbindung zum Hof, um die Einhaltung von Schachs Versprechen einzufordern. Der König – Friedrich Wilhem III. –, zitiert ihn an den Hof und teilt ihm ziemlich lakonisch mit, dass er von ihm die Erfüllung seiner Pflicht oder seinen Abschied als Offizier erwarte. Sogar Königin Louise lässt sich dazu herbei, Schach ins Gewissen zu reden.

Die gnädigen Worte beider Majestäten hatten eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt; trotzdem war er nur getroffen, in nichts aber umgestimmt worden. Er wusste, was er dem König schuldig sei: Gehorsam! Aber sein Herz widerstritt, und so galt es denn für ihn, etwas ausfindig zu machen, was Gehorsam und Ungehorsam in sich vereinigte, was dem Befehle seines Königs und dem Befehle seiner eigenen Natur gleichmäßig entsprach.

Dieses „etwas“ bildet nun die eigentliche Pointe des Textes: Schach verlobt sich und heiratet Victoire, wie es von ihm erwartet wird, und auf der Rückfahrt von der Hochzeitsfeier nach Hause – am nächsten Tag soll das Brautpaar in die Flitterwochen reisen – erschießt er sich in seinem Wagen.

Fontane schließt mit zwei Deutungen des „Falls Schach“: Zum einen durch den damals berühmten Militärhistoriker von Bülow, der Schach als ein Symbol für den aushöhlten Ehrbegriff des preußischen Militärs versteht, zum anderen durch Schachs Ehefrau Victoire, die den Freitot ihres Mannes als Flucht vor der von ihm gefürchteten Institution der Ehe deutet und sich mit dem Glück ihres Kindes bescheidet. Wie durch den ganzen Text hindurch repräsentiert Victoire den Sieg des Stoizismus über die Welt.

Natürlich bietet sich eine dritte Deutung des Buch, nicht so sehr des „Falls Schach“ an: Fontane wollte seine Erzählungen als eine Fortsetzung des Programms der Weimar Klassiker unter Überspringen des romantischen Denkens und Erzählens verstehen. Von daher kann Schach von Wuthenow programmatisch gelesen werden, die sozusagen im Rückblick der Romantik den Spiegel vorhält und sagt: Seht dies war Eure Welt und solche Stoffe standen Euch zur Verfügung, und nichts davon findet sich in Euren Romanen wieder. Dass diese Sicht nicht nur anachronistisch, sondern auch ungerecht wäre, ist sowohl offensichtlich als auch wenig erheblich. Klappern gehört eben zum Handwerk, auch dem eines Schriftstellers.

Nur am Rande sei hier noch auf eine außerordentliche Auseinandersetzung mit diesem Text hingewiesen: Uwe Johnson lässt im vierten Band seiner Jahrestage Gesine Cresspahl in ihrem letzten Schuljahr diesen Roman unter Anleitung eines jungen, gerade von der Universität kommenden Kandidaten lesen und liefert so einen wundervollen Kommentar eines Schriftstellers zu einem Meisterstück eines seiner Vorgänger. Unbedingt lesenswert.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. RUB 19518. Stuttgart: Reclam, 2019. Broschur, 214 Seiten. 4,40 €.