Schreiben ist ein sehr starker Zeitvertreib …
Der Eindruck, der sich bei der Wiederlektüre der sogenannten „Frühen Erzählungen“ eingestellt hatte, verstärkt sich eher noch bei diesem zweiten Band der Erzählungen. Herr und Hund, Gesang von Kindchen (bei dem ich mich nicht habe überwinden können, die erneute Lektüre über den ersten Abschnitt Lebensdinge hinaus fortzusetzen) und Unordnung und frühes Leid sind ganz aus dem heimischen Umfeld geschöpft. Sie erscheinen beinahe vollständig als Erzählungen um des Erzählens willen; sicherlich kann man aus Unordnung und frühes Leid Atmosphärisches zum München der Zwischenkriegsjahre ziehen, und auch das erste, mächtige Verliebtsein des kleinen Lorchens bildet am Ende tatsächlich so etwas wie erzählerischen Stoff, aber insgesamt ist das alles erzählerischer Leerlauf, seitenschindend und sonst nichts.
Als einigermaßen gewichtiges Gegenstück zu Der Tod in Venedig erscheint in diesem Band natürlich Mario und der Zauberer, in dem der Leser Mann gern zutrauen würde, etwas Politisches über den italienischen Faschismus sagen zu wollen, aber alles bleibt im Bereich des Psychologischen und nicht einmal da ist es recht deutlich. Immerhin ist es unbestimmt genug, um sich einem breiten Spektrum an Interpretationen zu öffnen, und ragt so aus dem Bestand des Bandes positiv hervor.
Den Beschluss bilden drei Erzählungen: Zwei sind Nacherzählungen mythischer Stoffe, einer indischen Legende, die Mann auf ein Lehrstück über die Langweile des Sexes in der Ehe reduziert, und einer entmythologisierenden Nacherzählung der Geschichte Mose bis zum Berg Sinai, eine offenbare Seitenarbeit zum Joseph-Roman. Beide Texte haben beim Wiederlesen keinerlei Überraschung bereit gehalten.
Am schlimmsten aber ist die letzte Erzählung Die Betrogene, eine Erzählung, die Mann bewusst in einer Art von Parodie des erzählerischen Tons des späten 19. Jahrhunderts hält, wenn er auch die Handlung in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen verlegt. Thema ist auch hier eine gesellschaftlich als unpassend empfundene Verliebtheit, diesmal einer Offizierswitwe, die mit ihren beiden Kindern in Düsseldorf lebt und sich in den us-amerikanischen, jungen Sprachlehrer ihres Sohnes verkuckt. Es wird unendlich viel geredet, besonders in völlig unglaubwürdigen langen Monologen, bis sich die Verliebte, die sich wundersam verjüngt glaubt, als todkrank erweist und vor der Erfüllung des späten Glücks stirbt. Beinahe nichts an dieser Erzählung stimmt, weder die Figuren (besonders die verständnisvolle Tochter), noch die Sprache, noch die geschilderte Gesellschaft. Einzig zugestehen muss man Mann, dass er darauf verzichtet, das einzige Geheimnis dieser Erzählung auch noch tot reden zu lassen.
Thomas Mann: Späte Erzählungen. 1919–1953. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 2025. 546 Seiten. 16,99 €.