Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Aus gegebenem Anlass (VI): Bloomsday

What did Bloom do at the range?
He removed the saucepan to the left hob, rose and carried the iron kettle to the sink in order to tap the current by turning the faucet to let it flow.

Did it flow?
Yes. From Roundwood reservoir in county Wicklow of a cubic capacity of 2,400 million gallons, percolating through a subterranean aqueduct of filter mains of single and double pipeage constructed at an initial plant cost of £5 per linear yard by way of the Dargle, Rathdown, Glen of the Downs and Callowhill to the 26 acre reservoir at Stillorgan, a distance of 22 statute miles, and thence, through a system of relieving tanks, by a gradient of 250 feet to the city boundary at Eustace bridge, upper Leeson street, though from prolonged summer drouth and daily supply of 12½ million gallons the water had fallen below the sill of the overflow weir for which reason the borough surveyor and waterworks engineer, Mr Spencer Harty, C.E., on the instructions of the waterworks committee, had prohibited the use of municipal water for purposes other than those of consumption (envisaging the possibility of recourse being had to the importable water of the Grand and Royal canals as in 1893) particularly as the South Dublin Guardians, notwithstanding their ration of 15 gallons per day per pauper supplied through a 6 inch meter, had been convicted of a wastage of 20,000 gallons per night by a reading of their meter on the affirmation of the law agent of the corporation, Mr Ignatius Rice, solicitor, thereby acting to the detriment of another section of the public, selfsupporting taxpayers, solvent, sound.

What in water did Bloom, waterlover, drawer of water, watercarrier returning to the range, admire?
Its universality: its democratic equality and constancy to its nature in seeking its own level: its vastness in the ocean of Mercator’s projection: its umplumbed profundity in the Sundam trench of the Pacific exceeding 8,000 fathoms: the restlessness of its waves and surface particles visiting in turn all points of its seaboard: the independence of its units: the variability of states of sea: its hydrostatic quiescence in calm: its hydrokinetic turgidity in neap and spring tides: its subsidence after devastation: its sterility in the circumpolar icecaps, arctic and antarctic: its climatic and commercial significance: its preponderance of 3 to 1 over the dry land of the globe: its indisputable hegemony extending in square leagues over all the region below the subequatorial tropic of Capricorn: the multisecular stability of its primeval basin: its luteofulvous bed: Its capacity to dissolve and hold in solution all soluble substances including billions of tons of the most precious metals: its slow erosions of peninsulas and downwardtending promontories: its alluvial deposits: its weight and volume and density: its imperturbability in lagoons and highland tarns: its gradation of colours in the torrid and temperate and frigid zones: its vehicular ramifications in continental lakecontained streams and confluent oceanflowing rivers with their tributaries and transoceanic currents: gulfstream, north and south equatorial courses: its violence in seaquakes, waterspouts, artesian wells, eruptions, torrents, eddies, freshets, spates, groundswells, watersheds, waterpartings, geysers, cataracts, whirlpools, maelstroms, inundations, deluges, cloudbursts: its vast circumterrestrial ahorizontal curve: its secrecy in springs, and latent humidity, revealed by rhabdomantic or hygrometric instruments and exemplified by the hole in the wall at Ashtown gate, saturation of air, distillation of dew: the simplicity of its composition, two constituent parts of hydrogen with one constituent part of oxygen: its healing virtues: its buoyancy in the waters of the Dead Sea: its persevering penetrativeness in runnels, gullies, inadequate dams, leaks on shipboard: its properties for cleansing, quenching thirst and fire, nourishing vegetation: its infallibility as paradigm and paragon: its metamorphoses as vapour, mist, cloud, rain, sleet, snow, hail: its strength in rigid hydrants: its variety of forms in loughs and bays and gulfs and bights and guts and lagoons and atolls and archipelagos and sounds and fjords and minches and tidal estuaries and arms of sea: its solidity in glaciers, icebergs, icefloes: its docility in working hydraulic millwheels, turbines, dynamos, electric power stations, bleachworks, tanneries, scutchmills: its utility in canals, rivers, if navigable, floating and graving docks: its potentiality derivable from harnessed tides or watercourses falling from level to level: its submarine fauna and flora (anacoustic, photophobe) numerically, if not literally, the inhabitants of the globe: its ubiquity as constituting 90% of the human body: the noxiousness of its effluvia in lacustrine marshes, pestilential fens, faded flowerwater, stagnant pools in the waning moon.

James Joyce:
Ulysses

Stephen Greenblatt: Die Wende

»Herr Ober, in der Suppe fehlt was.«
»Das ist nicht möglich, mein Herr. Da ist alles drin, was in der Küche war.«

greenblatt_wendeEin Buch aus der Kategorie »viel Soße, wenig Fleisch«. Greenblatt ist es als Shakespeare-Biograph natürlich gewohnt, mit nahezu nichts soviel Umstände zu machen, dass sich ein ansehnliches Buch ergibt. Dass man mit dem Bohren eines solch dünnen Bretts allerdings jetzt schon einen Pulitzer-Preis gewinnen kann, ist kein gutes Zeichen.

Das Zentrum des Buches bildet die Wiederentdeckung des Textes »De rerum natura« von Lukrez im Jahre 1417. Wir kennen hierfür leider nur wenige konkrete Fakten: Weder wissen wir, in welcher Klosterbibliothek Gianfrancesco Poggio den Fund machte, noch ist das ursprünglich aufgefundene Manuskript jemals wieder aufgetaucht. Auch die im Auftrag Poggios erstellte Kopie ist verloren; erhalten blieb nur eine italienische Abschrift dieser Abschrift, die dann die Grundlage der Verbreitung des Textes im 15. Jahrhundert wurde. Das ist auch schon beinahe die ganze Geschichte, die Greenblatt zu erzählen hat. Damit gut 270 Seiten zu füllen, ist kein kleines Kunststück, weshalb wir viel oberflächlich Angelesenes über Pompei und Herculaneum erfahren, weil dort in einer Villa ein antikes Exemplar des Buches gefunden wurde. Auch wird uns ausführlich von Jan Hus und Giordano Bruno berichtet, nicht weil die Lukrez gelesen hätten, sondern weil der eine ebenso wie Poggio auf dem Konzil von Konstanz war (allerdings mit deutlich schlechterem Ausgang) und der andere auch sowas ähnliches wie Lukrez gemeint hat, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderen Absichten, aber was macht das schon, wenn es nur Seiten füllt. Auch erfahren wir einiges über die Kirchenpolitik des 15. Jahrhunderts, über Petrarcas Latein, mittelalterliche Skriptorien (wobei Greenblatt von den drei dort am häufigsten verwendeten Tinten gerade einmal eine zu kennen scheint), Lesevorschriften für Mönche und die Mühen des Kopierens  und vieles, vieles andere mehr. Nichts von dem hat zwar irgend etwas mit Lukrez oder »De rerum natura« zu tun, aber Greenblatt hat es eben irgendwo gelesen und nun soll es auch mit ins Buch hinein. Wer wird so kleinlich sein und verlangen, dass ein so umfassend halbgebildeter Autor beim Thema bleibt.

Wie wesentlich fremd Greenblatt die Welt des 15. und 16. Jahrhunderts am Ende bleibt, zeigt vielleicht am deutlichsten diese Stelle:

Tatsächlich konnte es den Anschein haben, als gebe der Atomismus den Reformatoren so etwas wie eine geistige Massenvernichtungswaffe an die Hand. [S. 263]

Was wird sich ein Mensch des 16. Jahrhunderts wohl unter einer »Massenvernichtungswaffe« vorgestellt haben?

Gänzlich irreführend aber sind der Untertitel und die Verlagswerbung zum Buch: Während die ursprüngliche Ausgabe den ebenso vagen wie historisch irritierenden Untertitel »How the World Became Modern« trug, wurde das Buch dann schon für die englischen Ausgaben bei Random House in »How the Renaissance Began« umgetauft, was dann konsequent zu dem deutschen »Wie die Renaissance begann« führte. Nun spricht Greenblatt nebenbei und fragmentarisch auch darüber, wie die Renaissance begann, wobei er sich dabei in der Hauptsache auf Pertrarcas Vorliebe für klassisches Latein konzentriert, alles in allem ist im Buch aber nur ganz wenig und sehr oberflächlich davon die Rede, wie die Renaissance begann. Die Verlagswerbung setzt noch eins oben drauf:

Spannend und farbenfroh beschreibt Stephen Greenblatt, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste und bedeutende Künstler wie Botticelli und Shakespeare, aber auch Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei prägte. Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance, der zugleich zeigt, wie ein einzelnes Buch dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben kann. [Siedler Verlag / Random House]

Genau dies tut Greenblatt nicht! Zwar suggeriert er einen Einfluss des Lukrezschen Weltbildes auf Botticellis »La Primavera«, aber das ist auch schon der einzige bildende Künstler, der erwähnt wird. Von einer Einordnung Botticellis in die Gesamtentwicklung der Kunst geschweige denn der Kultur der Renaissance, die eine gänzlich ausreichende Erklärung ohne einen Rekurs auf Lukrez liefert, kann natürlich keine Rede sein. Einen möglichen Einfluss auf Shakespeare macht der Shakespeare-Experte Greenblatt ausgerechnet an der Verwendung des Wortes »atomi« in »Romeo and Juliet« fest, nachdem er einige Seiten zuvor explizit festgestellt hat, dass Lukrez das griechische »atomos« überhaupt nicht verwendet. Auch von einem konkreten Einfluss auf Giordano Bruno oder Galilei ist keine Rede, auch wenn beide im Buch natürlich prominent vertreten sind.

Einen konkreten inhaltlichen Einfluss kann Greenblatt überhaupt erst für das 17. Jahrhundert nachweisen, also zu einer Zeit, als dem physikalischen Materialismus längst auf anderem Wege der Boden bereitet ist. Das 15. und 16. Jahrhundert haben Lukrez wohl ausschließlich als einen außerordentlichen Stilisten zur Kenntnis genommen, dessen Theorien aber in keiner Weise ernst zu nehmen waren.

Ein geschwätziges und seichtes Buch, das, so lange man nicht erwartet, das vorzufinden, was der Untertitel und die Verlagswerbung versprechen, für die meisten sicherlich ganz nett zu lesen ist. Für diejenigen, die schon eine allgemeine Vorstellung davon haben, dass es so etwas wie eine Antike und eine Renaissance gegeben hat, ist das Herausklauben relevanter Informationen wahrscheinlich etwas zu mühsam und die Lektüre eine Zeitverschwendung.

Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: Siedler, 2012. Leinen, Lesebändchen, 345 Seiten. 24,99 €.

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann

Wenn es doch bloß aufklaren würde.

Da James Joyce am 13. Januar 1941 gestorben ist, wurde sein Werk Anfang dieses Jahres gemeinfrei, was es vor allen Dingen von den autoritären Verhinderungsaktionen seines Enkels Stephen befreit. Das Freiwerden der Texte gibt nun nicht nur Gelegenheit zum Nachdrucken, sondern natürlich auch zur Neuübersetzung. Überraschend schnell wurde dies mit Joyce’ erstem Roman, »A Portrait of the Artist as a Young Man« realisiert und das, obwohl mit der Übersetzung von Klaus Reichert (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) eine sehr gute Übertragung ins Deutsche bereits vorliegt.

Auf die Frage, ob denn angesichts dieser Übersetzung der Aufwand einer neue Übertragung lohne, antwortete der Übersetzer Friedhelm Rathjen bei der Vorstellung seiner Neuübersetzung im Museum Folkwang: »Es gibt Bücher, von denen kann es gar nicht genug Übersetzungen geben.« Dass es sich beim »Porträt« um ein solches Buch handelt, steht, glaube ich, nicht zur Debatte. Rathjen will seine Übersetzung auch nicht als besser als die Reichertsche verstanden wissen, die er selbst sehr schätzt und mit der er, wie er selbst sagt, »aufgewachsen sei«. Nur sei Reicherts Übersetzung eben schon 40 Jahre alt und zeige für den heutigen Leser dieses Alter auch deutlich. Besonders was die Wiedergabe der Umgangssprache angehe, dränge sich eine Aktualisierung für heutige Leser förmlich auf.

Joyce’ erster Roman hat eine lange Entstehungszeit, die Joyce selbst mit den Daten 1904 bis 1914 am Schluss des Textes dokumentiert. Joyce hat in diesen zehn Jahren allerdings nicht kontinuierlich an dem Text gearbeitet, sondern die Entstehung ruhte in langen Phasen dieses Zeitraums. Zuerst entstand jene Fassung, die Joyce-Leser unter dem Titel »Stephen Hero« (deutsch: »Stephen der Held«, ebenfalls von Klaus Reichert, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) kennen und die Fragment geblieben ist. Joyce hatte diesen Text als eine große Bekenntnis-Schrift angelegt, als eine Rechtfertigung für sein Sein und Handeln, aus der sich die Gründe für seinen Weggang aus Dublin sollten ablesen lassen. Dem Mythos nach, den Joyce selbst in die Welt gesetzt hat, hat er zu irgendeinem Zeitpunkt versucht, dieses Manuskript zu verbrennen, was aber angesichts seines unbeschadeten Zustands eher unwahrscheinlich erscheint. Joyce bemerkte aber, dass »Stephen Hero« nicht recht gelingen wollte. Erst als er auf den Bekenntnis-und Rechtfertigungs-Charakter des Textes verzichtete und den Erzähler einen deutlichen Abstand zum Protagonisten Stephen Dedalus einnehmen ließ, gelang die Bearbeitung des Stoffs.

»Ein Porträt des Künstlers als junger Mann« erzählt in personaler Perspektive von Aufwachsen des jungen Intellektuellen Stephen Dedalus im Irland der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die Erzählung ist in fünf große Abschnitte gegliedert, die grob Altersstufen des Heranwachsenden entsprechen. Die Sprache und der Stoff der Erzählung sind dem jeweiligen Alter des Protagonisten angepasst und entwickeln sich von Kapitel zu Kapitel, von Abschnitt zu Abschnitt. Stephen ist ein begabtes Kind, das trotz dem ökonomischen Niedergang seiner Familie eine hervorragende Ausbildung an jesuitischen Schulen und der katholischen Universität Dublins erhält. Als Pubertierender durchläuft er eine Phase großer Verunsicherung und früher sexueller Erfahrung, die von einer Periode übergroßer Frömmigkeit und religiöser Disziplin abgelöst wird. Aufgrund dieser Hinwendung zur Religion wird Stephen aufgefordert, die Ausbildung zum jesuitischen Geistlichen aufzunehmen, doch scheint gerade dieses Angebot den ersten Anstoß zu Stephens letztlicher Abwendung von aller Religion zu liefern. Stephen wird zum Künstler (Joyce und Stephen sind sich des Zusammenhangs des Wortes Artist mit den Septem artes liberales dabei noch sehr bewusst) und beschäftigt sich als Student dementsprechend mit den ästhetischen Theorien des Aristoteles und Thomas von Aquin. Als Künstler wendet er sich nicht nur von der Religion, sondern auch von dem ihm von seinen Kommilitonen zugemuteten irisch-nationalistischen Engagement ab. Ihm wird bewusst, dass er Irland verlassen muss, um seinen eigenen Weg zu Kunst und Dichtung gehen zu können. Unmittelbar bevor Stephen Irland verlassen wird, bricht der Text der Erzählung ab.

Die Erzählung ist besonders im letzten Teil sehr anspruchsvoll: Es wird wohl nicht viele Leser geben, die den intellektuellen Eskapaden Stephens, seinen freien Variationen über Thesen des Aristoteles und des Aquinaten werden folgen, geschweige denn diese mit Vergnügen werden lesen können. Es scheint mir wenig zweifelhaft, dass das »Porträt« heute vergessen wäre, wenn ihm nicht das Jahrhundertbuch »Ulysses« gefolgt wäre, zu dem es so etwas wie eine Vorschule und -geschichte darstellt. Nicht, dass das Buch missraten wäre – das ist es in keinem Sinne –, es wäre für sich aber wohl kaum auf ein breites Interesse oder Verständnis gestoßen.

Die Neuübersetzung Rathjens muss an keiner Stelle den Vergleich mit der Reicherts scheuen. Sie bietet eine sprachlich präzise, gute Alternative an, die all jenen, denen das Original sprachlich unzugänglich bleibt, zur Lektüre empfohlen werden kann. Der kommentierende Anhang beschränkt sich auf das Notwendigste; die in den Text der Erzählung eingefügten Endnotenziffern, die auf den Kommentar verweisen, sind eine etwas vorlaute Lösung, die beim Versuch einer unbefangenen Erstlektüre eher stören werden. Mit dem als Nachwort angeklebten Essay von Marcel Beyer konnte wenigstens ich nichts anfangen.

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Aus dem irischen Englisch übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2012. Leinen, Lesebändchen, 348 Seiten. 24,95 €.

Aus gegebenem Anlass (V): Arno Schmidt und der Venus-Transit

›Das Unglück sei von diesem Haus so fern, wie der Morgenstern vom Abendstern‹, sollte der Zimmermann, beim ›Richtspruch‹, unserm Heim angewünscht haben; (»: ’fluchter Idijot!« hatte mein Großonkel, jedesmal wenn er’s erzählte, hinzugefügt).

Im Jahr 1956 schreibt Arno Schmidt den Essay »Das schönere Europa«, in dem in grober Übersicht die Anstrengungen der europäischen Nationen anläßlich des Venus-Transits vom 3. Juni 1769 geschildert werden.

Venus-Transite sind rare Ereignisse, wenn man an einen irdischen Standpunkt gebunden ist: Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden inneren Planeten – also jene, die innerhalb der Erdbahn unsere Sonne umkreisen – aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit die Erde regelmäßig innen überholen. Sie sind dabei allerdings nur äußerst selten zu beobachten, was daran liegt, dass die Planetenbahnen nicht alle genau in einer Ebene liegen, sondern leicht gegeneinander geneigt erscheinen. Und so stehen die Planeten Merkur und Venus nur sehr selten bei ihrem Vorbeigang zwischen Erde und Sonne so, dass sie von der Erde aus gesehen als dunkle Scheiben vor der Sonne erscheinen. Einen solchen sichtbaren Vorbeigang vor der Sonnenscheibe nennt der Astronom einen Transit. Dabei ist der der Venus der interessantere, da er länger dauert – Venus ist langsamer als Merkur – und die Venus deutlich größer als Merkur und zudem näher an der Erde ist, so dass ihre Beobachtung leichter fällt und die Ergebnisse präziser werden. Leider geschehen Venus-Transite nur etwa alle 105 bzw. 122 Jahre, dann aber gleich zwei Transite innerhalb von nur acht Jahren. Der vorletzte Venus-Transit war 1882 zu beobachten, der letzte im  Jahr 2004 und der nächste wird morgen eintreten.

Die Frage, die sich im 18. Jahrhundert mit Hilfe der Venus-Transite lösen ließ, war die nach den Abständen im Sonnensystem. Das dritte Keplersche Gesetz, das eine Abhängigkeit zwischen den Quadraten der Umlaufzeiten der Planeten und den Kuben ihrer mittleren Entfernung zur Sonne behauptete, war empirisch nicht zu überprüfen, solange man die Entfernungen der Planeten zur Sonne nicht genau kannte.

Nun hatte – wie auch Schmidt richtig schreibt – der englische Astronom Edmond Halley den dringenden Vorschlag gemacht, die für 1761 und 1769 vorhergesagten Venus-Transite dazu zu nutzen, die Entfernung der Erde zur Sonne zu bestimmen, von der ausgehend sich alle anderen Distanzen im Sonnensystem dann bestimmen lassen würden.

Bereits beim Transit von 1761 hatten die großen europäischen Nationen, vornehmlich England und Frankreich, die in der Astronomie des 18. Jahrhunderts führenden Nationen, nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, das Ereignis zu beobachten. Es hatte bereits so etwas wie einen partiellen Waffenstillstand zum Schutz der wissenschaftlichen Expeditionen – die Großteils über See reisen mussten – gegeben. Die damals gewonnen Daten blieben aber weitgehend unzureichend und sollten nun vervollständigt werden. Schmidt betont z. B. zu Recht, dass es die erste Aufgabe der Expedition der Endeavour unter James Cook war, Astronomen der Royal Society nach Tahiti zu bringen, wo sie den Venus-Durchgang glücklich beobachten konnten.

Interessant an Schmidts Darstellung in »Das schönere Europa« ist hauptsächlich der politische Aufhänger, den Schmidt sich für dieses wesentlich astronomische Thema wählt: Die wissenschaftliche Leistung, die Schmidt in anekdotischer und detailverliebter Weise vermittelt, wird gerahmt durch die Feststellung, die führenden Nationen – mit Ausnahme Spaniens – hätten in diesem einen Fall einmal vorbildhaft zusammengearbeitet und einander unterstützt:

A.: Sechs Jahre vorher noch hatten sie nicht Fernrohre sondern Kanonen aufeinander gerichtet, diese Russen; Preußen; Engländer; Österreicher; Franzosen; und bald danach begannen sie wieder das alte blutige Spiel, unentwegt, bis heute.
B.: Aber einmal wenigstens war man doch, und auf’s Erhabenste, einig gewesen :
A. (mit Nachdruck): Siebzehnhundertneunundsechzig !
B. (desgleichen): Am dritten Juni ! [II/1, 274]

Einmal abgesehen von dem sprachlogischen Einwand, dass am 3. Juni 1769 besagte Russen, Preußen, Engländer, Österreicher und Franzosen ihre Fernrohre nicht aufeinander, sondern auf die Sonne gerichtet hatten, erscheint diese Rahmung des astronomischen Materials sehr gesucht. 1769 herrschte seit sechs Jahren Frieden zwischen den genannten Nationen – und dieser Friede hatte nichts mit dem Venus-Transit zu tun –, und die Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse fremder, auch feindlicher Nationen war im 18. Jahrhundert nichts so Besonderes. Viel eher erwähnenswert war etwa, dass die Expeditionen von 1761 – mitten im Siebenjährigen Krieg – unter gegenseitiger Tolerierung der Engländer und Franzosen durchgeführt wurden. Auch schon 1761 war die Publikation und der Austausch der – leider ungenügenden – Daten eine Selbstverständlichkeit. Und so viel kooperativer war die Zusammenarbeit der Forscher 1769 dann auch wieder nicht, wie auch Schmidts deutlich vermittelt:

B.: Jedenfalls entstand eine ganze Literatur um den großen Venusdurchgang von 1769. – Die Engländer fassten ihre Beobachtungen zusammen in vielen Nummern der ‹Philosophical Transactions›. Die Franzosen in den ‹Mémoires de l’Académie Française›; und in dem wichtigen Werk Lalande’s ‹Mémoire sur le Passage de Venus›. Die Schweden gaben ein eigenes Heft heraus. Ebenso die Amerikaner in ihren jungen ‹Memoirs of the American Academy›, und den ‹American Transactions›. Die kalifornischen Beobachtungen wurden zusammengefaßt von Cassini. Die zahlreichen russischen erschienen in einem eigenen Foliobande: ‹Collectio omnium observationum quae occasione transitus Veneris jussu Augustae per imperium Russicum institutae fuerunt. Petropoli 1770.›
A.: Die endgültigen Berechnungen ergaben für die gesuchte Entfernung Sonne=Erde Werte zwischen 145 und 155 Millionen Kilometer; jenachdem die Rechner das Hauptgewicht auf diese oder jene Beobachtung legten – eine knifflige und äußerst schwer zu entscheidende Frage. Während wir heute wissen, daß die Sonnenparallaxe 8,79 Sekunden beträgt, erhielt damals der schwedische Rechner Planmann – der, begreiflicherweise, den Akzent auf seine, und die übrigen nordischen Beobachtungen legte – 8,43 Sekunden. Der Engländer Lexell 8,60; wobei er hauptsächlich die Messungen von Tahiti zugrunde legte, die also das Ergebnis entscheidend verschlechterten. Euler in Petersburg erhielt 8,68; Hell 8,70. [II/1, 273 f.]

Es kann also mit einiger Berechtigung bezweifelt werden, ob die von Schmidt mit soviel Pathos in den Vordergrund gerückte politische Einigkeit Europas sich nun gerade an diesem Fall so einmalig und einzigartig eingestellt hat. Schmidt hat diesen Aufhänger wahrscheinlich aus einer verkaufstaktischen Erwägung heraus gewählt: Da er 1956 für das behandelte historische Ereignis nicht die Rechtfertigung eines runden Jubiläums hatte, versuchte er, es in den Rahmen der für die 50er Jahre zentralen politischen Diskussion um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einzustellen.

Leicht aktualisierter Auszug aus dem Vortrag:
Julianische Tage in Lilienthal
Astronomisches bei Arno Schmidt

Albert Meier: Goethe

Meier_GoetheAuf knapp 320 Seiten einen Überblick über das Werk Johann Wolfgang von Goethes zu geben, ist alles andere als eine einfache Aufgabe. So sollte jeder Versuch mit einer gewissen Milde betrachtet werden und eher darauf hin betrachtet werden, was gelungen ist, als was fehlt. Meier liefert eine grob chronologisch geordnete, thematisch gebündelte Einführung in Goethes Schreiben und Denken. Er konzentriert sich auf die wichtigsten, meist rezipierten Werke, fügt aber auch ein Kapitel über Goethes naturwissenschaftliche Versuche ein, bevor er sich am Ende ein wenig in der Begeisterung für den zweiten Teil des »Faust« verliert. Es wird nur ein rudimentäres biographisches Gerüst geliefert; biographische Details erfährt man nur dort, wo sie zum Verständnis eines einzelnen Werks notwendig erscheinen.

Abgesehen von der Frage, ob man Meiers Deutungen und Gewichtungen zustimmt, macht das Buch einen soliden Eindruck und informiert seinen Leser über alle wichtigen Aspekte des Werks. Die historische Einordnung des Werks hätte ich mir detaillierter und kritischer gewünscht, es ist ihr aber prinzipiell nicht widersprechen. Eine durchaus anspruchsvolle Einführung, die aber nicht für sich allein stehen kann und weitere Lektüre notwendig macht.

Albert Meier: Goethe. Dichtung, Kunst, Natur. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 346 Seiten. 24,95 €.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern

Vanderbeke_DaslaesstBirgit Vanderbeke ist bei der Gesellschafts-Utopie angekommen. Bereits »Sweet Sixteen« ließ so etwas befürchten, aber nun ist es geschehen. Erzählt wird die Geschichte der Erzählerin, die aus einem betuchten bürgerlichen Haus stammt, und des Handwerkers Adam Czupek, die gegen den Widerstand der bürgerlichen Eltern ein Paar werden und mit zwei Kindern aufs Land ziehen, wo sie zusammen mit einem benachbarten Bauern und einer befreundeten türkischen Familie beginnen, sich ein autarkes Leben aufzubauen. Das Haus, indem sie wohnen, ist geerbt, das Geld von dem sie leben und das Haus renovieren, verdienen sie an Krankenkassenpatienten, der Filz für die autarke Jurte kommt per LKW aus der Türkei und wird mittels einer Telefon-Transaktion bezahlt, aber sonst ist man echt total unabhängig von der Gesellschaft, bis vielleicht auf die Wochenendgäste des Bauern, die man braucht, damit der seinen Hof nicht verkaufen muss. Aber sonst: total autark! Und die Philosophie zum Lebensentwurf liefern die Texte von »Ton Steine Scherben« und »Die Ärzte«. Zum Glück bekommt gerade keines der Kinder einen Hirntumor, denn bis man einen Positronen-Emissions-Tomografen auf dem Sperrmüll findet, das kann dauern.

Stilistisch ist das Buch entgegen den früher sehr disziplinierten und kargen Texten Vanderbekes (»Ich sehe was, was Du nicht siehst« ist wohl immer noch das Muster) ungewöhnlich geschwätzig, ja einzelne Phrasen wiederholen sich ohne jede Notwendigkeit. Den absoluten Tiefpunkt erreicht Vanderbekes Sprache auf Seite 98 beim Wort »Spannkraft«, ein Wort aus der Doppelherz-Reklame, nicht aus dem Ingenieurs-Handbuch.

Ein dummes, überflüssiges Buch aus der Kategorie gut gemeint. 

… solch einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben; das können die Andern auch.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. München: Piper, 2011. Pappband, Lesebändchen, 147 Seiten. 16,95 €.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Wallace_WasserWas tut man, wenn man einen Autor hat, der ein zwar berühmtes, aber nur schwer lesbares Buch geschrieben hat, das zudem so dick ist, dass man es nur in einer ziemlich teuren Ausgabe verkaufen kann? Man sucht einen kürzeren, eingängigeren Text von ihm und hofft, dass seine Leser anschließend auch den Ziegelstein kaufen, selbst wenn sie ihn dann ungelesen ins Regal stellen.

Und was tut man, wenn der konsumierbarere Text zu kurz ist für ein eigenständiges Buch? Man setzt ihn in einer größeren Schrift. Und wenn er dann immer noch zu kurz ist? Dann macht man eine zweisprachige Ausgabe draus, damit der Buchhandel etwas hat, das im Regal nicht vollständig verloren geht.

So geschehen mit David Foster Wallace’ einziger Abschlussrede für einen College-Jahrgang, die er im Jahr 2005 gehalten hat. Wallace plädiert darin für eine andere Art der Aufmerksamkeit, die die unvermeidliche Routine im Leben eines Erwachsenen wenigstens erträglich machen soll. Der wichtigste Satz der ganzen Rede lautet:

The capital-T Truth is about life before death. It is about making it to thirty, or maybe even fifty, without wanting to shoot yourself in the head.

David Foster Wallace hat sich 2008 im Alter von 46 Jahren erhängt.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This is Water. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. KiWi 1272. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. Broschur, 62 Seiten. 4,99 €.

Nikolaj Gogol: Der Revisor

[…] eine der größten Komödien: Gogols ›Revisor‹.

Friedrich Dürrenmatt

Cover

»Der Revisor« wird in der Kritik nahezu durchgehend als eine herausragende Komödie bewertet: Ob Kollegen (s. o.), ob Kritiker (etwa der unvermeidliche Marcel Reich-Ranicki), alle machen ihren Diener vor diesem Theaterstück. Das könnte den Zuschauer einer der immer noch zahlreichen Inszenierungen wundern, denn auf den ersten Blick enthält die Komödie wenig wirklich überraschendes und unterscheidet sich nur unwesentlich von der allgemeinen Durchschnittsware:

Die Handlung der Revisors ist ebensowenig der Rede wert wie die der übrigen Bücher Gogols. […] Darüber hinaus ist im Falle des Stücks die Anlage Gemeinbesitz aller Dramatiker: ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen. [Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol, S. 55]

Diese Handlung ist rasch erzählt: In einer russischen Provinzstadt ist die korrupte Exekutive beunruhigt über die mögliche Ankunft eines inkognito reisenden Revisors, dessen Ankunft dem Stadthauptmann durch einen vertraulichen Brief angezeigt wurde. Wie der Zufall es will, wird der sich auf der Durchreise befindliche kleine Beamte Iwan Alexandowitsch Chlestakow, der beim Kartenspiel all sein Geld verloren hat, irrtümlich für den angekündigten Revisor gehalten und daher von den Honoratioren der Stadt entsprechend hofiert. Er nimmt gern alle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder an, verführt die Tochter des Stadthauptmanns und verschwindet gerade noch rechtzeitig, bevor als Paukenschlag am Ende des Stücks die Ankunft des tatsächlichen Revisors angekündigt wird.

Innerhalb dieses Rahmens gibt es das übliche Abhaspeln komischer Situationen: vom anfänglichen Aneinandervorbeireden über die zu erwartenden doppelbödigen Dialoge und Situationen bis zur abschließenden Auflösung des Irrtums. Seine außergewöhnliche Wirkung scheint das Stück aber auf drei Ebenen entfaltet zu haben: auf einer satirischen, einer parodistischen und einer dramaturgischen.

Von der ersten Aufführung an ist das Stück als eine Satire auf die Verhältnisse der russischen Provinz verstanden worden, auch wenn sich sein Autor immer wieder gegen diese Deutung ausgesprochen hat. Angesichts der durchgehend negativen Zeichnung der Honoratioren der Provinzstadt als dumme und korrupte Egoisten ist es kein kleines Wunder, dass das Stück überhaupt aufgeführt werden konnte und nicht der Zensur zum Opfer fiel. Da aber der Zar selbst sein Wohlgefallen an dem Stück bekundete, blieben es und sein Autor unbehelligt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts die menschliche Ebene des Stücks als stärker empfunden wurde als die politische.

Dieser Aspekt hat unmittelbar mit den parodistischen Tendenzen des Stücks zu tun: Gogols ursprüngliches Publikum war vertraut mit der bürgerlich Komödie des frühen 19. Jahrhunderts, für die nicht nur in Deutschland August von Kotzebue einer der herausragenden Vertreter war. »Der Revisor« erinnert sicher nicht zufällig an Kotzebues »Die deutschen Kleinbürger«, denen ein ähnlicher Verwechslungs-Plot zugrunde liegt. In Ermanglung einer Kenntnis dieser Vorlage bzw. Vorlagen geht der parodistische Gehalt des Stücks für die meisten heutigen Zuschauer natürlich verloren.

Bleibt der dramaturgische Gehalt des Stückes, der wohl dafür verantwortlich ist, dass das Stück heute noch von Theaterleuten und Schriftstellern geschätzt wird. Es ist schwer zu beurteilen, ob Gogols Wahl der Struktur des »Revisors« einer Inspiration oder schlicht mangelhafter Kenntnis der Tradition entsprungen ist, aber diese Unterscheidung ist unerheblich für die Position des Stückes in der historischen Entwicklung der Dramaturgie. Traditionell gehorcht die überwiegende Menge aller Dramen einem sehr abstrakten Grundmuster: Betrachtet man das Personal eines Stücks als Repräsentation einer Gesellschaft, so findet sich diese Bühnengesellschaft zu Anfang des Stückes in einem gestörten, disharmonischen Zustand: Zwei Familien, die miteinander seit langem verfeindet sind, eine Bevölkerung, die von einer nicht weichen wollenden Seuche bedroht ist, ein Königshaus, das durch den unerwarteten Tod des Königs und die rasche Wiederheirat der Königinwitwe seine Balance verloren hat etc. Die Handlung des Theaterstücks dient nun dazu, diese Störung wegzuspielen und am Ende einen neuen stabilen, im besten Fall harmonischen Zustand herzustellen.

Im Gegensatz dazu hinterlässt »Der Revisor« die Bühnengesellschaft in genau dem Zustand, in dem er sie zuerst vorgeführt hat: Die korrupten Honoratioren sehen sich unverändert der Bedrohung durch die Prüfung des allmächtigen Revisors ausgesetzt und sind keinen einzigen Schritt weiter und um einige hundert Rubel ärmer als zuvor. »Der Revisor« verweigert sich der Illusion des Fortschritts und der Auflösung der dramatischen Spannung. Gerade aus dieser Verweigerung gewinnt der Schluss der Komödie, auf den Gogol so stolz war, seine Kraft. Diese Struktur ist wegweisend für die Entwicklung des Dramas der Moderne.

Aus dramaturgischer Sicht ist daher Nabokovs oben zitierter Einschätzung zu widersprechen: »ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen«, hätte bedeutet, den echten Revisor bereits in der Mitte des Stückes auftreten zu lassen und die sich daraus entwickelnden Verwerfungen, Verwicklungen und Vertauschungen durchzuspielen, um am Ende alles in einem Happy End aufzulösen, in dem der Betrüger sich als lange verlorener Sohn des Revisors erweist und die verführte Tochter des Stadthauptmanns heiratet, den Dorfrichter auf seiner Position ablöst und die ganze Familie glücklich und korrupt in die Zukunft blickt. Dass Gogol sich dem verweigert, bringt das Stück um viel Klamauk und schenkelklopfendes Gelächter, hat es aber zugleich leuchtend über die oben bereits angeführte Durchschnittsware der Zeit herausgehoben.

Nikolaj Gogol: Der Revisor. Aus dem Russischen von Bodo Zelinsky. RUB 837. Broschur, 188 Seiten. 5,– €.