Yann Martel: Beatrice and Virgil

Ein – um es höflich zu sagen – recht seltsames Buch. Yann Martel hatte 2001 den von ihm lange erwarteten Durchbruch mit „Life of Pi“, in dem er zu Anfang beklagt, mit seinem vorangegangenen Buch nicht den erhofften Erfolg gehabt zu haben und deshalb nun einen Bestseller schreiben zu wollen, was ihm dann auch offensichtlich gelungen ist. Vorangegangen war eine Sammlung von Erzählungen, “The Facts Behind the Helsinki Roccamatios” (1993), in der besonders die Titelerzählung herausragt, in der der Erzähler und sein aidskranker Freund gemeinsam die Geschichte einer italienischen Einwandererfamilie in Helsinki erfinden, sowie der Roman “Self” (1996), der in der Hauptsache dadurch auffiel, dass der Protagonist mitten im Roman das Geschlecht wechselt. Beide Bücher waren das, was man Kritikererfolge nennt; beide wurde auch ins Deutsche übersetzt (1994 und 1996).

Wer nach der Veröffentlichung von „Life of Pi“ die Meldungen um Yann Martel etwas verfolgte, gewann den Eindruck, dass das nächste Buch des Autors wieder eher ungewöhnlich sein würde (vgl. z. B.: hier oder hier). Es sollte sich um eine Kombination von Erzählung und Essay handeln, die im Herbst 2008 als Dos-à-dos erscheinen sollten. Stattdessen erschien nun 2010 „Beatrice and Virgil“, auf dessen ersten Seiten ein Buchprojekt des Protagonisten Henry, das aus einer Rücken an Rücken publizierten Kombination aus Erzählung und Essay bestehen sollte, von einer Tafelrunde von Verlegern ergänzt um einen Buchhändler und einen Historiker beerdigt wird. Henry ist dadurch so frustriert, dass er die Schriftstellerei aufgibt und sich anderen kreativen Feldern zuwendet.

Doch von Zeit zu Zeit erhält Henry noch Leserbriefe als Reaktionen auf seinen vorangegangenen Bestseller. Darunter findet sich eines Tages auch ein Brief, der Fotokopien von Flauberts Erzählung „Die Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen“ mit zahlreichen Anstreichungen enthält sowie eine Szene aus einem Theaterstück, in der sich zwei Figuren – Beatrice und Virgil – über die Vorzüge der Birne unterhalten. In der Erzählung Flauberts, die nun in einiger Ausführlichkeit zitiert wird, sind alle die Stellen markiert, an denen der Protagonist Julian Tiere tötet; Henry versteht dies als Anspielung auf sein eigenes, erfolgreiches Buch, in dem ebenfalls Tiere wichtige Rollen spielen. Die Szene aus dem Theaterstück macht Henry schließlich so neugierig, dass er dem Absender antwortet und ihn dann auch persönlich aufsucht. Es handelt sich um einen Tierpräparator, der in seiner Stadt lebt, und offenbar seit Jahren an jenem Theaterstück schreibt, dessen Figuren sich als ein Esel und ein Affe erweisen, die sich auf dem Hemd des Insassen eines Konzentrationslagers über Gott und die Welt unterhalten.

Es folgt nun eine langwierige Auseinandersetzung mit diesem Stück, wiederum anhand ausgiebiger Zitate, das sich immer deutlicher darauf zuspitzt, dass es ein Stück über die Unsagbarkeit der Erfahrungen des Holocaust ist. Je länger das Stück ausgebreitet wird und je länger der Roman Martels wird, desto deutlicher wird dem Leser, dass der Autor weder einen blassen Schimmer hat, worauf das Ganze hinauslaufen soll, noch wie er sich die nun einmal so eingefädelte Geschichte wieder vom Hals schaffen kann. Martel führt deshalb eine völlig überraschende, weder erzählerisch vorbereitete noch einsichtige Wendung herbei, indem er Henry plötzlich erkennen lässt, dass es sich bei dem Tierpräparator um einen Nazi-Kollaborateur handelt, der daraufhin versucht, Henry zu erstechen und sich anschließend mit seinem gesamten Laden und dem Stück verbrennt. Durch das Aufschreiben dieser ganzen Geschichte, wobei er allerdings das Stück aus dem Gedächtnis rekonstruieren muss, wird Henry wieder zum Schriftsteller.

Das Buch ist ein durch und durch missratenes literarisches Experiment, das weder seinem Thema noch Martels literarischer Begabung in irgendeiner Weise gerecht wird. Die Sache wird in der deutschen Ausgabe noch dadurch verschlimmert, dass der Verlag das Buch „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ nennt, was nicht nur den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um das im Buch beerdigte Buchprojekt, sondern was auch dem ausdrücklichen Entschluss des Erzählers auf den letzten Seiten des Buches widerspricht. Aber ein Unglück kommt eben selten allein.

Yann Martel: Beatrice and Virgil. Edinburgh u. a.: Canongate, 2010. Broschur, 213 Seiten. Ca. 9,– €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex

Im Jahr 1972 entstand Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Der Mitmacher, das 1973 in Zürich und noch im selben Jahr auch in Mannheim in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor ohne Erfolg inszeniert wurde. Dieser Misserfolg veranlasste Dürrenmatt zu einer umfassenden Reflexion des Stückes in einem umfangreichen Nachwort; dieser ungewöhnliche Vorgang wiederum löste einen weiteren Durchgang der Reflexion in einem Nachwort zum Nachwort aus.

Beim Protagonisten von Der Mitmacher handelt es sich um einen promovierten Biologen, Doc genannt, der während einer Wirtschaftskrise entlassen wurde und sich daher als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt verdiente. Er kommt dabei zufällig in Kontakt mit Boss, einem mächtigen Gangster, dem er sich nützlich macht, indem er ein Verfahren erfindet, Leichen zu verflüssigen und in der Kanalisation verschwinden zu lassen. Doc lebt in einem Untergeschoss eines alten Lagerhauses, wo er auch seiner Arbeit nachgeht und das er nur selten verlässt. Er hat aber dennoch ein Verhältnis mit Ann, der Geliebten von Boss, wobei weder Doc noch Ann ahnen, dass der jeweils andere ebenfalls für Boss arbeitet. Dürrenmatt versucht etwas ähnliches wie eine dramatische Handlung zu entwickeln, in dem er Cop auftreten lässt, einen scheinbar korrupten Polizeichef, der sich in das Geschäft um die verschwindenden Leichen hineindrängt. Außerdem tritt auch noch Bill, der Sohn Docs, auf, der die Chemiewerke geerbt hat, die Doc einst entlassen haben, und der seinen Reichtum dazu nutzen will, jährlich den Staatspräsidenten umbringen zu lassen. Das ganze Stück zeichnet sich durch denkbar knapp gehaltene Dialoge aus, in denen die Figuren versuchen, einander ihre wirklichen Motive zu verheimlichen; all das klingt wie eine schlechte Parodie auf billige amerikanische Gangster-Filme. Durchbrochen werden diese Dialoge durch Monologe der Hauptfiguren, in denen sie dem Publikum ihre wahren Motive oder ihre wirkliche Geschichte offenbaren.

Wahrscheinlich ist schon aus dieser Beschreibung heraus gut zu erkennen, warum das Stück durchgefallen ist. Im Nachwort finden sich Dürrenmatts Gedanken über die Gestaltung der einzelnen Figuren, ihrer Monologe und ihrer Beziehungen zueinander sowie über die dramaturgischen Probleme der Zürcher und Mannheimer Inszenierungen. Dürrenmatt spricht davon, dass er damit versuche, zu seinem Stück die Partitur nachzuliefern. Die Reflexionen des Nachworts sind durchweg einleuchtender und interessanter als die Szenen und Dialoge des Stückes, die sie erläutern. Das Stück leidet nicht unter einem Mangel an Intention und Konzeption, sondern im Gegenteil an einem Übermaß an beidem, das weder dem Zuschauer noch dem Leser ausreichend kommuniziert wird.

Das Nachwort zum Nachwort wiederum liefert im Wesentlichen allgemeine dramaturgische Gedanken insbesondere zu den Bühnenkonzepten Schicksal und Zufall sowie zwei Erzählungen: Eine, die die stoffliche Grundlage des Mitmachers liefert – sie ist wahrscheinlich ein wichtiger Wendepunkt für die Entwicklung der Dürrenmattschen Stoffe –, und das Punkstück des ganzen Mitmacher-Komplexes: Das Sterben der Pythia. Hier finden sich wesentliche Teile von Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie, dem Drama Shakespeares und Brechts und seiner eigenen Dramaturgie des Zufalls.

Insgesamt handelt es sich bei Der Mitmacher wohl um einen der ungewöhnlichsten Texte der Nachkriegsliteratur. Man wird wohl keine vergleichbare Auseinandersetzung eines Autors mit einem seiner Misserfolge finden. Außerdem ist einmal mehr festzustellen, dass der die Zeiten überdauernde Teil von Dürrenmatts Werk der essayistische zu sein scheint. In seinen theoretischen Schriften, nicht in seinem Stücken beweist der Autor seine Qualitäten: Originalität des Gedankens, Reflexion der modernen Welt und ihrer Verstrickungen von Naturwissenschaften und Politik und Kritik von Macht und denen, die sie inne haben.

Der Mitmacher-Komplex stellt einen ungewöhnlichen Zugang zum Denken Dürrenmatts zur Verfügung, der sowohl eine Einführung in seine Dramaturgie als auch in  die Stoffe bietet. Eine Empfehlung für alle, die sich ernsthaft mit Dürrenmatt auseinandersetzen wollen.

Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex. detebe 23054. Zürich: Diogenes, 1998. 352 Seiten. 9,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (38)

Von der Aussage: Gibt der Schriftsteller die Berechtigung zu, sich nach dem Grund seines Schreibens fragen zu lassen, muß er auch die Frage nach dem Sinn dessen, was er unternimmt, gestatten, die Frage nach seiner Aussage, mit der heute jeder Kritiker kommt. Eine andere Sache ist es freilich, ob er diese Frage für beantwortbar halte. Er kann sich nämlich für unzuständig erklären und einwenden, daß, falls er diesen Sinn wüßte, er nur den Sinn hinschreiben würde, nur die Aussage, und sich den immerhin doch mühsam genug zu erarbeitenden Rest ersparen könnte.

Friedrich Dürrenmatt
Literatur nicht aus Literatur

Paul Auster: Unsichtbar

978-3-498-00081-3Auster ist schlicht ein großer Routinier der literarischen Fiktion. Unsichtbar enthält im Wesentlichen zwei erzählerische Ebenen, von denen die eine eine Variation der klassischen Herausgeberfiktion darstellt. Im Zentrum des Romans steht der 20-jährige Adam Walker, der 1967 in New York Literatur studiert und Schriftsteller werden will. Er lernt auf einer Party Rudolf Born, einen Schweizer Gastprofessor seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Als er Born kurze Zeit später zufällig wieder trifft, macht dieser ihm ein außergewöhnliches Angebot: Born habe geerbt und wolle Geld in ein Projekt investieren, etwa eine literarische Zeitschrift. Ob Walker sich vorstellen könne, eine solche Zeitschrift zu leiten? Obwohl Walker misstrauisch ist, ob es sich nicht um einen Scherz handelt, entwickelt er ein Konzept für eine solche Zeitung, das von Born akzeptiert wird: Born will die Zeitschrift im ersten Jahr mit 25.000 $ finanzieren. Als Born kurz darauf für kurze Zeit nach Paris reist, beginnt seine Freundin eine Affäre mit Walker, die mit Borns Rückkehr endet. Born trennt sich allerdings daraufhin von Margot, auch weil er vorhat in Frankreich zu heiraten. An dem Plan mit der Zeitschrift ändert sich aber nichts: Als Walker Born das nächste Mal trifft, stellt der ihm einen Scheck über das erste Viertel der geplanten Summe aus. Als die beiden dann ausgehen, um etwas zu essen, werden sie von einem Schwarzen überfallen, den Born kurz entschlossen mit einem Messer niedersticht. Walker sucht das nächste Telefon, um eine Ambulanz zu rufen, doch als er zum Tatort zurückkehrt, sind Born und das Opfer verschwunden. Am nächsten Tag erfährt Walker aus der Zeitung, dass die Leiche eines Schwarzen entdeckt wurde, der mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Am selben Tag findet er in seinem Briefkasten eine Drohung Borns, ihn zu töten, falls er zur Polizei gehe. Als Walker sich nach mehreren Tagen doch dazu entschließt, die Polizei zu verständigen, ist Born inzwischen nach Frankreich geflohen.

Soweit der erste von vier Teilen des Buchs. Im zweiten Teil erfährt der Leser, dass es sich beim ersten um einen Entwurf Walkers zum einem autobiografischen Roman handelt. Walker hat diesen Entwurf an einen ehemaligen Kommilitonen und erfolgreichen Autor, James Freeman, geschickt mit der Bitte, ihm schriftstellerisch etwas auf die Sprünge zu helfen, da er mit dem zweiten Teil nicht recht vorwärts komme. Freeman erfährt, dass der inzwischen 60-jährige Walker an Leukämie erkrankt ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er gibt Walker einige allgemeine Tipps und hält bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der von den folgenden Monaten des Jahres 1967 erzählt: Walker arbeitet als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek und hat außerdem eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, mit der er zusammenlebt. Dieses Verhältnis endet, als Walker ein Auslandsstudienjahr in Paris antritt.

Als Freeman nach der Lektüre des zweiten Kapitels Walker wie verabredet besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Er hat Freeman aber den Entwurf des abschließenden dritten Kapitels hinterlassen. Wie zu erwarten ist, spielt der letzte Teil von Walkers Roman in Paris und bringt eine Wiederbegegnung sowohl mit Margot als auch mit Born. Die Ereignisse der wenigen Wochen, die Walker in Paris zubringt, nachzuerzählen, kann hier unterbleiben. Wichtig ist nur, dass Walker versucht, Borns geplante Eheschließung zu verhindern und auf diese obskure Weise den New Yorker Mord an dem Schwarzen zu rächen. Als Born Walkers Vorhaben erkennt, lässt er Walker kurzerhand wegen Drogenbesitzes festnehmen und ausweisen.

Im vierten und letzten Teil des Buches beschäftigt sich Freeman mit dessen Herausgabe, nachdem Walkers Schwester ihm dazu den Auftrag erteilt hat. Nachdem Freeman von ihr erfahren hat, dass zumindest die inzestuöse Beziehung frei erfunden ist, nutzt er seinen nächsten Paris-Aufenthalt, um zu recherchieren, wie viel von dritten Teil der Erzählung der Wahrheit entspricht. Und tatsächlich kann er eine der Figuren aus Walkers Roman identifizieren. Von ihr erfahren wir zum Abschluss auch von der weiteren Geschichte Rudolf Borns.

Auster beweist einmal mehr, dass die guten alten Muster der Erzählkunst immer noch wirksam sind: Herausgeberfiktion, Spannung zwischen den Ebenen der Fiktion und der fiktiven Wirklichkeit, Liebe, Sex and Crime, eine moralisch fragwürdige Haupt- und eine zwielichtige Nebenfigur – all das wird zu einem gut erfundenen, routiniert erzählten Unterhaltungsroman verarbeitet. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch leichter Hand Auster das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen seiner Fiktionen aufrecht erhalten kann. Für meinen persönlichen Geschmack war es in diesem Fall am Ende eine fiktionale Ebene zu viel, aber das mögen andere Leser anders empfinden.

Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek: Rowohlt, 2010. Pappband, Lesebändchen, 316 Seiten. 19,95 €.

Philip Roth: Nemesis

978-0-224-08953-1Sogenannter Kurzroman (Short Novel), der aber mit immerhin 280 Seiten so manche heutzutage schlicht mit Roman betitelte Produktion deutlich übertrifft. Erzählt wird die Geschichte Eugene »Bucky« Cantors, eines jungen Sportlehrers, der im Jahr 1944 während der Sommerferien in Newark einen Sportplatz als Playground director betreut. Cantor leidet darunter, dass er nicht wie andere junge Männer seiner Generation im Krieg ist, da er aufgrund seiner extrem schlechten Augen als untauglich eingestuft wurde. Nichtsdestotrotz ist er ein überdurchschnittlicher Athlet, der Turmspringen und Speerwurf als besondere Disziplinen betreibt. Und er betreut den Sportplatz gern, hat ein herzliches Verhältnis zu den meisten Kindern dort und wird auch von ihnen als Vorbild und wichtige Bezugsperson wahrgenommen. Nur dass er während der Ferien von seiner Freundin Marcia Steinberg, die in dieser Zeit in einem Sommercamp in Pennsylvania arbeitet, getrennt ist, lässt ihn ein wenig mit seiner Situation hadern.

Bereits zu Beginn des Sommers bricht in Newark eine Polio-Epidemie aus, die sich bald schon auf den jüdischen Stadtteil Weequahic, in dem auch Cantors Schule und der Sportplatz liegen, zu konzentrieren scheint. Kurz nach Ausbruch der Epidemie sterben gleich zwei Jungen, die Cantor regelmäßig auf dem Sportplatz betreut hatte. Die Mutter eines anderen erkrankten Kindes macht Cantor Vorwürfe, er schone die Kinder nicht genug und sei deshalb mitverantwortlich an den zahlreichen Erkrankungen. Nahezu gleichzeitig ergibt sich für Cantor die Möglichkeit, seiner Freundin nachzureisen, da im Ferienlager ein Schwimmlehrer gebraucht wird. Obwohl Cantor es für seine Pflicht hält, in der Stadt zu bleiben und seine Kinder nicht im Stich zu lassen, gibt er, einem plötzlichen Impuls folgend, den Bitten seiner Freundin nach, kündigt seine Stelle und flieht vor der Epidemie in die scheinbar heile Welt des Ferienlagers. Dort angekommen macht ihm zwar zuerst noch sein Gewissen zu schaffen, das ihm nicht nur seine Flucht aus Newark, sondern auch seine militärische Untauglichkeit vorhält, doch angesichts des harmonischen Lagerlebens und der Nähe seiner Freundin versucht er diese Gedanken zu verdrängen. Sieben Tage nach seiner Ankunft erkrankt einer der Jungen aus seiner Hütte an Polio. Es folgen rasch weitere Fälle und wiederum ein paar Tage später ist auch Bucky Cantor eines der Opfer der Krankheit.

Bis zu dieser Stelle ist der Roman eher ruhig und in einem weitgehend auktorialen Stil geschrieben. Wir erfahren im ersten Teil zwar kurz, dass der Text einen Ich-Erzähler hat, Arnie Mesnikoff, einen der erkrankten Jungen in Newark. Doch erst im dritten Teil des Buches kommt dieser Ich-Erzähler im eigentlichen Sinne zu Wort. Er berichtet davon, Bucky Cantor viele Jahre nach den geschilderten Ereignissen wiedergetroffen zu haben. Beide befreunden sich erneut, und Cantor erzählt Mesnikoff seine Lebensgeschichte. Wir erfahren, dass er sich nach seiner Erkrankung geweigert hat, wieder Kontakt zu Marcia aufzunehmen. Er wollte seiner Geliebten nicht eine Ehe mit einem Behinderten zumuten und sein eigenes Glück aufopfern, um sie nicht unglücklich zu machen. Gespeist wird die Opferrolle, in die sich Cantor begibt, durch seine ihn überwältigenden Schuldgefühle: Er glaubt sich nicht nur verantwortlich für den Ausbruch der Krankheit im Ferienlager, sondern hält es sogar für wahrscheinlich, dass er auch die Kinder in Newark angesteckt habe. Zusammen mit den ihn sowieso peinigenden Selbstvorwürfen wegen seiner Untauglichkeit und seiner Flucht aus Newark ergibt sich eine psychische Lage, aus der er sich selbst nicht mehr befreien kann. Das Buch endet überraschend mit einer Apotheose Cantors, indem der sich erinnert, seinen Schülern auf dem Sportplatz seine Fähigkeiten als Speerwerfer vorgeführt zu haben: Dabei gerät Bucky beinahe zu einem klassisch-griechischen Helden.

Es handelt sich um einen für Roth außergewöhnlich ruhig erzählten, weitgehend ereignislosen Roman, dem ein echter Höhepunkt fehlt. Die eher ungewöhnliche erzählerische Konstruktion war ähnlich bereits in The Human Stain zu finden, in dem der Ich-Erzähler ebenfalls relativ spät im Text auftritt. Für die Einordnung des Textes erscheint es nicht unwichtig, dass der Verlag dem Buch eine Übersicht der Rothschen Werke mitgegeben hat, in der vier seiner letzten Bücher – Everyman, Indignation, The Humbling und eben Nemesis – unter der Überschrift Nemeses: Short Novels zu einer neuen Gruppe zusammengefasst wurden. Nemesis steht hier wohl in erster Linie für das vom Schicksal dem Einzelnen Zugeteilte, wobei noch zu reflektieren wäre, ob bei Roth das Prinzip der gerechten Strafe nicht durch das einer ausgleichenden Ungerechtigkeit ersetzt worden ist.

Philip Roth: Nemesis. London: Jonathan Cape, 2010. Pappband, 283 Seiten. 11,95 €.

Aus meinem Poesiealbum (VI)

Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle. Denn, wenn die Frage an sich ungereimt ist, und unnötige Antworten verlangt, so hat sie, außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten, und den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.

Immanuel Kant
Kritik der reinen Vernunft
B 82 f.

Heike B. Görtemaker: Eva Braun

978-3-406-58514-2Alles in allem ein überflüssiges Buch. Wie bereits der Untertitel »Leben mit Hitler« klar macht, erhebt die Autorin nicht den Anspruch, eine Biografie Eva Brauns zu liefern. Das kann sie auch nicht, da sich das spezifisch biografische Material zu Eva Braun, das die Autorin liefert, bequem auf 25 Seiten zusammenfassen ließe, wobei sich ein nicht unerheblicher Anteil davon auch noch auf dem Niveau von Klatsch- und Tratschgeschichten bewegt. Der Rest ist einmal mehr eine allgemein gehaltene Historie des Dritten Reiches, wobei natürlich ein besonderer Schwerpunkt beim Hitlerschen Hofstaat liegt. Görtemaker bedient sich dazu der gewöhnlichen Quellen, kommt zu den gewöhnlichen Ergebnissen, angereichert um die immer wieder erneuerte Geste pseudokritischen Fragens, das aber zu keinerlei Antworten führt, weil dazu kein ausreichendes Material vorliegt:

War sich Eva Braun der geschichtlichen Bedeutung dieser Tage, die sie auf dem Berghof miterlebte und deren Dramatik sie offenkundig fotografisch einzufangen suchte, bewußt? Zeitgenössische sowie spätere Aussagen dazu gibt es nicht. [S. 231]

Rächte sich Eva Braun jetzt inmitten des Untergangs an ihren früheren Feinden für die Herabwürdigungen im Zusammenhang mit ihrer Mätressenrolle? Diese Frage muß unbeantwortet bleiben … [S. 269]

Ob sich Eva Braun vor diesem Hintergrund «bewußt» mit politischen Äußerungen zurückhielt, wie ihre Schwester Ilse nach Kriegsende vor Gericht erklärte, oder ihr Schweigen lediglich mangelndes Interesse bedeutete, ist aufgrund der Quellenlage schwer zu beantworten. Auch die Frage, ob sie vom Holocaust wußte, bleibt letztlich ungeklärt. [S. 289]

Wer einen ersten Einstieg in das Thema des Hitlerschen Hofstaates sucht, ist mit Görtemakers Buch vielleicht noch ganz gut bedient, wer aber bereits auch nur einigermaßen orientiert ist, für den ist die Lektüre wahrscheinlich nur Zeitverschwendung.

Heike B. Görtemaker: Eva Braun. Leben mit Hitler. München: Beck, 2010. Pappband, 366 Seiten. 24,95 €.

Tom Rachman: Die Unperfekten

978-3-423-24821-1Netter, ein wenig zu lang geratener sogenannter Roman, der in einzelnen Erzählungen um die Mitglieder Redaktion einer namenlos bleibenden Zeitung kreist. Die Redaktion ist in Rom angesiedelt, wurde aber von einem Amerikaner gegründet und erstellt eine englischsprachige Zeitung für den internationalen Markt. Jedes der elf Kapitel dreht sich um jeweils ein Mitglied der Redaktion oder einen Korrespondent; in einem Kapitel steht sogar eine Leserin der Zeitung im Mittelpunkt. Am Ende der einzelnen Kapitel wird in einer kursiv gesetzten Passage die Geschichte der Zeitung aufgerollt von ihrer Gründung in der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007. Die meisten Figuren sind witzig oder obskur, die meisten Erzählungen humorvoll und leicht zu konsumieren. Gegen Ende wird es ein wenig dünner, wahrscheinlich auch, weil hier der Bericht vom Niedergang der Zeitung dem Autor gewisse erzählerische Zwänge auferlegt.

Wirklich zu bemängeln ist eigentlich nur der deutsche Titel: Das Original heißt »The Imperfektionists«, also Die Imperfektionisten, was zugleich mit der grammatikalischen Zeitstufe des Imperfekts und der Spannung zwischen dem Anspruch auf Perfektionismus und der immerwährenden Unvollkommenheit im Geschäft des Journalismus spielt. Davon ist im deutschen Titel »Die Unperfekten« mit dem neckisch kursiv gesetzten Un nun leider gar nichts übrig geblieben. Aber man kann nicht alles haben.

Tom Rachman: Die Unperfekten. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv 24821. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. Broschur, 397 Seiten. 14,90 €.