Robert Menasse: Don Juan de la Mancha

978-3-518-46040-5 Es lassen sich nur schwer zwei gegensätzlichere Liebhaber in der europäischen Literaturtradition ausmachen als Don Juan und Don Quixote de la Mancha. Wo der eine sich in der Flüchtigkeit der Lust verliert und schließlich seinem eigenen Mythos als Liebhaber kaum mehr nacharbeiten kann, minnt der andere um ein einfaches Bauernmädchen als seine Hohe Frau. Es stellt daher schon einen gewaltigen Anspruch her, den Protagonisten eines Romans mit einem Titel zu belasten, wie dieses Buch es tut.

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag. Erinnern Sie sich an den etwas dümmlichen »Wettbewerb« um den schönsten ersten Satz, den schließlich der Prosa-Tölpel Grass gewann? Robert Menasse hat in diesem Buch, wenn auch nicht den schönsten, so doch einen der impressivsten ersten Sätze geliefert:

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke.

Das hat ohne Frage Wucht und vertreibt gleich einmal alle feinsinnigen Leser (in diesem Fall natürlich auch ausdrücklich Leserinnen). Zusätzlich zu der – wahrscheinlich sogar beabsichtigten – Ambiguität, dass es sich bei Christa Chili-Schoten auch um einen Doppelnamen handeln könnte, ist der Satz zugleich obszön und blasiert, was für das Buch einiges hoffen ließ.

Leider hält der Autor das hier versprochene Niveau nicht. Don Juan de la Mancha ist der Roman eines ziemlich durchschnittlichen Kaspers, der mit seiner Ehe unzufrieden und von seinem Job als Lifestyle-Journalist angeödet ist, in seinen paar Affären unbefriedigt bleibt – ich habe das ganze Buch hindurch vermutet, weil er zu fantasielos ist, um seinen Fetisch zu finden; aber selbst darauf kommt der Autor nicht –, seiner Analytikerin Lügen auftischt, in eine tiefe Depression verfällt, als er seinen ungeliebten Job verliert und schließlich … Ja, was eigentlich schließlich? In die ihm angemessene langweilige Normalität zurückkehrt und aus der Literatur verschwindet.

Wahrscheinlich habe ich das Buch nicht verstanden. Wahrscheinlich verstehe ich den Humor des Autors nicht. Hier und da habe ich schon mal müde gegrinst:

Aber [Philip] Roth ist doch ein großer Realist: Ich las bei ihm den Satz »Da läutete das Telefon« – und es läutete das Telefon.

Zwischendurch setzt es mal ein Kleinkapitel, das den Eindruck macht, als habe auch der Autor sein Gekasper über:

Meine Frau ist mit dem Flugzeug abgestürzt.
Was erzählen Sie da, sagte Hannah, bitte Nathan, was erzählen Sie da?
Ja, erzählen, sagte ich. Ich wusste nicht mehr, wohin mit ihr.

Aber auch solche vereinzelten Perlen retten den Roman nicht. Er wird weder dem grandiosen Anspruch des Titels gerecht, noch hat er es auf andere Weise vermocht, mein Interesse zu fesseln. Zwischendurch kam in mir immer wieder einmal der Verdacht auf, er könne als Parodie oder gar Satire gemeint sein. Aber dann wusste ich nicht, was hätte parodiert werden sollen, und für eine Satire ist es deutlich zu geschwätzig und harmlos.

Aber, wie gesagt: Vielleicht habe ich auch einfach nur die Stellen zum Lachen überlesen …

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha. Suhrkamp Taschenbuch 4040. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 275 Seiten. 8,90 €.

Miniaturen (10)

Weil ich Tante Lia erwähnt hatte. Sie starb just in dieser Zeit, als sich Martina und ich trennten. In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass ich ihre Briefmarkensammlung erbe. Ich musste bei einem Notar etwas unterschreiben, bekam ein kleines Paket ausgehändigt. Das Briefmarkenalbum. Darin vier österreichische Marken und eine Ansichtskarte aus Tel Aviv, auf der stand: »Öfter hast Du nicht geschrieben! Dir möcht ich beibringen Familiensinn! Deine Dich liebende Tante Lia.«

Robert Menasse
Don Juan de la Mancha

Ruth Klüger: unterwegs verloren

978-3-552-05441-7 Eine alte Frau schreibt ihre Erinnerungen auf. Sie ist Überlebende des Holocaust, hat ein Buch über diese Erfahrung geschrieben, das ein Bestseller geworden ist in Deutschland und dann auch in der Welt. Nun wird uns eine Fortsetzung angeboten. Woran erinnert sie sich? Da hat sie einer nicht gegrüßt, als er ihr Haus betrat. Ein anderer hat sie nicht in seinem Seminar haben wollen. Ein dritter hat sie zwar gefördert, sie aber nicht so ernst genommen, wie sie ernst genommen werden wollte. Wieder andere haben ihr nicht das soziale Umfeld bereitet, das sie sich erhofft hatte. Noch andere haben sie als berufliche Konkurrentin wahrgenommen und behandelt. Sie alle stehen unter dem Generalvorwurf, zumindest Frauenfeinde zu sein, wahrscheinlicher aber Antisemiten.

Warum war ich ihnen zuwider? Frau oder Jüdin? Zufall war’s nicht …

Und dann steht da plötzlich dieser eine Satz:

Ich frage mich allerdings, warum die Frauen immer meinen, sie könnten es besser als ihre Vorgängerinnen, anstatt sich vor geschiedenen Männern zu hüten.

Ein solcher Satz kann einem ein ganzes Buch zerschlagen. Das ist von einer so bodenlosen zwischenmenschlichen Dummheit, dass ich ganz fassungslos werde. Das schreibt eine Frau, deren Söhne angeblich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, deren Schwiegertochter jeden Kontakt mit ihr vermeidet, deren Enkel ihr zu distanziert sind, mit der die meisten Kollegen keinen Umgang haben wollten und der dennoch eines ganz sicher ist: Am Scheitern von Ehen sind die Männer schuld, und wem einmal eine missraten ist, der trägt ein Stigma.

Der Autorin selbst ist hier kein Vorwurf zu machen, aber denen, die mit ihrer Bekanntheit Geld verdienen, die nicht eingegriffen haben, das Manuskript nicht behutsam zur Seite gelegt haben, sondern die es gedruckt haben in dem klaren Bewusstsein, damit einen Bestseller zu produzieren. Das ist ekelerregend, und es ist verächtlich. Ich habe selten ein so peinliches Buch in der Hand gehabt.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay, 2008. Pappband, 238 Seiten. 19,90 €.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän

978-3-518-37234-0 Im Mittelpunkt dieser Erzählung um Alter und Demenz steht der 73-jährige Herr Geiser, der als Pensionär in einem Bergtal des Tessin, wohl dem Onsernone-Tal, lebt. Die Erzählung umfasst einige Wochen eines verregneten Sommers. Aufgrund eines Erdrutsches ist das Dorf, in dem Herr Geiser lebt, für eine Weile von der Außenwelt abgeschnitten; auch der Strom fällt zeitweilig aus. Herr Geiser langweilt sich, er mag auch nicht immer nur lesen. Die Gartenarbeit fehlt ihm, und außerdem macht er sich Sorgen, dass der Berghang, an dem sein Haus liegt, abrutschen könne.

In dieser weitgehend isolierten Lage beginnt Herr Geiser sich um sein Gedächtnis zu sorgen. Er versucht mithilfe eines 12-bändigen Brockhaus und einiger anderer Bücher, die Geschichte des Tessin und die Erdgeschichte überhaupt zu rekapitulieren. Als Gedächtnisstütze schneidet er aus den Büchern kleine Abschnitte aus, die er an die Wand heftet; das Buch dokumentiert einen Teil dieser Ausschnitte.

Höhepunkt der sprachlich schlichten und weitgehend ereignislosen Erzählung stellt ein Fluchtversuch Geisers dar: Er versucht in einem Gewaltmarsch Locarno zu erreichen, von wo aus er mit dem Zug nach Basel reisen könnte, bricht das Unternehmen aber nach ¾ des Weges ab, da er nicht mehr weiß, was er überhaupt in Basel will. Heimgekehrt erleidet er offensichtlich einen Schlaganfall und wird schließlich von seiner Tochter aus seiner Isolation befreit.

Die Erzählung beeindruckt durch die personale Erzähl-Perspektive, durch die der Leser ganz eng mit dem Erleben Geisers verbunden ist. Der Verfall seines Gedächtnisses, der Kampf um das Wissen, der Schritt für Schritt verloren geht und letztlich in die Repetition des bereits einmal Gesagten übergeht, der beinahe schon gewaltsame Versuch, sich aus all dem zu befreien, das alles ist in einer sehr zurückhaltenden Prosa überzeugend dargestellt.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Suhrkamp Taschenbuch 734. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 172006. 147 Seiten. 6,50 €.

Herman Melville: Israel Potter

978-3-458-34536-7 Bei der gerade zurückliegenden erneuten Beschäftigung mit Melville für einen Vortrag über ihn und seinen Moby-Dick, ist mir in meinem Bücherschrank auch dieses Bändchen wieder begegnet. Es handelt sich um die erste der wenigen Übersetzungen aus der Feder Uwe Johnsons. Sie wurde zuerst 1961 in der DDR veröffentlicht, und wir dürfen getrost davon ausgehen, dass sie eine reine Brotarbeit darstellt. Nach nur wenigen Seiten habe ich begonnen, Johnsons Text mit dem Original abzugleichen, und nach etwa 50 Seiten die trostlose Lektüre abgebrochen.

Ein Beispiel von vielen Möglichen: Auf seiner Flucht als amerikanischer Kriegsgefangener auf dem Weg nach London begegnet Israel Potter zwei Gestalten, die er nach dem Weg fragt:

But conquering this fit, he marched on, and presently passed nigh a field, where two figures were working. They had rosy cheeks, short sturdy legs, showing the blue stocking nearly to the knee, and were clad in long, coarse, white frocks, and had on coarse, broad-brimmed straw hats. Their faces were partly averted.
„Please, ladies,“ half roguishly says Israel, taking off his hat, „does this road go to London?“
At this salutation, the two figures turned in a sort of stupid amazement, causing an almost corresponding expression in Israel, who now perceived that they were men, and not women. He had mistaken them, owing to their frocks, and their wearing no pantaloons, only breeches hidden by their frocks.
„Beg pardon, lads, but I thought ye were something else,“ said Israel again.
Once more the two figures stared at the stranger, and with added boorishness of surprise.
„Does this road go to London, gentlemen?“
„Gentlemen—egad!“ cried one of the two.
„Egad!“ echoed the second.
Putting their hoes before them, the two frocked boors now took a good long look at Israel, meantime scratching their heads under their plaited straw hats.
„Does it, gentlemen? Does it go to London? Be kind enough to tell a poor fellow, do.“
„Yees goin‘ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.“
And without another word, having now satisfied their rustic curiosity, the two human steers, with wonderful phlegm, applied themselves to their hoes; supposing, no doubt, that they had given all requisite information.

Diese Miniatur englischen Landlebens übersetzt Johnson wie folgt:

Aber er bezwang diese Anwandlung und marschierte weiter. Bald kam er an einem Feld vorbei, auf dem zwei Gestalten arbeiteten. Sie waren rotbackig, klein von Wuchs, mit kräfti- gen Beinen, an denen die blauen Strümpfe bis zum Knie zu sehen waren, und trugen grobe weiße Kittel und plumpe breitrandige Strohhüte. Ihre Gesichter waren halb abge- wandt.
»Bitte, meine Damen«, sagte Israel halb schalkhaft und nimmt seinen Hut ab, »geht diese Straße nach London?«
Bei dieser Anrede drehten die Gestalten sich einfältig erstaunt um und verursachten in Israel ein nahezu ähnliches Gefühl, denn nun merkte er, daß es nicht Frauen waren, sondern Männer. Er hatte sie verwechselt, weil sie Kittel und statt der langen Hosen Breeches trugen, die der Rock aber verdeckte.
»Entschuldigen Sie, meine Damen, aber ich habe Sie verwechselt«, sagte Israel.
Sie starrten ihn weiter an. Ihre Verwunderung wuchs.
»Führt diese Straße nach London, meine Herren?«
»Herren! Meiner Treu!« rief der eine aus.
»Meiner Treu!« wiederholte der andere.
Die beiden bekitteken Landleute stellten ihre Hacken vor sich auf, kratzten sich am Kopf unter ihren geflochtenen Strohhüten und betrachteten Israel eingehend.
»Ja, meine Herren? Geht sie nach London? Seien Sie doch nett zu einem armen Kerl, sagen Sie es mir doch.«
»Sie wolln nach London, nich? Jaja – stimmt schon. Gehn Sie nur weiter.«
Und ohne ein weiteres Wort beugten diese beiden menschli- chen Stiere in ihrer erstaunlichen Gemütsruhe sich wieder über ihre Hacken, als sie ihre bäurische Neugier befriedigt hatten. Ohne Zweifel glaubten sie, sie hätten alle erforderliche Auskunft gegeben.

Es gibt nicht so sehr viel in dieser Passage, was wirklich gut übersetzt wäre; mindestens zwei der Pointen versaut der Übersetzer offenbar aufgrund seines mangelhaften Textverständnisses: Die zweite Anrede der beiden Bauern mit »Damen« ist eine grobe Fehlübersetzung des englischen »lads«, wofür in diesem Zusammenhang das deutsche »Kumpels« oder »Kameraden« eingesetzt werden müsste, je nachdem wie ungeschickt man Israel Potter im Deutschen sprechen lassen möchte. Aufgrund der Tatsache, dass auch diese joviale Ansprache keine Reaktion hervorbringt, wechselt Potter nun die Tonart und versucht es mit der Anrede »Gentlemen«, was die beiden Bauern zu dem Ausruf »Egad« veranlasst, was in keinem Zusammenhang »Meiner Treu« bedeutet, sondern ein verschliffenes »O God« darstellt und also vielleicht mit »Ojott« wiederzugeben wäre.

Die abschließende Auskunft der beiden – “Yees goin’ to Lunnun, are yees? Weel—all right—go along.” – versteht Johnson auch wieder nicht. Abgesehen von dem Problem, dass er den schweren Akzent der Bauern auf ein paar Verschleifungen reduziert, lautet die Antwort eben nicht »stimmt schon«, sondern vielmehr: »Se wolln na Londen, nich? Na jut, meins wejen, jehnse.« Daraus ergibt sich dann nämlich auch zwanglos die abschließende Feststellung, die beiden glaubten, »alle erforderliche Auskunft« gegeben zu haben, was sie in Johnsons Fassung auch tatsächlich getan haben, bei Melville aber gerade eben nicht.

Das hier demonstrierte Niveau ist typisch für Johnsons Übersetzung. Deutsche Leser sollten besser die Finger von dem Buch lassen. Die anderen Übersetzungen, etwa von Richard Mummendey, Walter Weber oder Gunter Böhnke, habe ich bislang nicht angeschaut. Aber vielleicht liefert ja auch Hanser innerhalb seiner Melville-Auswahl noch eine Neuübersetzung dieses Textes.

Herman Melville: Israel Potter. Aus dem Amerikanischen von Uwe Johnson. Insel Taschenbuch 2836. Frankfurt/M.: Insel, 2002. 248 Seiten. 9,00 €.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe

978-3-10-041510-3 Roman auf Grundlage der Vermutung, Christopher Marlowe habe als Geheimagent gearbeitet. Es gibt keine harten Beweise für diese Hypothese, aber Marlowes Bekanntschaft mit Agenten des Elisabethanischen Geheimdienst und nicht zuletzt die Anwesenheit Robert Poleys bei seinem Tod stützen entsprechende Spekulationen. Dieter Kühn erfindet die letzten Monate im Leben des Christopher Marlowe dementsprechend: Marlowe wird in Kühns Fiktion zum zweiten Male vom Geheimdienst angeworben und unter falscher Identität nach Paris geschickt. Die dortigen Ereignisse bilden eine nicht sehr originelle und nicht sehr detaillierte Agentenschmonzette, die damit endet, dass Marlowe vom französischen Geheimdienst enttarnt wird, der nun versucht, ihn als Doppelagenten zu instrumentalisieren. Als Marlowe nach England zurückkehrt, wird er in dieser Sache von seinen Arbeitgebern zur Rede gestellt. Marlowe macht den Vorschlag, ihn durch einen fingierten Tod aus dem Verkehr zu ziehen, was als Abschluss des Buches dann auch zu geschehen scheint.

Erzählt wird das ganze nun nicht als traditioneller Thriller, sondern als vorgebliches Aktenkonvolut des englischen Geheimdienstes. Kühn verzichtet zum Glück auf den Versuch, den tatsächlichen Ton irgendeiner Akte irgendeiner Zeit nachzubilden, was den Text aber nur unwesentlich spannender macht. Auch der echt witzige Einfall des Autors, sich selbst als Agent »Writer« in die Akte einzumischen, rettet das Buch nicht. Das ganze ist lahm, konstruiert und bemüht.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 262 Seiten. 18,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (26)

Frau Steiner war aus Frankfurt am Main, nicht mehr so furchtbar jung, ganz allein und schwarzhaarig; sie trug Abend für Abend ein andres Kleid und saß still an ihrem Tisch und las feingebildete Bücher. Ich will sie ganz kurz beschreiben: sie gehörte zum Publikum Stefan Zweigs. Alles gesagt? Alles gesagt.

Kurt Tucholsky
Der schiefe Hut

Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück

978-3-480-22544-6 Dritter Band der Herr-Eichhorn-Bücher von Sebastian Meschenmoser, und auch diesmal sind wieder der Igel und der Bär mit von der Partie. Ganz passend zum Ende des zweiten Bandes und zur Jahreszeit erwachen die drei Helden aus dem Winterschlaf in den neuen Frühling. Und während Eichhorn und Bär sich die Bäuche vollschlagen und sich Bewegung verschaffen, war der Igel unten am Teich und – hat sich verliebt! Leider weiß er aber nicht, wie er die schöne Igelin ansprechen soll. Doch Herr Eichhorn weiß Rat, und so ziehen die beiden auf eine echte Aventiure aus, damit der Igel sich Ruhm und Ehre erwerben kann. Wie man sich denken kann, läuft dabei nicht alles so ganz glatt ab; aber ich will hier nicht zu viel verraten.

Der dritte Band ist eine schöne und würdige Fortsetzung der Herr-Eichhorn-Reihe. Alle Freunden und jenen, die es werden wollen, warm ans Herz gelegt.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück. Esslingen: Esslinger Verlag, 2009. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 60 Seiten. 9,95 €.

Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung

978-3-8321-8102-4 Eine kleine Auswahl von Kafka-Texten, vom einzelnen Satz bis zur knapp 30-seitgen Erzählung. Das Wichtige sind aber weder die Texte selbst (sie folgen der Kritischen Ausgabe bei S. Fischer), noch ihre Zusammenstellung, sondern die Illustrationen von Nikolaus Heidelbach, einem der spannendsten Illustratoren unserer Zeit. Allein für das Blatt zu dem Kafka-Satz »Tanzt ihr Schweine weiter; was habe ich damit zu tun?« lohnt die Anschaffung des Buches!

Frank Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung. Ausgewählt und illustriert von Nikolaus Heidelbach. Köln: Dumont, 2009. Leinenrücken, Kunstdruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 120 Seiten. 19,95 €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia

978-3-257-23064-2 Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Stoff. Der Text entstand zwischen 1974 und 1976 innerhalb des sogenannten Mitmacher-Komplexes, der aus dem Stück Der Mitmacher, einem umfangreichen Nachwort zum Stück und einem Nachwort und einem Nachwort zum Nachwort besteht. Die selbstgestellte Aufgabe der Erzählung besteht darin, den Ödipus aus dem Schicksalhaften ins Zufällige zu übersetzen. Ödipus wird daher nicht Opfer des Ratschlusses der Götter, sondern der delphischen Orakelpriesterin, der Pythia, die, um Ödipus von seinem Aberglauben an die Orakelsprüche zu heilen, ihm eine gänzlich unwahrscheinliche Zukunft voraussagt.

Natürlich erweist sich der Orakelspruch als ein Volltreffer, wenn auch nicht in dem Sinne, wie uns der Ödipus-Mythos durch die Sophokleische Tragödie bekannt ist. Dürrenmatt behandelt im Gegenteil diese klassische Deutung des Mythos als oberflächlichste Variante, der er eine psychologische, eine politische und eine individualistische zur Seite stellt. Das ganze ist sehr überzeugend gemacht und darf wohl als eine der originellsten und intelligentesten Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit dem Ödipus-Stoff gelten.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia. In: Der Sturz, Abu Chanifa und Anan ben David, Smithy, Das Sterben der Pythia. detebe 23064. Zürich: Diogenes, 1998. 162 Seiten. 7,90 €.