W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹

Zunächst war die sittliche Libertinage also eine Erfindung der Propaganda gegen heterodoxe Denker. Im 17. Jahrhundert untermauerten englische Sittenstrolche in der Tat ihre sexuellen Freizügigkeiten mit einer Verachtung herkömmlicher Religion, die sie als heuchlerisch und sinnenfeindlich anprangerten.

Wilson-Goethes-Erotica

W. Daniel Wilson gibt gern das Enfant terrible der Goethe-Forschung. Im Jahr 1999 gelang ihm mit „Das Goethe-Tabu“ der erste größere Erfolg in dieser Rolle, als er nachwies, dass es sich bei Goethe – einem Mann der immerhin ein knappes Jahrzehnt Minister und den Großteil seines Lebens Geheimer Rat in einem deutschen Kleinstaat gewesen war – nicht um das Vorbild eines liberalen Demokraten gehandelt hatte, sondern um einen ziemlich konservativen, staatserhaltenden und restriktiven politischen Kleingeist, der vor der Zensur freiheitlichen Gedankengutes auch nicht einen Augenblick zurückschreckte. Die meisten Goethe-Kenner gähnten angesichts dieser tiefen Einsicht, die ihnen schon vor etwa hundert Jahren einmal irgendwo über den Weg gelaufen war, aber immerhin ließ sich dadurch eine Ikone der akademischen Goethe-Verkennung wie Katharina Mommsen zu Dummheiten im Goethe-Jahrbuch hinreißen. In London poppten die Sektkorken!

Seitdem liefert Wilson mit schöner Regelmäßigkeit weitere schockierende Erkenntnisse über Goethe: Der habe – wenn auch vielleicht nicht selbst homosexuell – über Homosexualität nicht nur Bescheid gewusst (wer mag es ihm verraten haben?), sondern diese Kenntnisse sogar hier und da in seinen Schriften aufscheinen lassen. Ei, der Doppeldaus!

Und heuer: Goethes Erotica! Nun wäre das Sexuelle bei Goethe durchaus ein reizvolles Thema, galt der Weimarer Meister doch zahlreichen seiner Zeitgenossen als zu freizügig und seine Schriften als nicht unbedingt geeignet, um in die Hände eines unverheirateten Mädchens – schon damals die bedeutendsten und dankbarsten Rezipienten deutscher Klassik – gelegt zu werden. Dazu müsste man sich etwa mit dem „Faust“ beschäftigen, in dem die Sexualität als Mittel zur Lebensfreude eine bedeutende Rolle spielt:

Faust.
Ich bin ihr nah’, und wär’ ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren;
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren.

Mephistopheles.
Gar wohl, mein Freund! Ich hab’ euch oft beneidet
Um’s Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.

Faust.
Entfliehe, Kuppler!

Mephistopheles.
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen.
Der Gott, der Bub’ und Mädchen schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.

Im „Faust“ ist es immer wieder eher erstaunlich, was verlegerische und staatliche Zensur im Buch haben stehen lassen als die wenigen Zensurstriche, die dann doch erzwungen wurden.

Faust mit der jungen tanzend.
Einst hatt’ ich einen schönen Traum;
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwey schöne Aepfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich steig hinan.

Die Schöne.
Der Aepfelchen begehrt ihr sehr
Und schon vom Paradiese her.
Wie freudig fühl’ ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.

Mephistopheles mit der Alten.
Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum ,
Der hatt’ ein — — —;
So — es war, gefiel mir’s doch.

Die Alte.
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt’ er einen — — bereit,
Wenn er — — — nicht scheut.

Auch hier passierten die weiblichen Brüste (wieder biblisch verbrämt) unbehelligt die Zensur, doch das ,ungeheure Loch‘, das aus dem Reimwort ,doch‘ und der für den Versrhythmus erforderlichen Silbenzahl eventuell erraten werden konnte, ist dann zuviel. Zusätzlich wird auch das Adjektiv ,groß‘ in der darauffolgenden Zeile gestrichen, um das korrekte Verständnis noch weiter zu erschweren. (Wer wissen will, was die Zensurstriche der letzten Strophe verbergen, soll ruhig einmal eine Goethe-Ausgabe zur Hand nehmen oder zumindest googlen).

Noch interessanter aber scheint mir, dass nur wenige Verse später eine geni(t)ale Anspielung dem wachsamen Auge der Zensoren entgangen ist:

Mephistopheles […] zu Faust der aus dem Tanz getreten ist.
Was lässest du das schöne Mädchen fahren?
Das dir zum Tanz so lieblich sang.

Faust.
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde.

Mephistopheles.
Das ist was rechts! Das nimmt man nicht genau.
Genug die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?

Auch im Zweiten Teil der Tragödie fanden sich entsprechend schlimme, die Zeitgenossen erregende Stellen, so etwa der von den Ärschlein der Faust in den Himmel entführenden Engel sexuell erregte Mephistopheles (erstaunlich, dass wenigstens einer der Leser der Erstausgabe überhaupt bis zu dieser Stelle vorgedrungen ist). Weit süffigere aber hatte Goethe so gut versteckt, dass sie nicht einmal von den Herausgebern bemerkt worden waren:

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Auch das darf mit Fug ein Schäferstündchen heißen!

Dann könnte man etwa über jenen ehelichen Geschlechtsverkehr und doppelten Ehebruch nachdenken, den Goethe in „Die Wahlverwandtschaften“ mit einer für seine Zeit außerordentlichen Deutlichkeit schildert und der ihm viel Kritik aus den Kreisen ordentlicher Bürger einbrachte. Denn merke:

Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.

Um den erotischen oder sexuellen Anteil an Goethes Werken richtig einschätzen zu können, wäre allerdings einiges an Vorarbeit zu leisten: So wäre zu sichten, was es an erotischer und pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert gab, wie sie reproduziert und gehandelt wurde, wer mit wem darüber wie kommuniziert hat, ob und wie sich die Grenzbezeichnungen ,Unsittliches‘, ,Erotisches (Erotica)‘ und ,Pornographie‘ im allgemeinen Gebrauch der Zeit voneinander unterschieden (anstatt wie Wilson im aktuellen Duden (!) nachzuschauen, wie der Pornographie definiert), wie unterschiedlich antike und neuzeitliche Erotica bewertet und behandelt wurden, wie mit offen unsittlichen Autoren wie Shakespeare verfahren wurde, welche überaus differenzierten Unterschiede die Zeitgenossen Goethes zwischen privater und öffentlicher Rezeption und zwischen privatem und öffentlichem Urteil machten usw. usf. Das alles ist ein sehr weites Feld, auf dem nicht nur literarhistorische, sondern auch wichtige soziologische und hygienische Erkenntnisse über das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu heben wären.

Aber keine Sorge, Wilson macht nichts von alledem. Stattdessen konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Gedichtzyklen Goethes nach antiken Vorbildern – die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ – und deren Publikationsgeschichte; ganz am Ende kommt noch ein bisschen „West-östlicher Divan“ dazu, weil ihm wohl wer gesteckt hat, dass es auch da verborgene Sauereien gibt. Dabei konstruiert sich der Skandal in zwei Tatbeständen: Zum einen, dass beide Zyklen zu Goethes Lebzeiten (und auch später noch) nicht vollständig abgedruckt wurden, was Wilson gerne unter Zensur, nein, Entschuldigung: ,Zensur‘ bzw. ,Selbstzensur‘ verbucht haben möchte. Zum anderen, dass in den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ Stellen abgeschabt und ausradiert und später sogar ausgeschnitten wurden. Schauen wir uns die Teilskandale nacheinander an:

Schon bei der Niederschrift beider Gedichtzyklen war Goethe bewusst, dass an eine vollständige Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer ursprünglichen Form kaum zu denken war. Die „Römischen Elegien“ waren für Schillers Zeitschrift „Die Horen“ vorgesehen, eine Auswahl der „Venezianischen Epigramme“ für einen von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. In beiden Fällen nahm Schiller also seine Pflichten als Herausgeber wahr, las die Texte, besprach mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre, was man seiner Meinung nach streichen müsste bzw. welche der Epigramme für den Almanach überhaupt nicht in Frage kämen (das waren die explizit sexuellen und die antiklerikalen bzw. antichristlichen). Außerdem hatte Goethe die Elegien dem Herzog Karl August und Herdern vorgelesen, bei denen er damit rechnen konnte, dass sie die antikisierende Form goutieren und den dazu passenden Inhalt wie erwachsene Männer wahrnehmen konnten. Beide lobten die Gedichte, rieten von einer Veröffentlichung dennoch gänzlich ab, was Goethe aber nicht daran hinderte, die Elegien mit Ausnahme von vieren in den „Horen“ erscheinen zu lassen. Auf Schillers Vorschläge zur Einkürzung zweier Elegien reagierte er, in dem er diese komplett zurückzog; er wollte sie also lieber gar nicht als verstümmelt drucken lassen. Nichts von all dem ist skandalös, nichts hat mit Zensur oder Selbstzensur zu tun, ob nun in Anführungsstrichen oder nicht, sondern es stellt einen für fast alle Zeiten ganz normalen Publikationsprozess dar. Wilson dagegen möchte aus dem Vorgang um die Elegien eine große Enttäuschung Goethes konstruieren, die im Nachklapp fast noch zu einer Staatsaffäre geworden wäre, wenn man nur wüsste, ob und weshalb der Herzog ein späteres Gedicht Goethes im Geheimen Consilium hat besprechen lassen wollen. Doch: Dem Skandaliseur ist nix zu schwör: Mit Hilfe der Wörtchen ,wahrscheinlich‘, , sicherlich‘ und ,offenbar‘ (dies besonders gern an Stellen verwendet, an denen nun wirklich nichts, aber auch gar nichts offenbar ist) kann man immer einen Skandal dort erzeugen, wo nichts ist.

Beim zweiten Teilskandal handelt es sich um die Frage, wer für die Abschabungen bzw. das Ausschneiden aus den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ verantwortlich war. Hier ist hervorzuheben, dass sich Wilson wenigstens dafür stark macht, die Großherzogin Sophie vom Verdacht auszunehmen, aber ansonsten kann er auch hier nur ausführlich herumraten und vermuten, wer es nicht gewesen ist. Schließlich legt er sich im Ausschluss-Verfahren beim Abschaben auf Walther von Goethe und beim Ausschneiden auf Bernhard Suphan oder Carl August Hugo Burkhardt, ja, nun gerade nicht fest.

All das ließe sich auch auf 8 statt auf 180 Seiten sagen, macht aber dann kein rechtes Skandalon. Folgen noch einige gehaltlose Anwürfe gegen die Hamburger Ausgabe und ihren Herausgeber sowie ein wenig oberflächlich Angelesenes über den ,Libertin‘ (siehe oben das Motto über die „englischen Sittenstrolche“!) und ob Goethe einer war (eigentlich nicht, aber in einigen Zügen dann doch vielleicht eher oder auch naja soso). Um noch ein letztes Mal den Dichter selbst zu bemühen:

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹. Hannover: Wehrhahn, 2015. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 256 Seiten. 19,80 €.

Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe

Nur werden bemerkenswerte Entdeckungen und loh­nen­de Einsichten hier durch eine Fülle von Selbst­ver­ständ­li­chem und Belanglosem erschwert.

Schoene_BriefeschreiberAlbrecht Schöne, der das nicht kleine Kunststück fer­tig­ge­bracht hat, mit einer Faust-Ausgabe zu Feuil­le­ton-Bekanntheit zu gelangen, legt ein neues Goethe-Buch vor. Für Schöne bin ich meinem Vorsatz untreu geworden, keine Goethe-Literatur mehr zu lesen, denn wenn es sich nicht gerade um eine ger­ma­nis­ti­sche, hoch spezialisierte Monographie handelt, liest man zu mindestens 80 % das, was man in den 50 Bü­chern zuvor auch schon gelesen hatte. Schöne allerdings hält, was ich von ihm erwartet habe, denn selbst dort, wo sein Buch langweilig ist, ist es das auf originelle Weise.

Schöne beschäftigt sich mit den Goetheschen Briefen mit einer ex­tre­men Pars-pro-toto-Methode: Er wählt aus den nahezu 15.000 be­kann­ten Goethe-Briefen 9 (!) aus, zu denen er dann jeweils einen um­fang­rei­chen Kommentar liefert. Die ausgewählten Briefe um­span­nen das gesamte Leben Goethes: Es beginnt mit einem sehr formalen Auf­nah­me­ge­such des pubertären Goethe in eine Gruppe adeliger Schöngeister und endet mit einem Brief an Wilhelm von Humboldt, den Goethe nur wenige Tage vor seinem Tod abgeschlossen hat.

Besonders die frühen Briefe werden sehr rhetorisch analysiert, was in der Hauptsache daran liegt, dass sie selbst nur wenig Inhalt mit­brin­gen. Das ändert sich naturgemäß später, so dass auch die Kom­men­tie­rung stärker auf die biographischen und gesellschaftlichen Vor­aus­set­zun­gen der Schreiben eingehen kann. Das alles rettet Schöne aber auch in den späteren Briefen nicht davor, Inhalte schlicht noch einmal in eigenen Worten zu paraphrasieren oder den Gebrauch un­ter­schied­li­cher grammatikalischer Tempora ausführlich auf ihre Funktion hin zu un­ter­su­chen, die jeder nicht gänzlich taube Leser schon beim ein­fa­chen Lesen des Briefes wahrnimmt.

Andererseits liefert Schöne hoch interessantes biographisches Ma­te­rial, das man so nicht einfach anderswo wird finden können, so etwa am Beispiel des Briefes an Johann Friedrich Krafft vom 11. Dezember 1778, eines offenbar in Not geratenen Menschen, dem Goethe Le­bens­un­ter­halt und Sicherheit vor Verfolgung verschaffen will. Für mich war das Schmuckstück der letzte Brief an Humboldt, in dem es um poe­to­lo­gi­sche und produktionsästhetische Fragen im Zusammenhang mit dem zweiten Teil des „Faust“ geht.

Ergänzt werden die neun Kommentare um drei „Exkurse“ betitelte An­hän­ge, die die deutschen und speziell Weimarischen Post­ver­hält­nis­se, Goethes Gewohnheit, Briefe zu diktieren, und zuletzt die von Goethe verwendeten Anredepronomina behandeln. Auch hier spiegelt sich das 2:1-Verhältnis von interessantem Material zu eher langweiliger Stoff­hu­be­rei nahezu perfekt wider, das auch sonst im Buch vorherrscht.

Was der Leser nicht erwarten sollte, ist ein struktureller Überblick über die bekannten Briefe Goethes, eine allgemeine Charakteristik Goethes als Briefschreiber, eine einführende Beschreibung in die großen Brief­wech­sel (Schiller, Zelter, Carl August, Christiane) oder auch nur die Behandlung der wichtigsten Briefe Goethe, wie auch immer man wür­de herausfunden wollen, welche das sind. Was er erwarten darf, ist eine in weiten Teilen anregende und interessante Lektüre, wie sie für die populärere Goethe-Literatur außergewöhnlich ist.

Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, Lesebändchen, 539 Seiten. 29,95 €.

Dem Otto sein Leben von Bismarck

Nescio quid mihi magis farcimentum esset.

Dem-Otto-sein-LebenDie Anekdote ist eine anspruchsvolle literarische Kleinform mit einer eigenen, komplexen Geschichte. Sie weist eine erhebliche Spannbreite auf, die wohl durch die wahrheitsgetreue Überlieferung eines historischen Augenblicks ei­ner­seits und eine zwar frei erfundene, nichtdestoweniger aber dennoch cha­rak­te­ris­ti­sche Geschichte, die dem Zuhörer zumutet, sie wenigstens in ihrem Kern für historisch zu halten, an­de­rer­seits be­grenzt ist. Nimmt man noch die belletristischen Variationen hinzu, wie sie etwa bei Heinrich von Kleist oder Eckhard Hescheid zu finden sind, so verbietet sich eigentlich jeglicher naiver Umgang mit der Form, wie er vielleicht im 19. Jahrhundert gerade noch angängig gewesen sein mag.

Natürlich ändern solche theoretischen Bedenken nichts daran, dass im einen oder anderen Fall historischer Persönlichkeiten genau dieser naive Umgang mit der Form und ihren Inhalten wieder betreiben wird; Jubiläen bieten sich hierfür besonders an. So auch diesmal:

Wie die beiden Herausgeber auf den witzischen Titel „Dem Otto sein Leben von Bismarck“ verfallen sind, bleibt ihr Geheimnis. Zuerst vermutet man natürlich, dass sich hier einmal mehr ein Graphiker ausgetobt hat, doch ein Blick auf die Webseite des Verlages oder den Titeleintrag in der DNB überzeugt davon, dass das Buch tatsächlich und absichtlich so heißt.

Bei ihrer Auswahl beschränken sich die Herausgeber auf Material, das zumeist aus eher verlässlichen Quellen stammt, wenn hier auch bei den Anekdoten aus Kindheit und Jugend des Reichskanzlers [sic!] si­cher­lich größere Zugeständnisse zu machen sind. Allerdings könnte es der Leser als charakteristisch für diese und ähnliche pseu­do­bio­gra­phi­sche Projekte ansehen, dass das Buch gleich mit einer of­fen­ba­ren Er­in­ne­rungs­ver­schie­bung (um es nicht schlicht Lüge zu nennen) beginnt:

Ich erinnere mich genau, wie das Berliner Schauspielhaus abbrannte. [S. 13]

Das Königliche Schaupielhaus am Gendarmenmarkt brannte im Juli 1817 ab, so dass Bismarcks Erinnerung allein schon dadurch in Frage gestellt wird, dass der Reichskanzler damals erst 2 Jahre alt war.

Hübsch sind in solchen Sammlungen natürlich die idiosynkratischen Momente, die die notwendige Beschränktheit selbst des großen Man­nes aufblitzen lassen:

Sprachkonfusion

Widerstand gegen die Einführung einer neuen Rechtschreibung 1876

Er sprach mit wahrem Ingrimm über die Versuche, eine neue Orthographie einzuführen. Er werde jeden Diplomaten in eine Ordnungsstrafe nehmen, welcher sich derselben bediene. Man mute dem Menschen zu, sich an neue Maße, Gewichte, Münzen zu gewöhnen, verwirre alle gewohnten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine Sprachkonfusion einführen. Das sei un­er­träg­lich. Beim Lesen auch noch Zeit zu verlieren, um sich zu besinnen, welchen Begriff das Zeichen ausdrücke, sei eine un­er­hör­te Zumutung. Ebenso sei es Unsinn, Deutsch mit lateinischen Lettern zu schreiben und zu drucken, was er sich in seinen dienst­li­chen Beziehungen verbitten werde, solange er noch etwas zu sagen habe. Er werde das zur Kabinettsfrage machen, wenn Falk auf diesen Schwindel einginge. [S. 79]

Wenn man nicht zuviel erwartet, eine vergnügliche Lektüre für einen Nachmittag, oder um es mit Arno Schmidt zu sagen: Nett zu lesen, sehr nett zu vergessen.

Ulrich Lappenküper / Ulf Morgenstern (Hgg.): Dem Otto sein Leben von Bismarck. Die besten Anekdoten über den Eisernen Kanzler. Beck Paperback 6197. München: C. H. Beck, 2015. Broschur, 128 Seiten. 9,95 €.

Johannes Willms: Waterloo

Willms-NapoleonNur wenige Monate nach seiner Geschichte der Französischen Revolution legt Johannes Willms rechtzeitig zum 200-jährigen Jubiläum der Schlacht ein Buch zu Waterloo vor. Willms beginnt mit den Verhandlungen zum ersten Exil Napoleons auf Elba im Jahr 1814, berichtet dann über das Exil selbst, Napoleons Rückkehr und den Beginn der Herrschaft der 100 Tage und schließt seine Darstellung mit der Schlacht selbst und ihrer Rezeption in Frankreich, England, Preußen sowie Belgien und den Niederlanden ab. Wer sich über Napoleons letzten Jahre informieren möchte, wird Willms Napoleon-Biographie zur Hand nehmen müssen.

Willms verteilt seine Geschichte der Herrschaft der 100 Tage, was vielleicht der bessere Untertitel für das Buch gewesen wäre – etwa gleichwertig auf die politischen und die militärischen Aspekte des Endes der Napoleonischen Herrschaft. Die eigentliche Schlacht bei Waterloo und ihre unmittelbaren Vorbedingungen – die Schlachten bei Quatre Bras und Ligny am 15. und 16. Juni 1815  – werden auf 90 der 250 Seiten des Textes dargestellt. Auch hier geht es wesentlich immer auch um persönliche und politische Motive der Protagonisten (be­son­ders Napoleons und Wellingtons), so dass Leser nicht mit einer haupt­säch­lich militärhistorischen Geschichte der Schlacht rechnen sollten.

Inhaltlich befindet sich der Text auf dem von Willms gewohnten Niveau, was heißt, dass er Lesbarkeit und historische Differenziertheit gut miteinander in Einklang bringt. Allerdings scheint das Buch unter hohem Zeitdruck produziert worden zu sein, denn es finden sich für Willms sonst eher ungewöhnliche sprachliche Patzer im Text:

Also galt es, zunächst die Einheiten zu ordnen, Waffen und Montur zu reinigen, die Pferde zu tränken und zu füttern, abzukochen und zu essen. [S. 209]

Sicherlich nicht Willms inspiriertestes Buch, was man aber auch weder bei diesem Thema noch einer solchen Gelegenheitsarbeit erwarten sollte.

Johannes Willms: Waterloo. Napoleons letzte Schlacht. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, 288 Seiten, eine Karte in Einstecktasche. 21,95 €.

James Fenimore Cooper: Ned Myers

Wohlmeinende Menschen richten auf dieser Welt oft einfach ebenso viel Schaden an wie die böswilligen.

Cooper-MyersBei „Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast“ handelt es sich um die von Cooper literarisch aufgearbeitete, ihm mündlich erzählte Biografie des Seemanns Edward Meyers (ca. 1793–1849), der einen bedeutenden Teil seines Lebens unter dem angenommenen Namen Ned Myers auf See verbracht hat. Auslöser der Niederschrift dürfte der Erfolg von Richard Henry Danas au­to­bio­gra­phi­schem Bericht „Zwei Jahre vor dem Mast“ (1840) gewesen sein, der zahlreiche Seefahrer-Biografien nach sich zog. Myers war in jungen Jahren gemeinsam mit Cooper auf einem Schiff gefahren und erinnerte sich an seine Bekanntschaft mit ihm, nachdem er durch den Bruch seiner Hüfte nicht länger auf See arbeiten konnte.

Myers wechselte häufig die Schiffe, diente zwischenzeitlich auch in der US-Marine, wurde von den Briten gefangengesetzt, floh mehrfach aus dieser Gefangenschaft und nahm nach dem Friedenschluss zwischen den USA und England sein unstetes Leben als Matrose wieder auf. Cooper will Myers’ Papieren ent­nom­men haben, dass er auf min­des­tens 72 Schiffen angeheuert war und insgesamt – zählt man seine Fahrten als Passagier und Gefangener hinzu – auf mehr als 100 Schiffen gefahren sein muss. Dementsprechend geraten einige Pas­sa­gen der Biographie sehr aufzählend: Myers heuert auf diesem Schiff an, die Fahrt verläuft ohne besondere Ereignisse, Myers heuert auf dem nächsten Schiff an etc. pp. Zwi­schen­durch finden sich aber immer wieder impressive Abschnitte, die von den zahlreichen Stürmen und Schiffsuntergängen berichten, die Myers überlebt hat; auch die Er­zäh­lun­gen von den kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der britischen und US-amerikanischen Flotte auf dem Ontariosee und der darauf folgenden Zeit der Kriegsgefangenschaft gehören zu den lebendigen und interessanten Teilen der Erzählung.

Für Leser, die am Leben der Seeleute im frühen 19. Jahrhunderts oder überhaupt an frühen Reiseerzählungen interessiert sind, ist das Büch­lein sehr zu empfehlen; ohne dieses spezielle Interesse dürfte der einen oder dem anderen die Lektüre vielleicht etwas lang werden. Die Ü­ber­set­zung ist bis auf Kleinigkeiten tadellos; ein seemännisches Glos­sa­ri­um, Fußnoten sowie ein Vor- und Nachwort des Übersetzers er­gän­zen und erläutern den Text.

James Fenimore Cooper: Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast. Übersetzt von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare, 2014. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung, Lesebändchen, 389 Seiten. 28,– €.

Johannes Willms: Tugend und Terror

„Ich folgere daraus also, wer immer in diesem Moment zittert, bekennt sich schuldig, denn niemals fürchtet die wahre Un­schuld die Überwachung seitens der Öf­fent­lich­keit.“
Robespierre

Willms-RevolutionEs ist für jedermann ein gewagtes Unternehmen, eine Geschichte der Französischen Revolution zu schrei­ben. Ich wage die unbelegte Behauptung, dass über  kein Ereignis der Jahre zwischen 1500 und 1900 mehr geschrieben worden ist, als über diesen ein­zig­ar­ti­gen Wendepunkt zur modernen Welt. Nicht nur markiert die Französische Revolution den Anfang vom Ende der Adels- und Königsherrschaft in Europa, ebenso ist sie der Auftakt des grandiosen Aufstiegs des europäischen und in der Folge des Welt-Bürgertums in seiner Mission zur Vernichtung der Menschheit. Unzählige der Segnungen und Flüche der Moderne neh­men in dieser Zeit ihren Ausgang und bis heute wird die Welt von den ideologischen Wellen und Gegenwellen der Revolution von 1789 in Bewegung gehalten.

Nach seiner großen Napoleon-Biographie und der über dessen Neffen Napoleon III erscheint es nur konsequent, dass sich Johannes Willms nun mit jenen Bedingungen beschäftigt, die die Rolle Napoleons auf der europäischen Bühne erst ermöglicht haben. Dabei erweist sich Willms einmal mehr als ein Meister der Quellenauswertung. Das Rückgrat seiner Darstellung bildet ein chronologischer Bericht der Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung bzw. des -konvents, die sowohl durch die jeweiligen äußeren Einflüsse auf die Akteure als auch durch deren Intentionen verständlich gemacht werden. Dabei ist es Willms hoch anzurechnen, dass er nicht, wie das populäre historische Schriftsteller gern tun, auf die sogenannte Psy­cho­lo­gie der Handelnden ausweicht, sondern immer die konkreten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände benennt, unter denen eine Entscheidung der Legislative oder Exekutive ge­trof­fen und durchgesetzt worden ist. Soweit ich sehe, macht er einzig für den Protagonisten Robespierre eine Ausnahme, bei dem sich Willms ohne längere Erörterung der weit verbreiteten, wenn auch nicht unumstrittenen These anschließt, es habe sich um einen Paranoiker gehandelt. Da es im Falle Robespierres aber unbestreitbar so war, dass es Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gab, die ihm – mit mehr oder weniger guten Gründen – nach dem Leben trachteten, bleibt eine solche historische Ferndiagnose immer etwas windig. Das ist aber auch schon das einzige wirkliche Desiderat, dass ich als historischer Laie in Willms Darstellung habe finden können.

Will man unbedingt Kritikpunkte benennen, so ließe sich anmerken, dass Willms aufgrund seiner Konzentration auf die Legislative zahlreiche Aspekte der Revolution nur am Rande behandelt: So bleibt die Außen- und Eroberungspolitik der Revolutionsregierung für lange Zeit eher vage, bis Willms dies in einem späten Kapitel etwas gedrängt nachholt. Auch die kulturelle Umgestaltung der französischen Ge­sell­schaft, die antichristlichen und atheistischen Tendenzen eines Teils der Revolutionäre, die untrennbar verbunden sind mit einer ersten Hoch­zeit der empirischen Forschung und der spekulativen Anthropologie, werden nur gestreift. Doch muss man Willms zugestehen, dass er keinen wichtigen Aspekt auslässt und dass seine kurzen, präzisen Exkurse immer den Kern der Sache treffen. Insoweit ist Willms Historie innerhalb der von ihm selbst bestimmten Grenzen untadelig. Und, was mehr ist, sie ist exzellent geschrieben.

Eine historisch zugleich exakte und – trotz der benötigten fast 750 Seiten – konzise Geschichte der Revolution, die als Gesamtdarstellung ihresgleichen sucht, nicht für den historischen Fachmann, aber für den historisch Interessierten geschrieben. Jeder, der sich einen soliden Überblick über den politischen Verlauf der Revolution verschaffen will, wird in der nächsten Dekade und darüber hinaus zu diesem Buch greifen.

Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München: C. H. Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 831 Seiten. 29,95 €.

Ein Hinweis: Rathjens „Schatzinsel“

Stevenson-Schatzinsel-RathjDie von mir zuletzt wieder einmal im Gegensatz zu Andreas Nohls flachgehobelter Übetragung von Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ gelobte Übersetzung Friedhelms Rathjens, einst beim Haffmans Verlag erschienen, ist derzeit in einer kleinen Auflage von nur 99 nummerierten, vom Übersetzer signierten Exemplaren lieferbar. Ergänzt wird die „Schatzinsel“ – bei Rathjen ohne bestimmten Artikel im Titel! – von Stevensons Essay „Mein erstes Buch“.

Allen Liebhabern von Stevenson und/oder Rathjens immer originellen und sorgfältigen Übersetzungen sei angesichts der kleinen, exklusiven Auflage geraten, rasch zuzugreifen.

Robert Louis Stevenson: Schatzinsel. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2014. Bedruckter Pappband, 319 Seiten. 50,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Lew Tolstoi: Anna Karenina

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Zum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Es gibt keinen Weg, der uns aus diesem trostlosen Labyrinth herausführt.

Hawthorne_BuchstabeHanser legt einen der ersten nordamerikanischen Klassiker in einer neuen Übersetzung vor. Hawthornes romantische Erzählung war nicht nur beim Publikum ein kontrovers diskutierter Erfolg, sondern wurde auch von Schriftsteller-Kollegen gelobt. Für ein romantisches Schaustück war das Buch 1850 etwas spät erschienen; um den Text literarhistorisch richtig einzuordnen, muss man sich klar machen, dass nur sieben Jahre später Flauberts „Madame Bovary“ erscheint.

Erzählt wird die Geschichte Hester Prynnes, die ursprünglich mit einem älteren Gelehrten in England verheiratet war und von diesem in die jungen Staaten Nordamerikas vorausgeschickt wurde. Nachdem ihr Ehemann als auf See verschollen gilt, lässt sich Hester auf eine außereheliche Beziehung ein, aus der eine Tochter hervorgeht. Die Erzählung setzt damit ein, dass Hester mit ihrer Neugeborenen an den Bostoner Pranger gestellt wird; sie weigert sich aber auch dort, den Vater ihres Kindes zu benennen. Wie der Zufall und die Forderungen der romantischen Dramatik es wollen, trifft an jenem Tag, als Hester als Sünderin öffentlich zur Schau gestellt wird, auch ihr tot geglaubter Ehemann in Boston ein. Die Eheleute erkennen einander, doch der Ehemann sagt sich von Hester los und verpflichtet sie, sein Inkognito – er nennt sich jetzt Roger Chillingworth – als Geheimnis zu bewahren.

In den kommenden Jahren lebt Hester, die zur Kennzeichnung ihres Status als Sünderin ein rotes A auf ihrem Kleid tragen muss, ein Leben am Rand der Bostoner Gesellschaft und beschäftigt sich in der Hauptsache mit Näharbeiten und dem Aufziehen ihrer Tochter Pearl, die als ein etwas wundersames, wildes und naturnahes Kind dargestellt wird. Roger Chillingworth dagegen praktiziert als Arzt und befreundet sich mit dem kränklichen Priester Arthur Dimmesdale, von dem er auf nicht näher erklärte Weise weiß, dass dieser der Vater Pearls ist. Chillingworth, der in der Zeit, in der er verschollen war, bei den Indianern die Geheimnisse der Naturmedizin erlernt hat, hegt einen verborgenen Hass auf Dimmesdale und verlängert und verschlimmert dessen Krankheit, während er vorgibt, ihn zu behandeln.

Erst nach sieben Jahren entschließt sich Hester, dieser Quälerei ein Ende zu machen, indem sie Dimmesdale die Identität Chillingsworth’ verrät. Dimmesdale und Hester entschließen sich daraufhin, Amerika gemeinsam zu verlassen und in Europa ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Kurz vor der Abfahrt muss Hester allerdings erfahren, dass auch Chillingworth auf dem selben Schiff eine Passage gebucht hat, das Martyrium der beiden Liebenden sich also fortzusetzen droht. Doch am Tag vor der Abreise, am Tag der Gouverneurswahl, bekennt sich Dimmesdale vor der versammelten Bevölkerung Bostons zu seiner Vaterschaft und Sünde, bevor er in den Armen Hesters stirbt.

Man könnte nun meinen, dass diese Zusammenfassung der Fabel wesentliche Teile auslässt, aber ganz im Gegenteil ist es so, dass bis auf zwei, drei Episoden die Handlung des Buches damit vollständig beschrieben ist. Um aber die immerhin gut 320 Seiten zu füllen, scheint das etwas wenig zu sein, und so ist es auch. Hawthorne setzt zum einen eine mit der Erzählung nur sehr locker verbundene Einleitung von 60 Seiten vor die eigentliche Fabel, die aus der autobiographischen Skizze „Das Zollhaus“ besteht und Hawthornes Tätigkeit im Zollhaus von Salem und seine Entlassung aus diesem Dienst thematisiert. Nebenbei liefert diese Einleitung eine typisch romantische Herausgeberfiktion: Hawthorne behauptet, auf dem Dachboden des Zollhauses auf alte Notizen gestoßen zu sein, die die Geschichte Hesters erzählen und die Grundlage seines Buches liefern. Zum anderen kann man Hawthorne den Vorwurf der Geschwätzigkeit nicht ersparen. Dieser Eindruck verdichtet sich soweit, dass es als unfreiwillige Ironisierung des eigenen Stils erscheint, wenn er an einer Stelle einen seiner Ergüsse mit der Wendung „mit einem Wort“ zusammenzufassen sucht.

Wirklich genießen kann man das Buch wahrscheinlich nur in historischer Perspektive: Der romantische Ton, der das Buch prägt, ist offenbar eine bewusst gewählte Stilposition des Autors, wie besonders die vorgeschaltete Einleitung klar macht, in der die unverstellte Stimme des Autors zu hören ist. Das europäischen Mittelalters der romantische Ritterromane muss auf dem neuen Kontinent durch die frühe Neuzeit ersetzt werden, der aber ausreichend Züge des Dunklen Zeitalters beigegeben werden, um das romantische Bild zu vervollständigen. Ansonsten machen außer der schon erwähnten Geschwätzigkeit Hawthornes weitere manieristische Entscheidungen einen unmittelbares Genuss des Buches schwer: die Reduktion auf praktisch nur vier handelnde Figuren, die zudem kaum zum Handeln kommen, aber in jedem Moment exaltiert und unnatürlich erscheinen. Am schrecklichsten zeigt sich diese kontinuierlich überspannte Grundstimmung in der direkten Rede:

»Na, was ist das, Mutter?« rief sie. »Warum ließen die Leute ihre Arbeit heute liegen? Ist das ein Spieltag für die ganze Welt? Schau, dort ist der Hufschmied! Er hat sein rußiges Gesicht gewaschen und zieht sich Sabbatkleider an und sieht aus, als wäre er gerne fröhlich, wenn einer nur so nett wäre, es ihm beizubringen! Und da ist Herr Brackett, der alte Kerkermeister, der mir zunickt und mich anlächelt. Warum tut er das, Mutter?« (S. 283)

Auch Hawthorne wird bewusst gewesen sein, dass keine Siebenjährige im Lauf der Erdgeschichte jemals so geredet hat oder jemals so reden wird.

Was die neue Übersetzung angeht, so stellt man bereits durch einen ersten Vergleich mit dem Original fest, dass Übersetzer Jürgen Brôcat, der für seine Übersetzung von Walt Whitmans „Grasblätter“ 2009 sehr gelobt wurde, an grammatikalischen Strukturen kaum interessiert zu sein scheint. Er greift durchweg massiv in Wortstellung und Satzstruktur ein, ohne dass dabei ein Prinzip erkennbar wäre. Auch sonst fallen einige merkwürdige übersetzerische Entscheidungen auf: Hawthornes Gattungsbezeichnung für den Roman „A Romance“ (etwa „eine romantische Erzählung“) übersetzt Brôcan mit „Eine Phantasie“ (was vielleicht an E.T.A. Hoffmann erinnern soll, meiner unmaßgeblichen Meinung nach aber wenig passt); die Beschreibung Pearls als „elf-child“ wird bei ihm zu einen „Koboldkind“, was zu der nicht minder seltsamen Entscheidung führt, das später im Text tatsächlich vorkommende englische „imp“ (Kobold) mit „Wicht“ zu übersetzen, was im Deutschen doch sehr etwas anderes ist als der „Wichtel“, was das englische „elf“ durchaus auch bedeuten könnte. Als im Haus des Gouverneurs Pearls christliche Erziehung geprüft und sie dabei nach ihrem Schöpfer gefragt wird, antwortet sie, ihre Mutter habe sie von einem wilden Rosenbusch gepflückt, ein Einfall, den Hawthorne gleich im nächsten Satz mit der sehr merkwürdigen Wendung begründet, „Pearl stood outside of the window“, was im Kontext wohl bedeuten soll, Pearl stehe direkt neben dem Fenster; Brôcat entschließt sich dazu, das mit „da Pearl draußen vor dem Fenster stand“ zu übersetzen, was zwar semantisch richtig, ansonsten aber weitgehend sinnfrei erscheint. Und „a row of venerable figures, sitting in old-fashioned chairs, which were tipped on their hind legs back against the wall“ mit „eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen“ zu übersetzen, kann nur als mittlerer Unfall bezeichnet werden. Dies und viele weitere Kleinigkeiten haben wenigstens mir das Vergnügen an der Übersetzung verdorben; hier wäre ein schlichterer Zugriff auf den ohnehin stilistisch exaltierten Text wahrscheinlich glücklicher gewesen.

Alles in allem eine sehr anspruchsvolle Lektüre, die vom Leser einiges an historischem Einfühlungsvermögen und stilistischer Toleranz verlangt. Davon, dass sich wohl nur den wenigstens deutschen Lesern der tatsächlich geschichtliche Gehalt des Textes, der wesentlich zu seinem Status als Klassiker beiträgt, erschließen wird, muss dabei ganz abgesehen werden.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcat. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 480 Seiten. 27,90 €.

Iwan Gontscharow: Oblomow

»Er war nicht dümmer als andere, und seine Seele war rein und klar wie Glas; er war großmütig, zartfühlend und ist zugrunde gegangen!«

Gontscharow-Oblomow„Oblomow“, 1859 nach zehnjähriger, immer wieder unterbrochener Arbeit  erschienen, ist der einzige Roman Iwan Gontscharows, der in der europäischen Tradition Klassikerstatus erlangen konnte. Dass er nicht vergessen ist, liegt wohl in der Hauptsache an dem radikalen Charakter der Titelfigur und der beinahe modernen Liebesgeschichte, in die Gontscharow ihn verwickelt. Am Ende verdirbt der Autor das Buch ein wenig, als er seiner eigenen Radikalität misstraut und die Erzählung in ein sehr konventionelles, dem Publikumsgeschmack geschuldeten Ende rettet. Aber der Reihe nach:

Ilja Iljitsch Oblomow verschläft im Petersburg der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein ereignisarmes und untätiges Leben. Er ist Erbe eines Landgutes mit 300 Seelen, hat studiert und war auch einige Zeit in der Petersburger Verwaltung tätig. Doch seit dem Tod der Eltern lässt er sich gehen, überlässt sein Gut einem korrupten Verwalter, der ihm jedes Jahr unter immer neuen Ausreden immer weniger Geld schickt, und vertrödelt sein Leben. Er hat nur wenige Bekanntschaften, unter denen die zu Michej Andrejewitsch Tarantjew heraussticht, der Oblomows Trägheit und Gutmütigkeit ausnutzt, um ihn regelmäßig um kleinere Geldbeträge zu erleichtern. Der einzige wirkliche Freund, den Oblomow noch aus Kindheitstagen besitzt, ist Andrej Iwanowitsch Stolz, ein deutschstämmiger Russe, der mit seinem stets tätigen und erfolgreichen Wesen als idealisiertes Gegenbild zu Oblomow entworfen ist.

Der Roman setzt zu einem Zeitpunkt ein, als Oblomows Leben einer kleineren Krise ausgesetzt ist: Sein Wirt hat ihm die Wohnung gekündigt, und er müsste sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Und auch finanziell befindet er sich in einer etwas bedrängten Lage, da die Zahlung vom Gut auch in diesem Jahr wieder knapper ausgefallen ist als im Vorjahr. Stolz drängt Oblomow deshalb, sich auf sein Gut zu begeben und dort nach dem Rechten zu schauen, den Verwalter davon zu jagen und sich seiner Angelegenheiten selbst anzunehmen. Anschließend soll er Stolz nach Westeuropa nachreisen und sich dort Weltläufigkeit und Kultur aneignen.

Doch vorerst zieht Oblomow in die Sommerfrische vor die Tore Petersburgs, wo er durch Stolz mit Olga Sergejewna Iljinskaja und deren Tante bekannt gemacht wird. Nach Stolzens Abreise verbringen Olga und Oblomow viel Zeit miteinander und Oblomow weiß sich der Vorzüge der jungen Frau nicht anders zu erwehren, als sich in sie zu verlieben. Ungeschickt und naiv, wie er ist, plaudert er dieses Gefühl denn auch sogleich der Geliebten gegenüber aus, die sich, von diesem unkonventionellen Verehrer und seiner Empfindsamkeit überrumpelt, ebenfalls in ihn verliebt. Nach einigen idyllischen, wenn auch nicht unproblematischen Wochen auf dem Land kehren beide nach Petersburg zurück, wo sich der intensive Umgang der beiden nur aufrecht erhalten ließe, wenn sie sich auch offiziell verloben würden. Doch Oblomow zögert: Er misstraut seinem und ihrem Gefühl, fürchtet, dass sie sich künftig in einem anderen, attraktiveren Mann verlieben werde, kann sich auch nicht entschließen, endlich die Probleme auf seinem Gut selbst in die Hand zu nehmen etc. pp. Von Oblomows Zögern und Zweifeln enttäuscht, löst Olga die Verbindung zu ihm und Oblomow verfällt einer tiefen Depression.

An dieser Stelle müsste der Roman eigentlich zu Ende sein. Doch Gontscharow lässt den ersten drei Teilen des Romans noch einen vierten folgen, der den Stoff auf sehr konventionelle Weise zum Abschluss bringt: Stolz kehrt aus Westeuropa zurück, findet alles über die Liebe Olgas zu Oblomow heraus, heilt ihren Liebeskummer mittels vernünftigem Zureden, heiratet sie und rettet dann Oblomow aus den Fängen Tarantjews und eines Komplizen, die ihn beinahe komplett ruiniert haben. Schließlich wird Oblomows weiterhin träges, untätiges Leben bis zu seinem frühen Tod durch mehrere Schlaganfälle erzählt. Das alles ist nicht schlecht, aber so routiniert und gewöhnlich, wie man es auch in jedem anderen zweit- oder drittklassigen Roman des 19. Jahrhunderts finden kann. Die eigentliche Radikalität des Buches aber liegt in Gontscharows Kritik der romantischen Liebe zwischen Olga und Oblomow, die als Konzept ohne Ziel, als reines Gefühl ohne Lebenspraxis nur kurz in der Isolation der sommerlichen Zweisamkeit existieren kann, über die Länge der Zeit und unter den Anforderungen der Gesellschaft an das Paar aber zum Scheitern verurteilt ist.

Die Neuübersetzung von Vera Bischitzky scheint auch ohne Vergleich mit dem Original wesentlich detaillierter und differenzierter zu sein als etwa die von Clara Brauner aus den 1910er Jahren, die ich bislang kannte. Bischitzky verzichtet wohltuend auf jeglichen Versuch einer sprachlichen Modernisierung des Romans und ihre Anmerkungen beschränken sich auf das Wesentliche. Ein weiterer gelungener Band der Hanser-Klassiker.

Iwan Gontscharow: Oblomow. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 840 Seiten. 34,90 €.