Émile Zola: Germinal

Aber heutzutage erwache der Bergmann in seiner Grube. Es keimte dort unter der Erde wie eine Saat, und eines Tages werde man sehen, wie sie auf dem Felde aufgehe.

zola_rougonMit der  Lektüre von »Germinal« im Jahr 2007 (für eine Übersicht über die Handlung bitte diesem Link folgen) hatte mein Interesse an der Rougon-Macquart begonnen, weshalb ich etwas gezögert habe, ob ich ihn in meinem Durchgang durch den gesamten Zyklus das Buch noch einmal lesen sollte (auch weil der Roman mit etwa 600 Seiten einer der umfangreichsten des Zyklus ist) oder gleich zum 14. Band, »Das Werk«, übergehen sollte. Als eine Art Kompromiss habe ich mich dann entschieden, mir die Verfilmung von Claude Bern aus dem Jahr 1993 anzuschauen, die ich noch nicht kannte. Dann hat mir der Film aber so viel Lust auf das Buch gemacht, dass ich es gleich im Anschluss noch einmal gelesen habe. Und es hat dieser zweiten Lektüre nach nur knapp fünf Jahren sehr gut standgehalten.

»Germinal« schließt in zweifacher Hinsicht an den siebten Band »Der Totschläger« an: Zum einen ist es der zweite Roman des Zyklus, der im Arbeiter-Milieu des Zweiten Kaiserreichs spielt, zum anderen ist der Protagonist Etienne Lantier einer der Söhne der Wäscherin Gervaise Macquart, deren Geschichte »Der Totschläger« erzählt. Die Handlung spielt Mitte der 1860er Jahre im nordfranzösischen Kohlegebiet und umfasst gut ein Jahr. Der ungefähr 23-jährige Etienne, ein arbeitsloser Maschinist auf Wanderschaft, trifft zu Beginn der Erzählung in Montsou ein und bekommt durch einen Zufall Arbeit in der Mine Le Voreux. Wie bereits anlässlich der Erstlektüre gesagt, besteht der Hauptteil der Erzählung aus der Darstellung eines Streiks, der sich über Monate hinzieht und nicht nur zu massiver Verelendung der Streikenden, sondern auch zu erheblichen gewalttätigen Auseinandersetzungen führt.

Zola thematisiert in diesem Roman erstmals explizit die schweren sozialen Verwerfungen, die die Industrialisierung hervorgebracht hat, und er lässt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der Konflikt zwischen den ausgebeuteten und hungernden Massen und der dem Elend dieser Menschen mit Unverständnis gegenüberstehenden Bourgeoisie eine Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung zwangsläufig hervorbringen wird. In diesem Sinne ist auch der Titel zu verstehen: Germinal bezeichnete den Keim-Monat im französischen Revolutionskalender, in dem die Saat für die zukünftige Ernte ausgebracht wurde.

»Germinal« erweitert auch einmal mehr die stofflichen Grenzen des Naturalismus: Sowohl in der Beschreibung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen und des sozialen Elends der Bergarbeiter als auch in der unverblümten Darstellung der Sexualität geht Zola weiter als je zuvor. Das Buch stellt einmal mehr den ungewöhnlichen künstlerischen Mut und das höchste schriftstellerische Vermögen Zolas unter Beweis. Ein weiteres Meisterwerk!

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Die Freude am Leben

»Er wird die Gicht bekommen wie der Vater, und seine Nerven werden noch zerrütteter sein als meine … Sieh doch nur, wie schwach er ist! Das ist das Gesetz der Degenerierung!«

zola_rougonMit »Die Freude am Leben«, dem zwölften Teil der Rougon-Macquart, kehrt Zola in die Provinz zurück: Die Handlung spielt nahezu ausschließlich in einem einzigen Haus des winzigen Fischerdorfes Bonneville in der Normandie. Im Zentrum steht Pauline, die Tochter des Ehepaars Quenu, das wir in »Der Bauch von Paris« als Eigentümer einer Metzgerei kennengelernt hatten. Die Quenus sind beide innerhalb von sechs Monaten verstorben und ihre jüngste, zehnjährige Tochter kommt nun unter die Vormundschaft der Familie Chanteau. Vater Chanteau hat seinen Holzhandel wegen seiner Gicht unvorteilhaft verkauft und sich mit seiner Frau und seinem Sohn Lazare nach Bonneville zurückgezogen, wo die Familie ein bescheidenes Leben von den Zinsen des verbliebenen Vermögens führt. Man nimmt die Waise Pauline auf, und mit ihr übernimmt man auch die Verwaltung ihres nicht unbeträchtlichen Erbes.

Trotz den besten Vorsätzen, das Vermögen Paulines nicht anzugreifen, stellt sich bald die erste Versuchung ein, der nachgegeben wird. Lazare, ein neurasthenischer Salon-Pessimist, wie man ihn in der Literatur des späten 19. Jahrhunderts häufig findet (noch Thomas Buddenbrook ist ein später Nachfahr der Tradition), der nicht recht weiß, was er im Leben anfangen soll und mit wechselnder Begeisterung ein Projekt nach dem anderen beginnt, will eine Fabrik zur chemischen Verwertung von Algen gründen, die in Erwartung großer Gewinne aus Paulines Vermögen vorfinanziert wird. Natürlich erweist sich das Projekt als nicht durchführbar, bzw. Lazare erweist sich als nicht hartnäckig genug, um es zu realisieren. Man trennt sich schließlich mit großen Verlusten von der Fabrik, was der Anfang vom Ende von Paulines Reichtum ist.

Zola verfolgt die Entwicklung der Familie bis einige Jahre in die Volljährigkeit Paulines hinein, wobei ihm aufgrund der bewussten Beschränkung von Personal und Örtlichkeit als handlungstreibende Motive nicht viel mehr als Krankheit, Tod und Naturkatastrophen zur Verfügung stehen. Es stellt sich beim Leser daher rasch ein Eindruck der Wiederholung ein. Hinzu kommt, dass alle Figuren recht eindimensional angelegt sind. Allein der gütigen und liebevollen Pauline wird ein einziger antagonistischer Charakterzug – ihre krankhafte Eifersucht – zugestanden, aber auch das nur, damit sie diese menschliche Schwäche glücklich und verzichtend überwinden kann. Die einzige wirkliche Überraschung liefert der Roman auf den letzten beiden Seiten, alles andere ist mehr oder weniger aus der einmal gewählten Konstellation der Erzählung vorhersehbar.

So kann ich mich nur der allgemeinen Einschätzung anschließen, dass es sich bei »Die Freude am Leben« um einen der schwächeren Romane des Zyklus handelt; derzeit mag ich nicht entscheiden, ob er oder »Ein Blatt Liebe« das Schusslicht bildet.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter

Ich denke, dass der Wandel der Einstellung gegenüber dem Kaufmann der wichtigste Ausgangspunkt für diese psychische wie kulturelle Wende war.

978-3-608-94693-2Es ist immer angenehm, wenn Historiker unumwunden zugeben, dass für eine ausreichende Darstellung der verhandelten Sache keine ausreichende Quellenlage vorhanden ist, so auch für einen bedeutenden Teil des von Jacques Le Goff in diesem Buch abgedeckten Zeitraums. Zumindest während des Früh- und weiten Teilen des Hochmittelalters hat Geld – sowohl Münzgeld als auch Buchgeld – keine bedeutende Rolle gespielt, ja der exzessive Umgang mit Geld wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Abscheu betrachtet. Zinsnahme galt als unchristlich und moralisch verwerflich, wobei wirtschaftlicher Gewinn im neuzeitlichen Sinne überhaupt unter dem Generalverdacht stand, nur eine Form von Wucher zu sein.

Worauf Le Goffs kurze, bis zum 14. Jahrhundert aber wohl dennoch erschöpfende Darstellung der Geschichte des Geldes im Mittelalter wesentlich abzielt, ist der Nachweis, dass sich von einem mittelalterlichen Kapitalismus nicht sprechen lässt. Dazu stellt er im letzten Teil des Buchs ausführliche den Gedanken der Caritas dar, der im Zentrum mittelalterlich-wirtschaftlichen Denkens gestanden hat. Was Le Goffs Buch sehr deutlich werden lässt, ist, dass neuzeitliche Konzeptionen von Ökonomie im Mittelalter höchstens rudimentär vorhanden waren und im gesellschaftlichen Selbstverständnis eine diametral andere Wertung erfahren haben. Vielleicht ist deshalb gerade das Paradigma des Geldes gut geeignet, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gänzlich anders mittelalterliche Menschen sich und die Welt begriffen haben.

Ein knappes, informatives und zuverlässiges Buch, das allerdings gerade in den frühen darstellenden Passagen aufgrund der dünnen Quellenlage etwas sprunghaft wirkt. Man sollte daher etwas Geduld mit ihm haben.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Pappband, 279 Seiten. 22,95 €.

Émile Zola: Paradies der Damen

Mouret hatte nur eine einzige Leidenschaft: sich die Frau zu unterwerfen. Er wollte, daß sie in seinem Hause Herrscherin sei, er hatte ihr diesen Tempel erbaut, um sie dort in seiner Gewalt zu haben. Seine ganze Taktik bestand darin, sie mit galanten Aufmerksamkeiten zu benebeln, einen schimpflichen Handel mit ihren Begierden zu treiben, die Verwirrung ihrer Sinne auszunutzen.

zola_rougonDas »Paradies der Damen«, der elfte Teil der Rougon-Macquart, schließt inhaltlich unmittelbar an den vorherigen Band »Ein feines Haus« an: Octave Mouret, der am Ende von »Ein feines Haus« seine Ambitionen damit gekrönt hatte, dass er durch die Heirat mit Clara Hédouin in den Besitz eines Ladengeschäfts gekommen war, ist nach dem Tod seiner Frau der unumschränkte Herrscher eines wachsenden Kaufhaus-Imperiums. Das Paradies der Damen nimmt zu Beginn des Buches – der Roman spielt Mitte der 1860-er Jahre – bereits mehrere Häuser ein, und Mouret plant schon die nächste Erweiterung, für die ihm nur noch das nötige Kapital fehlt. Eine der Ebenen des Buches wird die stetige Vergrößerung des Kaufhauses sein, das am Ende nicht nur einen kompletten Häuserblock umfassen, sondern auch den traditionellen Kleinhandel im Quartier vernichtet haben wird. Mouret verkörpert für Zola den neuen, kommenden Typus von Kaufmann, der seine Gewinne durch kleine Margen bei gewaltigen Umsätzen erzielt. Zola beschreibt hier die Heraufkunft der modernen Konsumwelt.

Im Zentrum des Romans steht aber nicht Octave Mouret, sondern Denise Baudu, die sprichwörtliche Unschuld vom Lande, die mit ihren beiden jüngeren Brüdern nach dem Tod ihrer Eltern nach Paris kommt, um bei einem Onkel Unterkunft und Arbeit zu finden. Dieser Onkel Baudu ist einer jener altmodischen Kleinhändler, deren Existenz durch Mourets Kaufhaus bedroht wird. Er kann für seine Verwandten auch kaum etwas tun, so dass sich Denise genötigt sieht, eine Stelle beim Konkurrenten Mouret anzutreten. Damit bahnt Zola das erzählerische Rückgrat des Romans an, das eine durch und durch triviale Liebesgeschichte zwischen Denise und Octave bildet. Octave, seit dem Tod seiner Frau wieder zum Lebemann geworden, dessen oberstes Ziel im Leben die Ausbeutung der Frauen durch sein Kaufhaus ist, verliebt sich in Denise, von der er annimmt, sie sei wie all die anderen kleinen Verkäuferinnen seines Ladens leicht und preiswert zu haben. Natürlich bewährt sich Denisens Tugend auf das Beste, sie macht Karriere unter der halb wohlwollenden, halb leidenden Protektion ihres Chefs, wird zum guten Engel der Belegschaft und am Ende so notwendig geheiratet, wie es sich für Schnulzen dieser Art gehört.

Es ist offensichtlich, dass Zola nach den beiden gesellschaftskritischen und scharf satirischen Romanen »Nana« und »Ein feines Haus« ein Gegenstück liefern wollte, das seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Nicht nur macht Zola mit dem »Paradies der Damen« deutlich, dass er nicht fortschrittsfeindlich gesinnt ist und die Notwendigkeiten der Entwicklung anerkennt und ihre Vorzüge begrüßt, sondern er liefert auch en passant den Beweis, dass er durchaus in der Lage ist, eher traditionelle und gemäßigte Romanware zu erzeugen. Wie sooft, wenn das erzählerische Grundgerüst eines seiner Bücher etwas dünn gerät, exzelliert Zola in den Beschreibungen und bei den Nebenfiguren: Das Leben und Treiben im Kaufhaus, die verschiedenen Charaktere des Personals und der Kundschaft, die architektonische Entwicklung des Hauses und nicht zuletzt die Konkurrenten Mourets liefern ein breites Panorama des Pariser Handels jener Jahre. Dabei ist Zola an keiner Stelle blind für die von der Entwicklung hervorgerufenen Härten und Ungerechtigkeiten, doch sein letztes Bekenntnis in der Sache legt er seiner tugendhaften Heldin in den Mund:

Mein Gott, welche Qualen! Weinende Familien, auf die Straße gesetzte Greise, all die ergreifenden Dramen des Untergangs! Und sie konnte niemanden retten, und es war ihr bewußt, daß das alles gut war, daß dieser Dunghaufen von Elend nötig war für das Wohlergehen des künftigen Paris.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Ein feines Haus

»Mein Gott, Mademoiselle, ob die Bruchbude oder eine andere, sie sind sich alle gleich. Wer heutzutage die eine kennengelernt hat, der kennt auch die andere. Alles Schweine und Konsorten.«

zola_rougonDer zehnte Band der Rougon-Macquart, der im Original den Titel »Pot-Bouille« trägt, was in etwa mit »Gemüseeintopf« zu übersetzen wäre. Allerdings hätte der deutsche Titel bei weitem nicht den Reichtum an Konnotationen wie der Originaltitel, so dass bislang alle Übersetzungen eine Alternative gewählt haben. »Ein feines Haus« ist angesichts des Inhalts des Buches eine gute Wahl, besonders auch wegen seines ironischen Potenzials.

Erzählt werden die Ereignisse der Jahre 1862 und 1863 in einem Pariser Mietshaus in der Rue de Choiseul. Erzählanlass ist das Eintreffen Octave Mourets, des ältesten Sohn des Ehepaars François und Marthe Mouret aus »Die Eroberung von Plassans«, der in Marseille eine Ausbildung zum Kaufmann durchlaufen hat und nun nach Paris kommt, um die Stadt zu erobern, wie er selbst sagt. In die Rue de Choiseul kommt er, da die dort lebende Frau Campardon, die Gattin eines Architekten, eine alte Bekannte aus Plassans ist. Doch Octave, der die Verbindung zur Familiengeschichte der Rougon-Macquart bildet, ist nur eine Figur eines ganzen Ensembels, von denen die meisten im Haus leben oder dort regelmäßig aus und ein gehen. Da sind der Hausbesitzer, der zusammen mit Tochter und Schwiegersohn wohnt, zwei weitere Söhne des Hausbesitzers, von denen einer bereits verheiratet ist, die Familie eines Angestellten, dessen Frau sich dringend darum sorgt, ihre beiden heiratsfähigen Töchter an den Mann zu bringen, was ihr wenigstes mit einer gelingt: Berthe heiratet Auguste, den anderen Sohn des Hausbesitzers und Eigentümer eines Stoffgeschäfts. Zu dieser Familie gehört auch Onkel Bachelard, ein reicher Kaufmann, von dem man sich die Mitgift für die Töchter erhofft. Weiter oben im Haus leben noch eine alleinstehende Frau, der der Mann entlaufen ist, und die ärmliche Familie eines kleinen Beamten. Unter dem Dach finden sich die Dienstboten-Quartiere, die eine wichtige Gegenwelt zu den bürgerlichen Haushalten bilden.

Es ist nicht wirklich wichtig, die Handlung dieses Romans in aller Breite nachzuerzählen: Octave hat mehrere Abenteuer, nicht alle von Erfolg gekrönt, aber er wird schließlich mit der frisch verheirateten Berthe in flagranti überrascht, was einen bedeutenden Anteil der Aufregungen des Buches ausmacht. Wesentlicher als die konkrete Handlung ist der beißende satirische Ton, den Zola bei der Beschreibung des Bürgertums anschlägt. Letzten Endes erweist sich unter diesen Menschen alles als Geschäft; sollte jemand tatsächlich einmal wahre Gefühle hegen, so wird er sehr rasch auf den Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgeholt. Ehen sind Geschäftsabschlüsse, in denen es darum geht, dass der Bräutigam eine Mitgift zu erhalten sucht, die die Familie der Braut nach Möglichkeit nicht oder wenigstens nur teilweise auszahlt. Legt Mann sich eine Geliebte zu, so wird er entweder ausgenommen wie eine Weihnachtsgans oder hintergangen oder auch beides. Selbst da, wo sexuelle Verhältnisse nicht pekuniär motiviert sind, sind sie letzten Endes nichts anderes als Ausbeutung. Gefühle sind in dieser bürgerlichen Welt nur eine Schwäche, die einen selbst im besten Falle nur lächerlich erscheinen lassen. Gleichzeitig führen diese einander betrügenden, belügenden und ausnutzenden Bürger ständig die Maximen einer christlichen Moral und hohen Sittlichkeit im Munde.

Als Pendant beschreibt Zola die Sphäre der Dienstboten als eine von Schmutz, Gemeinheit, Promiskuität und Dummheit. Hier ereignen sich wie nebenbei echte Tragödien, so die Geschichte von der Schuhstepperin, die als alleinstehende Frau im Haus lebt und der, da sie schwanger wird, gekündigt wird. Wir erfahren später, dass sie ihr Kind umgebracht hat und dass der Hausbesitzer, der sie in ihrem hochschwangeren Zustand auf die Straße gesetzt hat, nun als Richter ihrem Kindsmords-Prozess vorsitzt. Einen Höhepunkt hat der Roman sicherlich in der Beschreibung der Niederkunft von Adèle, die allein und gänzlich unerfahren unter Qualen eine Tochter gebiert, die sie nach der Geburt aus Desinteresse und Erschöpfung sterben lässt und deren Leiche sie im Morgengrauen beseitigt. Einzig die im zweiten Stockwerk des Hauses lebende Familie eines Schriftstellers bleibt von Zolas Kritik verschont, weil sie mit den übringen Bewohnern des Hauses keinen Umgang hat und daher unbeschrieben bleibt.

»Ein feines Haus« ist ein furioses satirisches Meisterwerk, voll erzählerischer Bosheit und gnadenlos genauer Beobachtungen. Ganz nebenbei werden auch die liberalen bürgerlichen Intellektuellen – in der Person eines Doktors – und die christliche Kirche in die Kritik dieser bürgerlichen Welt mit einbezogen. Der Roman macht den Eindruck, als habe sich Zola mit »Nana« freigeschrieben und schwinge sich hier zu einer neuen Stufe seines literarischen Talents auf. Der Roman stellt auch insoweit eine Zäsur dar, als mit ihm die Mitte des Zyklus der Rougon-Macquart erreicht ist. Es ist nur passend, dass Zola gerade hier seine Überzeugung von einem Bürgetum, das dem Untergang geweiht ist, illustriert. Einer der besten Romane des Zyklus und sicherlich zu Unrecht weniger bekannt als »Nana« oder »Germinal«.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Nana

zola_rougonNach dem doch etwas schwächelnden achten Band der Rougon-Macquart trumpft Zola im neunten Band auf: Mit »Nana« liefert er einen ersten Höhepunkt des Zyklus, der nicht nur als Skandalbuch bereits bei der Auslieferung der ersten Auflage komplett verkauft war, sondern sich bis heute als einer der bekanntesten Romane Zolas durchgesetzt hat. Die Erzählung schließt direkt an »Der Totschläger« an: Nana ist die Tochter des Ehepaars Coupeau, deren Niedergang dieser siebte Band des Zyklus thematisiert hatte. Die Handlung setzt im Jahr 1867 ein; Nana ist – so behauptet es wenigstens der Roman – achtzehn Jahre alt (gemäß der inneren Chronologie der Romane dürfte sie allerdings erst 15 sein, da sie 1852 geboren wurde) und feiert einen Skandalerfolg auf der Bühne des Théâtre des Variétés in einer etwas wirren Parodie auf Offenbachs »Orfeus in der Unterwelt«, allerdings nicht aufgrund ihrer schauspielerischen oder sängerischen Begabung, sondern weil sie als Venus beinahe nackt auf der Bühne erscheint.

Den aus diesem Skandal folgenden Ruhm nutzt sie allerdings vorerst nur für kurze Zeit, denn sie verliebt sich in einen Kollegen, für den sie zeitweilig alle anderen Männer ignoriert und mit dem sie eine gemeinsame Wohnung bezieht. Nachdem allerdings ihr Geld aufgebraucht ist, erweist sich dieser Liebhaber rasch als tyrannischer und meistens schlecht gelaunter Patron, der Nana zudem auch noch betrügt. Als von ihr finanziell nichts mehr weiter zu erwarten ist, setzt er sie von jetzt auf gleich vor die Tür.

Nana kehrt noch einmal kurz und erfolglos auf die Bühne zurück, wo sie sich vergeblich als ernsthafte Schauspielerin in der Rolle der Dame von Welt zu etablieren versucht, vom Publikum aber schlicht ausgelacht wird. Allerdings gelingt es ihr zugleich, sich einen neuen, finanzkräftigen Verehrer zu sichern: Graf Muffat, ein bislang tugendhafter und gut katholischer Spießer verfällt Nana komplett:

Jeder Kampf in ihm hatte aufgehört. Eine Woge von neuem Leben ertränkte seine Vorstellungen und seine Glaubenssätze von vierzig Jahren. Während er die Boulevards entlangging, dröhnte ihm beim Rollen der letzten Wagen Nanas Name in den Ohren, ließen die Gaslampen nackte Stellen, die geschmeidigen Arme und die weißen Schultern Nanas, vor seinen Augen tanzen; und er fühlte, daß er ihr verfallen war; er hätte alles verleugnet, alles verkauft, um sie noch an diesem Abend eine Stunde lang zu besitzen. Seine Jugend war es, die endlich erwachte, eine gierige jünglinghafte Pubertät, die plötzlich in seiner Kälte eines Katholiken und in seiner Würde eines reifen Mannes brannte.

Mit dem Vermögen des Grafen und einiger anderer Männer tritt Nana nun ihren gesellschaftlichen Siegeszug an: Dem Stand nach immer noch eine Prostituierte wird sie innerhalb weniger Monate durch eine maßlose Verschwendung zum Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft. Als schließlich auch noch ein auf ihren Namen getauftes Pferd unerwartet den Großen Preis von Paris gewinnt, steigt sie zu einer bis dahin unbekannten Prominenz auf. Sie betrügt nun den Grafen in aller Offenheit, nimmt ihn und seine Nebenbuhler systematisch aus, wobei ihr das Geld von einem Augenblick zum anderen zwischen den Fingern verrinnt – so ist sie in einer Sequenz nicht in der Lage, einem Bäcker seine Rechnung über 133 Francs zu bezahlen, obwohl sie gleichzeitig zehntausende für ein neues Bett ausgibt – und treibt ihr Spiel aus Gier und Langeweile am Ende soweit, dass sie nicht nur mehrere der ihr zu Füßen liegenden Herren komplett ruiniert hat, sondern von dem ihr hörigen Grafen auch noch beim Geschlechtsakt mit seinem Schwiegervater, einem musterhaften Adeligen alter Schule, überrascht wird.

Gleich jenen antiken Ungeheuern, deren gefürchteter Bereich mit Gebeinen bedeckt war, setzte sie die Füße auf Schädel; und Katastrophen umgaben sie: der wilde Flammentod Vandeuvres, die Schwermut Foucarmonts, der in den Meeren Chinas umherirrte, der völlige Bankrott Steiners, der gezwungen war, als ehrbarer Mensch zu leben, der befriedigte Schwachsinn La Faloises, der tragische Zusammenbruch der Muffats und der weiße Leichnam Georges, an dem Philippe, der gestern aus dem Gefängnis gekommen war, Wache hielt. Ihr Zerstörungs- und Todeswerk war vollbracht; die vom Unrat der Vorstädte aufgeflogene Fliege, die den Gärungsstoff der gesellschaftlichen Fäulnis mit sich führte, hatte alle diese Männer durch ihre bloße Berührung vergiftet. Das war gut, das war gerecht; sie hatte ihre Welt, die Bettler und die Verlassenen, gerächt. Und während ihr Geschlecht in einem Glorienschein emporstieg und gleich einer aufgehenden Sonne, die die Stätte eines Blutbades bescheint, über seinen hingestreckten Opfern strahlte, bewahrte sie, stets gutmütig, ihre Ahnungslosigkeit eines prächtigen Tieres, das nichts von dem weiß, was es angerichtet hat. Sie blieb dick, sie blieb fett, bei guter Gesundheit und strahlender Heiterkeit. Das alles zählte nicht mehr, ihr Haus erschien ihr blöde, zu klein und voller Möbel, die sie behinderten. Eine Erbärmlichkeit, gerade gut genug für den Anfang. So träumte sie denn auch von etwas Besserem; und sie brach in großer Toilette auf, um Satin ein letztes Mal zu küssen, sauber, kräftig, ganz frisch aussehend, als sei sie völlig unverbraucht.

Doch ist dies der letzte Höhepunkt vor dem Untergang. Nana verkauft all ihren Besitz und verschwindet aus Paris, nur um im Juli 1870, am Fuß des deutsch-französischen Krieges zurückzukehren, sich bei ihrem in Paris zurückgebliebenen Kind mit Blattern anzustecken und binnen Kurzem das Zeitliche zu segnen. Mit ihrem Tod geht auch das Zweite Kaiserreich seinem Ende entgegen: Während Nana in einem Hotelzimmer umgeben von ihren alten Kolleginnen mit dem Tod kämpft, erschallen unten auf der Straße die Rufe »Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Ohne jede Einschränkung ist dieser bitterböse Gesellschaftsroman ein Meisterstück zu nennen. Er verfügt trotz seiner beinahe 500 Seiten über ein furioses Tempo, ist von einer brillanten Konstruktion und einer bis dahin wohl unerreichten Wahrhaftigkeit in der Darstellung der gutbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Es ist daher kein Wunder, dass selbst Gustave Flaubert, der alles andere als leicht zu beeindrucken war, diesen Roman in den höchsten Tönen gelobt hat. Oder um es mit Lichtenberg zu sagen: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Ein Blatt Liebe

zola_rougonDer bislang schwächste Band im Zyklus der Rougon-Macquart. Erzählt wird eine sehr konventionelle Ehebruchsgeschichte aus der Sicht der Geliebten: Hélène Grandjean – Tochter Ursule Mourets und Enkelin Adelaïde Fouques – ist als verwitwete Mutter einer 11-jährigen, kränklichen Tochter von Marseilles nach Passy, einem Pariser Vorort, gezogen. Hier baut sie sich nach dem Ende ihrer Trauerzeit langsam einen neuen Bekanntenkreis auf, zu dem auch der in unmittelbarer Nachbarschaft lebende Arzt Henri Deberle und dessen Frau gehören, in deren Garten Hélène mit ihrer Tochter Jeanne viel Zeit verbringt. Zwischen Hélène und Henri entwickelt sich ein unausgesprochenes Liebesverhältnis, um dessentwillen Hélène auch den Heiratsantrag eines anderen Bekannten, Rambaud, vorerst ablehnt. Erst als Hélène erfährt, dass auch Henris Frau eine Affäre hat oder wenigstens kurz davor ist, eine zu beginnen, gibt sie ihrer Leidenschaft nach und beginnt mit Henri ein Verhältnis. Naturgemäß muss aber gerade an diesem Abend ein heftiges Gewitter über Passy niedergehen, das die kleine Jeanne am offenen Fenster überrascht und so durchnässt und schwächt, dass sie binnen Kurzem an der Schwindsucht dahinsicht. Der Tod ihrer Tochter, dem auch Henri nur hilflos zusehen kann, beendet das Verhältnis zwischen den Liebenden. Am Ende zeigt uns der Roman Hélène als um ihre Tochter trauernde Gattin des braven und biederen Rambaud, mit dem zusammen sie inzwischen wieder in Marseilles lebt.

Nahezu alles an diesem Roman ist voraussehbar und banal. Zolas Beschreibungskunst exzelliert einzig in fünf breit angelegten Darstellungen des Pariser Panoramas zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei unterschiedlicher Witterung. Zola selbst war mit dem Roman nicht sonderlich zufrieden, hielt die Behandlung dieses Allerweltsthemas aber wohl für unverzichtbar für ein vollständiges Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Der Totschläger

zola_rougonDer siebte Band der Rougon-Macquart. Nachdem Zola in Seine Exzellenz Eugène Rougon die Kreise der Pariser Hochpolitik dargestellt hat, wendet er sich im Nachfolgeband dem Arbeitermilieu zu. Im Zentrum des Romans steht Gervaise Macquart, eine der beiden Töchter Antoine Macquarts, die bereits als junges Mädchen Plassans zusammen mit Jacques Lantier verlassen hatte. Der Roman beginnt, als Gervais von Lantier, von dem sie zwei Kinder hat und mit einem dritten schwanger ist, verlassen wird. Lantier ist ein Säufer und Schmarotzer, und als Gervais und ihm die Mittel auszugehen drohen, orientiert er sich anderweitig. Gervais nimmt sich diese Trennung nicht zu sehr zu Herzen, obwohl sie Lantier noch liebt, sondern fängt an, sich und ihre Kinder durch harte Arbeit zu ernähren. Sehr bald bekommt sie einen Heiratsantrag ihres Nachbarn Coupeau, den sie nach einigem Zögern annimmt.

Coupeau erscheint zuerst als Mustergatte: Im Gegensatz zu Lantier trinkt er nicht, er bringt seinen Lohn brav nach Hause, ist genau wie seine Frau spar- und strebsam, so dass die beiden, die auch eine gemeinsame Tochter – Nana – bekommen, bald daran denken können, dass sich Gervais mit einer Wäscherei selbstständig macht. Doch Coupeau erleidet einen Arbeitsunfall, der ihn monatelang arbeitsunfähig macht. Der Verdienstausfall und die Arztkosten verzehren das angesparte Kapital, so dass Gervais den Plan mit der Wäscherei schon verloren gibt, als sich die Goujets, Nachbarn und ein Muster an Wohlanständigkeit, deren Sohn zudem auch noch in Gervais verliebt ist, bereit erklären, ihr das nötige Startkapital zu leihen.

Gervais’ Traum von einer kleinbürgerlichen Zukunft scheint damit gerettet. Es macht ihr auch nichts aus, dass ihr Ehemann nach seiner Gesundung nicht nach Arbeit sucht, sondern sich an das süße Nichtstun gewöhnt zu haben scheint. Im Gegensatz zu früher beginnt er nun auch, regelmäßig zu trinken, zwar erst nur Wein, mit der Zeit aber auch immer stärker Sachen. Die Lage spitzt sich weiter zu, als auch Lantier wieder auftaucht: Entgegen anfänglicher Befürchtungen von Gervais, ihr eifersüchtiger Ehemann könne einen Skandal heraufbeschwören, verstehen sich die beiden Männer beinahe auf Anhieb, und Lantier mietet sich bei den Coupeaus ein, versteht sich mit dem Ehemann aufs Beste und wird ein Schmarotzer mehr im Haushalt, ja schließlich sogar wieder Gervais’ Liebhaber.

Natürlich hält der Verdienst der kleinen Wäscherei Gervais’ zwei solche Schmarotzer schlecht aus, und da auch Gervais dazu neigt, es sich gut gehen zu lassen, leidet die Familie unter ständiger Geldnot. Der soziale Abstieg ist unvermeidlich; Gervais muss, als sie die Miete nicht mehr zahlen kann, den Laden aufgeben, Lantier wechselt gleich mit zu den neuen Ladenbesitzern, und Gervais und ihr Ehemann geraten in eine Spirale der Verarmung, aus dem sie sich nicht zu befreien verstehen. Als schließlich auch Gervais anfängt zu trinken, ist es mit der Familie endgültig aus: Nana wird Prostituierte, Coupeau verendet im Delirium und schließlich geht Gervais an Hunger und Kälte zugrunde.

Der Totschläger hat seinen Titel von einer Bezeichnung billiger Kneipen, die im Pariser Argot des 19. Jahrhunderts »Assommoir« genannt wurden; Totschläger ist als Übersetzung vielleicht etwas drastisch, trifft aber die Intention Zolas bei der Titelgebung. Der Totschläger ist der erste Roman der Rougon-Macquart, bei dem sich Zola genötigt sah, ihn durch ein Vorwort in Schutz zu nehmen. Schon auf den Zeitungs-Vorabdruck hatte die Kritik mit Vorwürfen reagiert, der Roman verwende eine zu drastische Sprache und schildere Szenen, die so nicht literarturfähig seien. Zola wendet dagegen ein, dass er sorgfältig die Sprache des Volkes gesammelt habe und dass das von ihm geschilderte Elend so tatsächlich vorhanden sei. Bereits die zeitgenössische Kritik hat aber festgestellt, dass Der Totschläger bei allem Realismus doch weit entfernt von sozialer Kritik bleibt. Sicherlich schildert Zola unmenschliche soziale Verhältnisse, aber seine Figuren bleiben im Wesentlichen Opfer ihrer selbst. Es sind nicht gesellschaftliche Verhältnisse, die sie scheitern lassen, sondern Zufälle und die Unzulänglichkeiten ihrer Charaktere. Diese Einschränkung der Perspektive wird erst in Zolas späteren Romanen aufgehoben werden.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Ausgelöst durch die Lektüre von Yann Martels Beatrice and Virgil habe ich mir noch einmal Flauberts Drei Erzählungen aus dem Schrank genommen, diesmal in der relativ neuen Übersetzung des Haffmans-Verlages, Gott habe ihn selig. Die drei Erzählungen repräsentieren jeweils einen Aspekt von Flauberts Romanschaffen: Ein schlichtes Gemüt seine realistischen Romane, in Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen spiegelt sich Die Versuchung des heiligen Antonius wider und Herodias schließlich ist ein Gegenstück zu Salambo, das ich auch wieder einmal lesen müsste.

Ein schlichtes Gemüt ist eine meisterhafte Erzählung, die auf weniger als 50 Seiten ein ganzes Leben umfasst: Félicité wird Hausangestellte bei der verwitweten Madame Aubain, nachdem sie wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte von daheim fortgelaufen ist. Sie geht ganz und gar im Dienst für die Familie ihrer Herrin auf; einzig ihr Neffe Victor liegt ihr noch am Herzen, aber der stirbt jung als Seemann auf einer Fahrt nach Amerika. Tiefer jedoch trifft sie der Tod von Virginie, der Tochter des Hauses, die als Klosterschülerin an einer Lungenentzündung stirbt; Félicité beginnt einen heimlichen Totenkult um die Verstorbene. Doch ihre Liebe erfüllt sich schließlich, als sie von ihrer Herrin einen Papagei geschenkt bekommt, den diese von einer Nachbarin erhalten hatte. Loulou bleibt Félicité auch nach seinem Tod treu, nachdem sie ihn  hat ausstopfen lassen. Mehr und mehr gerät er ihr zu einer Personifizierung des Heiligen Geistes, ja es gelingt ihr schließlich, ihn auf einem von ihr geschmückten Fronleichnamsaltar zu platzieren und ihn auf diese Weise mit Zustimmung des Pfarrers ganz und gar zu einer religiösen Ikone zu machen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe und erzählerischen Ökonomie Flaubert auf den wenigen Seiten der Erzählung ein ganzes Leben umspannt. Jegliche Sentimentalität ist dem Erzähler fremd; er bleibt auch hier ein Gott hinter den Kulissen:

Der Künstler muß in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.

an Mlle Leroyer de Chantepie, 18.3.1857

Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen ist inhaltlich eine traditionelle Heiligenlegende, die angeblich durch die Darstellung der Legende in einem Kirchenfenster von Rouen inspiriert wurde. Julien wird unter Prophezeiungen geboren: Während der Schwangerschaft wird seiner Mutter seine Bestimmung zum Heiligen vorausgesagt, dem Vater am Tag der Geburt seine Karriere als großer Kriegsmann und Angehöriger einer kaiserlichen Familie. Julien wächst auf als ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermessliche Anzahl von Tieren, die er alle tötet, um am Ende vom letzten Hirschen verflucht zu werden, er werde seine beiden Eltern ermorden. Von dieser Prophezeiung verschreckt und im Glauben tatsächlich seine Mutter aus Versehen getötet zu haben, flieht Julien, wird wie vorausgesagt ein gesuchter Krieger und heiratet schließlich in eine kaiserliche Familie ein. Natürlich muss sich auch noch die andere Prophezeiung erfüllen, und Julien tötet in einem Anfall von Eifersucht seine Eltern, die er für seine Frau und einen Liebhaber hält. Wie zu erwarten wendet er sich nun ab vom weltlichen Wohlleben und wird Fährmann an einem Fluss, lebt in Armut und im Dienst an seinem Mitmenschen. Erlöst wird er am Ende durch Jesus selbst, der ihm in Gestalt eines Aussätzigen erscheint und von ihm nicht nur Gastfreundschaft, sondern Dienst und Demut weit darüber hinaus erbittet. Bei der Geschichte handelt es sich offenbar um eine erzählerische Handübung; Flaubert spricht selbst davon, er habe die Drei Erzählungen als »Buch des Ausruhens« geschrieben.

Herodias erzählt in einiger Ausführlichkeit die Fabel vom Tod Johannes des Täufers, wie sie ihn  den Evangelien des Matthäus und des Markus zu finden ist. Die Perspektive ist dabei die des Herodes Antipas, der sich eingezwängt sieht zwischen den Machtansprüchen der Römer, den Drohungen des Araber, den Vorurteilen der Juden und dem Versuch, die Liebe seiner Frau Herodias zurückzugewinnen. Höhepunkte der Erzählung ist sicherlich die große Strafpredigt des Johannes, die unmittelbarer Auslöser seiner Hinrichtung wird, da er in ihr öffentlich sowohl Herodes als auch Herodias bloßstellt, und die Hinrichtung des Johannes, die zwar hinter den Kulissen bleibt, deren Umstände aber ein letztes Mal die Bedeutung Johannes des Täufers bestätigen. Auch in diesem Fall sollte man nur ein artistisches Interesse Flauberts am Stoff voraussetzen und nicht annehmen, dass es ihm um die eine oder andere Botschaft gegangen sei.

Die Drei Erzählungen waren ein bedeutender Erfolg bei Kollegen und Kritikern, brachten aber nicht die von Flaubert erhofften Einkünfte. Zwar hatte er die Erzählungen vorab zu sehr guten Zeilenhonoraren zwei Zeitungen verkaufen können, aber die Buchausgabe blieb hinter seinen Erwartungen zurück. So war das Buch, das eine kleine artistische Werkschau ist, in Flauberts Einschätzung ein Misserfolg.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Französischen von Claus Sprick und Cornelia Hasting. Zürich: Haffmans, 2000. Leinenrücken, Dünndruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 140 Seiten.

Jules Verne: Die Eissphinx

Verne-Eissphinx Gleich im Anschluss an den »Arthur Gordon Pym« Edgar Allan Poes habe ich auch Jules Vernes sogenannte Fortsetzung, »Die Eissphinx«, noch einmal gelesen und das, obwohl ich an die erste Lektüre alles andere als gute Erinnerungen hatte. Das hat sich denn auch bestätigt. Es handelt sich um einen zweibändigen, über weite Strecken überaus langweiligen Roman. Erzählt wird von einer Antarktis-Expedition, die der Bruder des Kapitäns der Jane aus Poes »Pym« unternimmt, um eben den verschollenen Bruder und mögliche weitere Überlebende zu retten. Erzähler ist ein amerikanischer Geologe namens Jeorling, den es eher zufällig auf das Schiff des Kapitäns Len Guy verschlägt und der diesen zuerst für verrückt hält, da der den »Pym« als einen Tatsachenbericht und nicht als einen Roman liest.

Es ist unnötig die überaus ausführlichen Umstände der Reise nach Tsalal, zum Pol und darüber hinaus nachzuerzählen. Über viele Seiten geschieht spannenderweise gar nichts, was dann aber sicherlich nochmal irgendwo wiederholt wird, um auch ja nichts auszulassen. Die titelgebende Eissphinx kommt zwar am Ende doch noch vor, ist aber ein kompletter McGuffin, dessen Geheimnisse spätere Expeditionen werden lüften müssen.

Das Buch ist ein typisches Produkt des Schnell- und Vielschreibers Verne, der die Niederschrift mit vagen und halbfertigen Ideen beginnt, und, wenn ihm dann im Prozess der Niederschrift die Einfälle ausbleiben, das Geschriebene solange wiederholt und variiert, bis ihm dann doch schließlich ein neuer Gedanke in den Schoß fällt. Das Ergebnis ist ein planloses, redundantes und seitenschindendes Hin- und Herfahren seines Helden, das schließlich darin gipfelt, dass er ankommt, wo er ankommen muss, und dort gar nichts Interessantes vorfindet, was aber auch wieder ausführlich beschrieben wird.

Die anonyme Übersetzung, die 1898 bei Hartleben erschienen ist, ist höchst mäßig und offensichtlich ohne jegliche Ambitionen erstellt worden. Hinzukommt, dass die von mir benutzte elektronische Ausgabe des Textes zahlreiche schwere Scannfehler aufweist, die die Lektüre hier und da doch deutlich stören.

Jules Verne: Die Eissphinx. Wien, Pest, Leipzig: Hartleben, 1898. In: Ders.: Bekannte und unbekannte Welten. Das erzählerische Werk. Hg. v. Wolfgang Thadewald. Digitale Bibliothek Bd. 105. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2004. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.2; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.