George Sand: Nanon

ein gutes und schlichtes Herz

Das erste Buch, das ich von George Sand lese, und auch diesmal nicht um der Autorin, sondern der Übersetzerin willen. Der Eindruck, den es gemacht hat, ist zwiespältig:

Einerseits kann man Sand nur in ihrer Selbsteinschätzung zustimmen: „Ich schreibe leicht und gern.“ Das Buch ist offenbar rasch und ohne großen Anspruch auf formale Kunstfertigkeit geschrieben, sprich: Es handelt sich im Grunde um anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur, wie sie in jedem Zeitalter verfasst und mehr oder weniger rasch vergessen wird. Die sprachliche Qualität des Originals kann ich nicht wirklich beurteilen; allerdings nehme ich an, dass die grammatikalischen und stilistischen Ecken und Kanten des deutschen Textes von der Autorin beabsichtigt und von der Übersetzerin getreulich übertragen wurden. Das allein ist schon kein kleiner stilistischer Aufwand.

Andererseits enthält der Roman Passagen, die einen ernsthaften Versuch einer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und ihren Folgen darstellen, wie auch immer man sich zur Darstellung und der Figurenrede stellen möchte. Die Meinungen, die aufeinanderprallen, bleiben im Grunde naiv, aber sie sind den Figuren und ihrer sozialen und politischen Stellung angepasst, und so kann man sie gelten lassen. Und natürlich ist Nanon eine auch 1872 noch außergewöhnliche Protagonistin, wenn ihr ihr Schicksal auch ein bisschen zu sehr von der Autorin zurechtgeschrieben wurde.

Erzählt wird die Geschichte als Ich-Erzählung der Bäuerin Nanon, 1775 geboren, bald Waise, die bei einem Großonkel aufwächst und nun im Jahr 1850 auf ihr Leben zwischen 1789 und 1795 zurückblickt. Sie ist inzwischen reich und lebenssatt, Mutter und Großmutter, trägt den Titel einer Marquise – „Ich bleibe Bäuerin. Auch ich habe meinen Standesstolz!“ (S. 344) –, kommt mit ihren Freunden und Verwandten sowohl des ersten als auch des dritten Standes aus und ist überhaupt die ideale Mutter der Nation. Wie das alles gegen jede Wahrscheinlichkeit gekommen ist, kann man getrost selbst nachlesen; die Fabel ist so gut oder schlecht erfunden, wie jede beliebige von Dumas oder Sue.

Am meisten leidet der Roman aus heutiger Sicht wohl unter der fast vollständigen inneren Konfliktlosigkeit der Protagonistin, die ebenso gut wie langweilig bleibt. Natürlich ist sie – wie die meisten Protagonisten des 19. Jahrhunderts – wesentlich Verkörperung eines Ideals; der einzige Zweifel, den sie hegt, entspringt aus ihrer demütigen Selbsteinschätzung, dass sie nicht gut genug ist für den Mann, den sie liebt, wodurch sie natürlich gerade geadelt wird. Tritt man also einen Schritt zurück, so ist das alles recht schematisch und an keiner Stelle wagt die Autorin einen echten Konflikt mit der Vorurteilen ihrer Zeit: „Wenn Émilien mein Gatte ist, wird er auch mein Gebieter, und ich gehorche ihm gern.“ (S. 343) Wenn das wenigstens als ironisch markiert wäre, aber so wäre es besser fortgelassen worden, denn die Lücke ersetzte die Plattitüde mehr als vollständig.

Ich hatte es schon gesagt: „zwiespältig“ – eine historisch interessante Lektüre, sowohl was die Französischen Revolution als auch was die Literargeschichte angeht. Dennoch sollte man nicht zu viel Außergewöhnliches oder wirklich Originelles erwarten, aber auch keine Abenteuerscharteke à la Dumas – hier weiß die Autorin das Schlimmste gerade noch zu verhindern.

George Sand: Nanon. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2025. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 495 Seiten. 38,– €.

José Maria Eça de Queirós: Die Maias

Es lebe der schöne Satz!

Zu Eça de Queirós existiert eine literarhistorische Anekdote, die ein Licht auch auf den hier besprochenen Roman wirft: Als 1988 Hans Magnus Enzensberger zwei Romane des Portugiesen in der Anderen Bibliothek herausgab („Treulose Romane“, Nördlingen: Franz Greno, 1988) verzichtete er bei „Basilio“ (O Primo Basilio, 1878) darauf, die vollständige Übersetzung durch Rudolf Krügel (1957) wieder abzudrucken, sondern griff auf die stark gekürzte Übersetzung von Helmut Hilzheimers (1956) zurück und rechtfertigte diese Wahl unter Rückgriff auf die harsche Kritik des Romans durch den Autor selbst. Wenn man das einmal im Kopf hat, fällt es schwer, sich nicht ein ähnliches Vorgehen für „Die Maias“ zu wünschen.

„Die Maias“ (1888) gilt heute als Eça de Queirós’ Hauptwerk und brachte ihm zumindest in der deutschen Literarhistorie den Ruf ein, der portugiesische Thomas Mann zu sein. Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte Carlos de Maias, des Spätlings einer alten portugiesischen Adelsfamilie, der sich, nachdem seine Mutter mit einem Italiener wegläuft und sich sein Vater daraufhin selbst tötet, in jungen Jahren entschließt, ein eher bürgerliches Leben zu führen, und deshalb Medizin studiert und sich nach der unter Adeligen üblichen Europareise 1875 als praktischer Arzt in Lissabon niederlässt. Er bezieht zusammen mit seinem Großvater, bei dem er nach dem Tod des Vaters aufgewachsen ist, ein herrschaftliches Stadthaus, und obwohl er „wirklich die ernste Absicht zu arbeiten“ hat, versumpft er sehr bald im Müßiggang. Die einzige ernsthafte Beziehung, die er hat, ist die zu seinem Jugendfreund João da Ega, einem zwar begabten, aber immer nur dilettierenden Schriftsteller. Der Autor möchte dieses Freundespaar als eine Variante des Paares Faust und Mephisto verstanden wissen, was aber angesichts der Fabel des Romans nur eher eine vage Parallele bleibt. Dennoch muss man wohl feststellen, dass die Beziehung dieser beiden Männer das eigentliche Zentrum des Romans bildet, wenn sich das Buch auch gern als Familien-, Liebes-, Gesellschafts- und erotischer Roman ausgeben möchte.

Dem Müßiggang überlassen folgt Carlos nach einigem Widerstand dann doch dem Vorbild Egas und beginnt eine Affäre mit einer verheirateten Frau, nur um ihrer, wie er erwartet hatte, nach kurzer Zeit überdrüssig zu werden. Nahezu gleichzeitig begegnet er einer anderen Frau, die ihn auf den ersten Blick tief fasziniert. Die Männerwelt Lissabons (also eigentlich nur Carlos, Ega und ein weiterer Mann) vermutet in ihr eine verheiratete Brasilianerin, was sich aber als komplett falsch erweist. Als der vermutete Ehemann in Geschäften für Monate nach Brasilien reist und Frau und Tochter in Lissabon zurücklässt, kommt es rasch zu einer Bekanntschaft zwischen Carlos und Maria, die ihn zuerst in seiner Funktion als Arzt in ihr Haus bittet. Es stellt sich heraus, dass Maria nur die Geliebte des Brasilianers ist, ihre Tochter einen anderen zum Vater hat, der Maria aber auch nicht geheiratet hatte, bevor er im Krieg von 1870/71 auf französischer Seite gefallen ist. So scheint nichts einem glücklichen Leben im Wege zu stehen, und Carlos verzichtet nur aus Rücksicht auf das Standesbewusstsein seines Großvaters auf eine sofortige Heirat.

Natürlich muss diese vollkommene Liebe – „Alles an ihr war stimmig, gesund, vollkommen … Und wie köstlich musste bei dieser äußeren Erhabenheit erst die Glut ihrer Leidenschaft sein!“ – scheitern: Eine wie zufällig in Lissabon auftauchende Randfigur unterrichtet Ega von der den beiden Liebenden (aber leider nicht dem aufmerksamen Leser) unbekannten Tatsache, dass Carlos und Maria Geschwister sind. Die ganz große Tragödie bleibt zwar aus – wie überhaupt immer wieder bedeutende Skandale sorgfältig vorbereitet und dann im entscheidenden Moment gerade noch abgewendet werden –, aber Carlos’ Großvater stirbt über der Enthüllung an einem Schlaganfall, Carlos begibt sich auf eine Weltreise, Maria wird von ihm nach Frankreich geschickt, wo sie spät eine vernünftige und friedliche Ehe findet. Nach zehn Jahren kehrt Carlos für einige Zeit nach Lissabon zurück, und auf der letzten Seite versucht er mit Ega noch die letzte Straßenbahn zu erreichen, die ihnen vor der Nase weggefahren ist.

In all das eingeflochten finden sich diverse Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben Lissabons, nicht ohne Witz und hier und da auch ironische Schärfe, aber nicht gehaltvoll genug, um diesen Roman von über 800 Seiten tatsächlich zu tragen. Als Leser des 20. Jahrhunderts hat man das alles schon sehr bald verstanden, versteht auch die erste und zweite Wiederholung des gesellschaftlichen Leerlaufs, aber dann wird das Ganze doch zu langatmig. Sicherlich quält der Autor uns mit den endlosen Wiederholungen, weil sie eben ihn und seinen Protagonisten endlos quälten, aber soweit geht die Sympathie denn doch nicht, dass man das wirklich mit ihnen durchleben möchte. Nicht dass das Buch komplett ohne Witz wäre:

Das unerträgliche am Realismus [gemeint sind hier die Romane Zolas] seien sein wissenschaftliches Gehabe, seine prätentiöse, sich von einer fremden Philosophie ableitende Ästhetik und die Berufung auf Claude Bernard, den Experimentalismus, den Positivismus, auf Stuart Mill und Darwin, wenn es um eine Wäscherin ging, die mit einem Schreiner schlief!

S. 202

Nur sind solche Stellen, die, wie ich gern zugebe, für manches entschädigen, leider viel zu selten.

José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. München: Hanser, 2024. Leinenband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 944 Seiten. 44,– €.

Wilhelm Raabe: Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten

… ich bilde mir ein, ein großer deutscher Humorist zu sein.

Arno Schmidt

Es findet alles sein Ende in der Welt. Jede Zeit hat ihr eigenes Pläsier und kümmert sich wenig um das der vorhergegangenen.

Was für ein ganz und gar wundervolles kleines Buch! Heute darf man knapp 180 Seiten Text schlechtweg einen Roman heißen, damals war es noch nur eine Erzählung, aber sie ist so dicht geraten („hätte ich dieses Buch, wie man es nennt – gemacht“ (S. 145)), dass andere Autoren daraus 800 Seiten und mehr erkünstelt hätten. Und obwohl es so kurz ist, ist es gar nicht so einfach zu sagen, worum es denn eigentlich geht. Denn es geht, in bester Manier des 19. Jahrhunderts, um Liebe und Tod, ums Altern der Menschen und das Jungbleiben der Welt, darum dass jede Generation seit Adam und Eva den Garten verliert, in den sie hineingeboren wird, dass die neuen Möglichkeiten der Zeit und ganz neue Gefahren Hand in Hand gehen und schließlich darum, dass es keine kleine Kunst ist, sich in sein Glück zu finden, wenn es sich einem denn anbietet; und ganz am Rande geht es auch noch um Kolonialismus und Rassismus und noch um einiges mehr.

Erzählt wird das Ganze von einem nicht sonderlich erfolgreichen Schriftsteller, dem Baron Emil von Schmidt („Es kann schließlich nich Jeder Schmidt heißn.“ Arno Schmidt [BA I/3, 403]), der den titelgebenden Meister Autor Kunemund bei einer Waldführung in der Gegend um Kneitlingen, dem Geburtsort Till Eulenspiegels, kennenlernt. Kunemund lebt in einem Forsthaus zusammen mit dem Förster Arend Tofote, dessen Töchterchen Gertrud und einer Haushälterin. Der Erzähler fasst sofort eine große Sympathie für den von Schnitzereien lebenden Kunemund und besucht den Haushalt der Tofotes nach dem ersten Kennenlernen jährlich, bis Gertrud eines Tages eine überraschende Erbschaft macht. Kunemunds jüngerer Bruder ist von seinen Weltreisen offenbar als reicher Mann und in Begleitung eines schwarzen Dieners zurückgekehrt und hat in der nahegelegenen Stadt ein Haus erworben, die Leute im Försterhaus aber nur ein einziges Mal besucht. Nach seinem Tod weist es sich, dass er Trude als seine Alleinerbin eingesetzt hat, die unter anderem eben auch das Rokokohaus und den zugehörigen Garten des Verstorbenen erbt. Der Erzähler ist Zeuge beim Einzug Gertrudes in ihren neue Besitz, der allerdings schon zu diesem Zeitpunkt zum Untergang verdammt ist, da die Planung zur Erweiterung der Stadt hier den Bau einer neuen Straße vorsieht.

Nach diesen Ereignissen verliert der Erzähler seine Bekannten für einige Jahre aus den Augen, bis ein Eisenbahnunglück auf der Strecke, auf der auch der von ihm benutzte Zug unterwegs ist, ihn zwingt, seine rasche Fahrt zu unterbrechen und unerwartet zu Fuß die Landschaft zu durchqueren. Bei dieser Gelegenheit trifft er nicht nur zufällig den Meister Autor wieder, sondern erfährt auch von den neuen Verhältnissen, in denen sich seine ehemaligen Bekannten inzwischen befinden: Kunemund lebt für sich allein wieder in seinem Elternhaus, der Förster Tofote ist verstorben, die reiche Gertrud wohnt in der Stadt und verkehrt in der sogenannten besseren Gesellschaft und der schwarze Diener des Mynheer van Kunemund ist in ihrem Haushalt beschäftigt. Am dramatischsten aber gerät das Schicksal des ehemaligen Leichtmatrosen, jetzigen Steuermanns Karl Schaake ausgefallen, der ganz am Ende des ersten Teils plötzlich aufgetaucht war, ein Jugendfreund Gertrudes und offenbar unglücklich in sie verliebt. Karl aber saß in dem verunglückten Zug und ihm wurden beim Unglück beide Füße gebrochen; nun liegt er bei seiner Tante zur Pflege, aber das Wundfieber wird immer schlimmer und schließlich erliegt er, beinahe in Anwesenheit der gesamten versammelten Buchgesellschaft, seinen Verletzungen. Obwohl damit der Tod in die Verhältnisse eingetreten ist, nimmt das Buch ein gutes Ende, wenn auch nur, wenn man nicht so ganz genau hinschaut.

Es fehlen an der Leiter, die in den Brunnen hinunterreichen soll, immer einige Sprossen.

S. 97

Dieses Buch unterläuft so konsequent die Erwartungen einer Leserin oder eines Lesers des 19. Jahrhunderts, dass es kein Wunder ist, dass es in seinem Reichtum, seiner Dichte und Tiefe erst im 20. Jahrhundert richtig wahrgenommen worden ist. Noch einmal: ein ganz und gar wundervolles kleines Buch! Wer wissen will, was Raabe konnte, greife zu diesem Band.

Wilhelm Raabe: Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2025. Pappband, Fadenheftung, 245 Seiten. 26,– €.

Anthony Burgess: Der Mann aus Nazareth

Die Zeiten taumeln und lallen.

Anthony Burgess, dessen katholische Erziehung sich in unterschiedlicher Art und Gewichtung in seinem Gesamtwerk abzeichnet, hat in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre für Franco Zeffirelli das Drehbuch für dessen Vierteiler Jesus von Nazareth geschrieben.1 Burgess hat anschließend das recherchierte Material auch zu einem Roman verarbeitet und dabei seine ganz eigene Vision der Geschichte Jesu gestaltet. Herausgekommen ist eine etwas merkwürdige Mischung aus origineller Überschreibung, rationaler Umdeutung und letztlich doch gläubiger Bestätigung der ältesten Quellen. Dass die meisten Zeitgenossen mit dieser Version nicht unbedingt etwas anfangen konnten, zeigt sich sicherlich auch darin, dass der 1979 auf Englisch erschienene Roman trotz der anhaltenden Prominenz der TV-Serie erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde.2

Der Verlag gibt dem Text als einzigen Kommentar das Vorwort Burgess’ zur französischen Ausgabe (1977) bei, das wesentlich drei Punkte betont: Burgess habe versucht, Jesus als Menschen – kein „Weichling“, sondern „groß und stark, mit einer mächtigen Stimme“ (S. 370) – zu gestalten, ohne zugleich seinen Status als Gottessohn aufzuheben (hier wird man nicht zu genau nachfragen dürfen, was denn das eigentlich heißen soll), er wolle die „Logik der Eucharistie“ betonen und schließlich halte er die Botschaft der Liebe für die wesentliche Botschaft des Christentums:

Vor allem aber wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es für den Menschen keine Hoffnung gibt, außer durch persönliche Erneuerung – das heißt, in der Bereitschaft jedes einzelnen zu Nachsicht, ja Liebe und sogar Vergebung Feinden gegenüber. Politische Reformen sind hoffnungslos. Das Kreuz ist das Symbol des Staates – des Staates Caesars wie des Präsidenten der französischen Republik. Der Weg Christi – der Kreuzweg – ist der einzige gangbare, auch aus praktischer und nicht-mystischer Sicht.

S. 371

Um diesen durchaus nicht einfach zu integrierenden Zielen nach­zu­kom­men, bekommen wir Jesus zuerst als einen belesenen Tischler vorgeführt: Zwar ist er von Anfang an davon überzeugt, nicht Sohn seines Ziehvaters Joseph zu sein, doch hindert ihn das vorerst nicht daran zu heiraten (die Hochzeit zu Kanaan wird zu Jesu eigener Hochzeit umgedeutet), doch stirbt seine Frau recht bald wieder und zu Beginn seiner Wirkungszeit ist Jesus daher Witwer. Er kennt sich außer in den Schriften auch in der Literatur des Mittelmeerraums aus, spricht und liest also Griechisch und Latein (Aramäisch versteht sich von selbst), kann mit dem studierten Judas durchaus mithalten und ist überhaupt ein Bild von einem Mann.

Je weiter die Geschichte jedoch fortgeschrieben wird, desto enger hält sich der Erzähler (ein griechischer Zeitgenosse, Kaufmann, von dem aber nie wirklich klar wird, warum er die Geschichte Jesu aufschreibt) an die Berichte der Apostel. Die Erzählungen der Evangelisten werden aber bis zum Ende konsequent durch eine politische und und soziale Ebene ergänzt, die zwar detaillierter aber in ähnlicher Weise gestaltet ist, wie sich dies auch schon bei Tim Rice in seinem Libretto für Jesus Christ Superstar (1971) finden lässt. Werden die Wunder zuerst noch wegrationalisiert (das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein zum Beispiel ist nur eine Art von Partyscherz; die ersten Geheilten sind wahrscheinlich psychosomatische Fälle; das wieder ins Leben gerufene Mädchen war wahrscheinlich noch gar nicht so ganz richtig tot etc. pp.), so wird ihr realer Status mit weiterem Fortschreiten immer vager, bis schließlich gar nicht mehr erst versucht wird zu erklären, wie es zu verstehen sein soll, dass der nun unbestreitbar tote Lazarus wieder ins Leben gerufen wird.

Der skeptische Betrachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe die Religiosität des Autors seinen Text mehr und mehr überwältigt: Das Buch will den Leser je länger desto mehr zur Erkenntnis einer realen Gottessohnschaft Jesu und der Göttlichkeit seiner Lehre überreden.

Für Leser, die wie ich mit der Auseinandersetzung der 1970er-Jahre mit der Figur Jesu groß geworden sind, sicherlich ein interessantes Seitenstück; für gläubige Christen wahrscheinlich eine widerständige Lektüre; für alle anderen wohl eher ein Kuriosum.

Anthony Burgess: Der Mann aus Nazareth. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2025. Klappenbroschur, 372 Seiten. 26,90 €.

  1. Als weitere Autorin des Drehbuchs wird Zeffirellis langjährige Mitarbeiterin Suso Cecchi D’Amico genannt. Ob es dabei eine echte Zusammenarbeit gegeben hat oder D’Amico das Drehbuch Burgess’ nachträglich überarbeitet hat, entzieht sich leider meiner Kenntnis. ↩︎
  2. Von den beiden anderen biblischen Erzählungen Burgess’ (beide ebenfalls zuerst als Drehbuch) – Moses (1976) und The Kingdom of the Wicked (1980) – wurde das Frühere ebenfalls bislang nicht ins Deutsche übersetzt. The Kingdom of the Wicked erschien 1985, also zur Hochzeit der Burgess-Rezeption in Deutschland, unter dem Titel Das Reich der Verderbnis (Katalog der DNB). ↩︎

Thomas Mann: Späte Erzählungen (1919–1953)

Schreiben ist ein sehr starker Zeitvertreib …

Der Eindruck, der sich bei der Wiederlektüre der sogenannten „Frühen Erzählungen“ eingestellt hatte, verstärkt sich eher noch bei diesem zweiten Band der Erzählungen. Herr und Hund, Gesang von Kindchen (bei dem ich mich nicht habe überwinden können, die erneute Lektüre über den ersten Abschnitt Lebensdinge hinaus fortzusetzen) und Unordnung und frühes Leid sind ganz aus dem häuslichen Umfeld geschöpft. Sie erscheinen beinahe vollständig als Erzählungen um des Erzählens willen; sicherlich kann man aus Unordnung und frühes Leid Atmosphärisches zum München der Zwischenkriegsjahre ziehen, und auch das erste, mächtige Verliebtsein des kleinen Lorchens bildet am Ende tatsächlich so etwas wie erzählerischen Stoff, aber insgesamt ist das alles erzählerischer Leerlauf, seitenschindend und sonst nichts.

Als einigermaßen gewichtiges Gegenstück zu Der Tod in Venedig erscheint in diesem Band natürlich Mario und der Zauberer, in dem der Leser Mann gern zutrauen würde, etwas Politisches über den italienischen Faschismus sagen zu wollen, aber alles bleibt im Bereich des Psychologischen und nicht einmal da ist es recht deutlich. Immerhin ist es unbestimmt genug, um sich einem breiten Spektrum an Interpretationen zu öffnen, und ragt so aus dem Bestand des Bandes positiv hervor.

Den Beschluss bilden drei Erzählungen: Zwei sind Nacherzählungen mythischer Stoffe, einer indischen Legende, die Mann auf ein Lehrstück über die Langweile des Sexes in der Ehe reduziert, und einer entmythologisierenden Nacherzählung der Geschichte Mose bis zum Berg Sinai, eine offenbare Seitenarbeit zum Joseph-Roman. Beide Texte haben beim Wiederlesen keinerlei Überraschung bereit gehalten.

Am schlimmsten aber ist die letzte Erzählung Die Betrogene, eine Erzählung, die Mann bewusst in einer Art von Parodie des erzählerischen Tons des späten 19. Jahrhunderts hält, wenn er auch die Handlung in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen verlegt. Thema ist auch hier eine gesellschaftlich als unpassend empfundene Verliebtheit, diesmal einer Offizierswitwe, die mit ihren beiden Kindern in Düsseldorf lebt und sich in den us-amerikanischen, jungen Sprachlehrer ihres Sohnes verkuckt. Es wird unendlich viel geredet, besonders in völlig unglaubwürdigen langen Monologen, bis sich die Verliebte, die sich wundersam verjüngt glaubt, als todkrank erweist und vor der Erfüllung des späten Glücks stirbt. Beinahe nichts an dieser Erzählung stimmt, weder die Figuren (besonders die verständnisvolle Tochter), noch die Sprache, noch die geschilderte Gesellschaft. Einzig zugestehen muss man Mann, dass er darauf verzichtet, das einzige Geheimnis dieser Erzählung auch noch tot reden zu lassen.

Thomas Mann: Späte Erzählungen. 1919–1953. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 2025. 546 Seiten. 16,99 €.

Wilhelm Raabe: Der Lar

Am anderen Morgen ging das Leben weiter in gewohnter Weise. Am folgenden wieder so, und so weiter; und es fiel gar nichts Besonderes vor.

Ein ganz leichter und wundervoller Roman, den Raabe zwischen dem dunklen „Das Odfeld“ (1888) und dem anspruchsvollen „Stopfkuchen“ (1890/91) geschrieben hat. Als Motto zitiert er wohl aus einem Leserbrief an ihn: »O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!« Und um den Leser gar nicht lange warten zu lassen, verrät er gleich auf der ersten Seite, wer sich kriegt und dass die Beiden Eltern eines gesunden Jungen werden.

Mit dieser Versicherung im Hintergrund erzählt Raabe die Geschichte vierer Figuren: dem etwas verlotterten Paul Warnefried Kohl, seiner Jungendfreundin Rosine Müller, seines Paten Franz de Paula Schnarrwergk und seines einzigen Freundes Bogislaus Blech, der den Roman als Maler betritt, sich dann aber rasch zum Photographen wandelt. Schnarrwergk, ein eingefleischter Junggeselle, der einstmals in Warnefrieds Mutter verliebt war, die sich dann aber vom Germanistikprofessor Kohl hat heiraten lassen, besitzt den titelgebenden Hausgeist (Lar), einen ausgestopften Affen, von dem der Leser nie die konkrete Art erfährt und der als stummer Zeuge besonders des letzten Viertels des Romans dient.

Bis dahin geschieht in etwa folgendes: Nach dem Tod von Warnefrieds Mutter wird der elterliche Haushalt der Kohls aufgelöst, um die verblieben Mietschulden zu zahlen. Am selben Tag ziehen Rosine Müller, die eine junge Freundin von Warnefrieds Mutter war, und der ehemalige Kreisveterinär Schnarrwergk zufällig im selben Stockwerk des selben Hauses ein. Warnefried hilft ein wenig beim Umziehen, zieht dann aber mittellos in die Welt hinaus, wird Student, der aus dem geringen wissenschaftlichen Renommee seines Vaters Kapital zieht und sich so durchs Studium schlägt, um fünf Jahre später als Doktor der Philosophie in die Heimatstadt zurückzukehren. Diese Entwicklung wird in nur wenigen Zeilen zusammengefasst.

Wieder daheim findet er, wie schon gesagt, seinen Freund Bogislaus vom Portrait-Maler zum Leichen-Photographen gewandelt, der aber nun auch in derselben Straße residieret wie Rosine und Schnarrwergk. Diese beiden Nachbarn sind inzwischen gut miteinander befreundet, hauptsächlich wegen eines verregneten Pfingstspaziergangs. Warnefried wird Journalist, da er ein schriftstellerisches Talent für Mord- und Sensationsgeschichten hat, und dann wird es auch schon Weihnachten. Schnarrwergk erleidet auf dem Weihnachtsmarkt einen Schlaganfall, wird von Warnefried nach Hause gebracht und dort zusammen mit der Nachbarin Rosine wieder gesund gepflegt. Dass „sie sich kriegen“, wurde ja oben schon gesagt; und auch Bogislaus bleibt nicht außen vor, sondern nimmt in der Ehe der Kohls nun jene Stelle ein, die Schnarrwergk zuvor im Hause der Eltern Kohl inne hatte.

Wie man sieht, erzählt das Buch eigentlich nichts; besonders das letzte Viertel schafft es, die Handlung, die ohnehin schon nicht sehr üppig war, noch einmal drastisch zu reduzieren. Auch werden jene spannenden oder gefühligen Szenen, mit denen die Trivialliteratur der Zeit auf die Herzmuskeln oder Tränendrüsen der Leserinnen abzielte, gar nicht auserzählt: Die Verlobung geschieht ganz nebenbei, vom kranken Scharrwergk wird uns gleich mehrfach versichert, dass er wieder auf die Beine kommen wird, die Hochzeit bleibt ganz außen vor und was der Sachen mehr sind. Auch als Entwicklungsroman taugt der Text nicht: Bogislaus und Warnefried werden undramatisch auf den Boden der ökonomischen Realität geholt, Rosine bleibt sich schlicht gleich und der knurrige Schnarrwergk war am Ende auch immer schon ein Herzensmensch.

Und dennoch sind die 200 Seiten ganz und gar gelungen. Da zeigt ein Meister, was Trivialliteratur sein könnte, wenn sie nur nicht so trivial wäre.

Wilhelm Raabe: Der Lar. Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2025. Pappband, Fadenheftung, 287 Seiten. 26,– €.

Christoph Martin Wieland: Agathodämon

Ein Irrthum in solchen Dingen kann guten Menschen nicht schaden;

Wie schade! Da hintertreibt der Protagonist Apollonius von Tyana, der als Lichtgestalt der antiken Aufklärung vorgeführt werden soll, im dritten Buch des Wielandschen Romans die Ehe eines seiner Schüler mit einer ehemaligen Prostituierten, die versucht, sich auf ihre alten Tage in die Bürgerlichkeit zu flüchten, indem er sie öffentlich seinen eignen und den Vorurteilen ihrer Mitbürger preisgibt und sie dadurch zwingt, aus Korinth, wo die ganze Episode spielt, zu fliehen.

Wie schön dagegen das Wort Jesu zu der Sünderin, die ihm die Füße gewaschen und gesalbt hat: „Gehe hin in Frieden!“ (Lk 7,50)

Christoph Martin Wieland: Agathodämon in sieben Büchern. Werke in Einzelausgaben. Frankfurt/M.: Insel, 2008. Leinenband, Fadenheftung, 308 Seiten. Nur noch antiquarisch greifbar.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Im Schatten junger Mädchenblüte

»Hast du jemals Proust gelesen?« fragte er sie.
»Ich hab’s versucht, aber er langweilt mich.«
»Er ist wirklich außergewöhnlich.«
»Möglich! Aber er ist mir zu langweilig: all diese Sophisterei! Er hat keine Gefühle, er hat nur endlose Worte über Gefühle. Ich bin diese überheblichen Mentalitäten leid.«

D. H. Lawrence

In der Welt von Madame Swann

Wir alle sind gezwungen, einige kleine Dummheiten in uns zu nähren, um die Wirklichkeit erträglich zu machen.

Der zweite Band des Zyklus setzt unmittelbar dort ein, wo der erste aufgehört hatte: Bei der Liebe des Erzählers Marcel zu Gilberte Swann. Es gelingt ihm wider Erwarten Zugang zur Familie Swann zu finden (wie zuvor schon erwähnt, stehen sich die Familien des Erzählers und der Swanns nicht mehr nahe) und ein regelmäßiger Gast bei Gilbertes Tee-Gesellschaften zu werden. Außerdem wird er trotz seinen jungen Jahren ein Mitglied des Salons von Odette Swann, die sich langsam, aber sicher in der Gesellschaft nach ober arbeitet. Auch als sich Marcel nach einer verärgerten Reaktion Gilbertes entschließt, sie nicht mehr wiedersehen zu wollen, verbleibt er im Umfeld von Madame Swann. Dort lernt er auch den von ihm hochgeschätzten Schriftsteller Bergotte persönlich kennen, dessen Person zwar in einer radikalen Widerspruch zu dem Bild steht, das sich Marcel anhand der Lektüre der Werke von ihm gemacht hat, der aber den jungen Mann schätzt und ein wichtiger Einfluss auf dem Weg Marcels zu seinem eigenen Schriftstellertum wird.

Weite Strecken dieses Teils sind gefüllt mit Reflexionen, Hoffnungen und Fantasien Marcels, die sich aus seiner Trennung von Gilberte ergeben, die immer und immer wieder gewendet und neu formuliert werden. Dagegen bleibt Marcels offensichtliches Interesse an Madame Swann von einer erzählerischen Durcharbeitung weitgehend verschont.

Ländliche Namen: Das Land

Vielleicht sind ja manche Meisterwerke unter Gähnen entstanden.

Der zweite Abschnitt dieses zweiten Buches spielt in Balbec, einem fiktiven Seebad, in das der Erzähler mit seiner Großmutter reist, um seine schwächlichen Gesundheit auf die Sprünge zu helfen. Der Erzähler hatte sich alnge schon danach gesehnt, die Kirche von Balbec zu sehen, von der er schon lange phantastische Vorstellungen hegt; abermals wird er von der Realität zuerst enttäuscht, dann aber von einem ästhetisch profunderem Geist angeleitet, das Besondere im Allgemeinen zu erkennen. Im Wesentlichen lernt der Erzähler außer drei Männern (Robert von Saint-Loup, den Baron von Charlus und den Maler Elstir) eine Gruppe junger Mädchen kennen, von denen er sich nach einigem Hin und Her in eine verliebt: Albertine. Er versucht sie zu küssen, sie klingelt nach dem Personal.

In den ästhetischen Reflexionen findet sich hier der Übergang von der Architektur – zuvor in der Hauptsache repräsentiert durch Kirchen – zur Malerei – repräsentiert durch die Figur Elstirs, einer Mischung hauptsächlich aus Whistler und Turner mit ein wenig Monet und Manet –, der, wie zuvor der Schriftsteller Bergotte, als zeitweiliger Nestor des jungen Erzählers fungiert.

Es liegt natürlich an mir, aber auch nach 1.300 Seiten kann ich mich nicht für den Erzähler interessieren. Das Buch wird ein klein wenig lebendiger, als Albertine auftritt, deren Sprache den Text wie ein frischer Wind durchweht. Aber so gleich geht es wieder über Seiten und Seiten hinweg um Ereignisse, Figuren und Gedanken, die mir vollständig gleichgültig bleiben. Wie überaus fein ziseliert, wie überaus langweilig. Es wird nun eine erhebliche Weile dauern, bevor ich den dritten Band in die Hand nehmen werde.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 2: In Schatten junger Mädchenblüte. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 834 Seiten. 32,95 €.

Herbert Rosendorfer: Bayreuth für Anfänger

›Wagner‹! (sein eig’ner Schikaneder –

Arno Schmidt

Cover der aktuell lieferbaren Auflage bei Langen-Müller

Bei der Suche nach einem Zitat, das mein Gedächtnis gern Herbert Rosendorfer zuschreiben möchte („La donna è mobile – die tiefste Einsicht in die Psychologie der Frau, die die Italiener je gewonnen haben.“ Hinweise sind gerne willkommen!), ist mir auch wieder dieses kleine Buch in die Hände gefallen. „Bayreuth für Anfänger“ ist die erste Buchveröffentlichung Herbert Rosendorfers, eine Auftragsarbeit für seinen später langjährigen Verleger Daniel Keel (Diogenes), der diesen kleinen Reiseführer bei Rosendorfer bestellte, da dieser 1969 als Gerichtsassessor in Bayreuth lebte. Rosendorfer ist immer Anti-Wagnerianer gewesen und so ist denn auch der musikalische Teil des Büchleins geworden. Da Rosendorfer direkte Anfeindungen in Bayreuth befürchtete, erschien der Band zuerst unter dem Pseudonym Vibber Tøgesen, für den auch eine dänisch-norwegisch-finnische Kurzvita erfunden wurde. Die Neuauflage von 1976, die ich in meinem Bücherschrank wiedergefunden habe, ist angeblich „stark erweitert“ worden und hat das bis dahin längst gelüftete Pseudonym ins Vorwort verbannt.

Das Buch beginnt tatsächlich als historischer und architektonischer Reiseführer für Bayreuth, beschäftigt sich dann aber in der zweiten Hälfte in der Hauptsache mit Wagner, den Festspielen und den Wagnerianern. Wie schon angedeutet, ist dieser Teil eher für jene vergnüglich, die nicht zu den Anhängern des Bayreuther Meisters gehören und nicht nur die Opern, sondern auch das Gewese um sie herum für einigermaßen albern halten.

Das Buch ist seit 1969 im Druck; derzeit scheint eine Ausgabe bei Langen Müller aus dem Jahr 2008 gerade noch lieferbar zu sein (siehe die Abbildung oben). Wie lange das noch so bleiben wird, ist eher unklar; von daher empfehle ich den Kauf, solange es noch einigermaßen bequem geht.

Herbert Rosendorfer: Bayreuth für Anfänger. Mit Zeichnungen von Luis Murschetz. Zürich: Diogenes, 21976. Leinen, 111 Seiten.
Lieferbare Ausgabe: München: Langen Müller, 2008. 112 Seiten. 13,– €.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Auf dem Weg zu Swann

Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor.

Theodor W. Adorno

Ich habe mich bislang mit dem Einstieg in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehr schwer getan. Seit meiner Studienzeit (in der meine damalige Freundin den gesamten Zyklus in vergleichsweise kurzer Zeit komplett gelesen hat) sind mehrfache Anläufe zur Lektüre immer wieder gescheitert. Ich habe dafür zum einen der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens die Schuld gegeben, mit deren Deutsch ich mich nie recht anfreunden konnte, auch nicht nach der Überarbeitung der Übersetzung durch Luzius Keller; ich habe mich stets bemüht, aber wie der Dichter sagt: „Du hast nun die Antipathie!“ Und nun extra noch Französisch zu lernen, wäre doch ein zu fantastischer Einfall gewesen. Zum anderen bin ich immer erneut an dem mir nur schwer verdaulichen ersten Teil Combray gescheitert, dessen Handlungslosigkeit ich noch tolerieren konnte, dessen selbstverliebte Tendenz zu Klatsch und Tratsch ich aber nicht die ironische Distanz abgewinnen konnte, die Proust vermutlich dem französischen Text mitgegeben hat. Auch hier schien die Übersetzung wenigstens für mich nicht gut genug.

So habe ich es mit großer Freude gesehen, dass bei Reclam seit 2013 mit schöner Regelmäßigkeit die sieben Bände der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erschienen. Die ersten Kritiken waren zwar nicht gut, da die meisten Kritiker aber zugleich die mir sprachlich widrige Rechel-Mertens lobten, derweil sie Fischer schmähten, hatte ich den unbelehrten Verdacht, dass diese Kritiken wenigstens an meiner zukünftigen Lektüre würden vorbeigeschrieben sein. Und so habe ich im vergangenen Jahr sehr, sehr langsam begonnen, endlich einen Einstieg in die „Recherche“ zu finden.

Combray

Auch in mir sind viele Dinge zerstört worden, von denen ich geglaubt hatte, sie währten ewiglich, und neue haben sich aufgebaut, die neue Schmerzen und Freuden hervorbrachten, die ich damals nicht hätte erahnen können, ganz so wie mir die alten schwer verständlich geworden sind.

Dieser erste der drei Teile des ersten Bandes liefert sowohl eine poetologische Hin- als auch eine praktische Durchführung des Grundthemas Erinnerung, das den gesamten Zyklus bestimmt. Der vorerst noch namenlose Ich-Erzähler beginnt mit den halb traumhaften Bewusstseins­zuständen beim Einschlafen über der abendlichen Lektüre im Bett, in denen sein Schlafzimmer in Combray, wo er die Sommer seiner Kindheit und Jugend zusammen mit seinen Eltern im Haus seiner Tante Léonie zugebracht hat, eine wiederkehrende Rolle spielt, und kommt dann zu dem berühmten Moment, als ihm der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine die Erinnerung an die gesamte Zeit in Combray zurückbringt. Die sich anschließende Darstellung dieser Erinnerungen ist, wie bereits gesagt, weitgehend handlungsfrei und kreist um zahlreiche Motive: Klatsch und Tratsch seiner Tante über die Bewohner des Städtchens, die Hypochondrie der Tante, die seit Jahren die meiste Zeit im Bett zubringt, ihre Köchin Françoise und deren Hass-Liebe zur Tante, der Nachbar Swann und seine Tochter Gilberte, die erste Verliebtheit des Erzählers, seine frühen sexuellen Sehnsüchte, seine Lektüre und sommerliches Nichtstun, Spaziergänge in der Umgebung und die damit einhergehende Naturerfahrung, die Bewunderung von Kircharchitektur und -fenstern und auch das Interesse an historischen Figuren und der Sphäre des Adels, die der Erzähler vorerst noch als einen entrückten halb historischen, halb gesellschaftlichen Hintergrund empfindet.

Nun verstehe ich auf einer abstrakten Ebene sehr wohl, warum all das so gestaltet ist, und warum es zwar beliebig erscheint, angesichts des Grundthemas aber nur so sein kann, wie es ist, aber es ist mir bei der aktuellen Lektüre auch klar geworden, dass mein hauptsächliches Problem mit Combray nicht in der Übersetzung wurzelt, sondern dass mich die Figuren zu wenig interessieren. Es wird im letzten Drittel dieses ersten Teils besser, wenn das jugendliche Ich des Erzählers soweit herangereift ist, dass erste Reflexionen zur Natur und vage sexuelle Empfindungen auftauchen, doch das Provinzielle und insbesondere das Personal Combrays ist mir zu fad. Natürlich habe ich den Verdacht, dass dieser erste Teil im Rückblick bzw. bei einem zweiten Durchgang nach der Gesamtlektüre des Zyklus einen komplett anderen Eindruck machen wird. Dennoch stellt Combray für mich eine echte Hürde beim Einstieg in den Romanzyklus dar.

Eine Liebe von Swann

»Er ist ja nicht direkt hässlich, wenn Sie so wollen, aber auf irgendeine Weise lächerlich: dieses Monokel, dieses Toupet, dieses Lächeln!«

Es dürfte bekannt sein, dass es sich bei diesem zweiten Teil des ersten Bandes um einen Roman im Roman handelt: Im Zentrum steht die erste Zeit der Verliebtheit Charles Swanns, den wir aus Combray als alten Bekannten und Nachbarn der Familie des Erzählers kennen, in die junge Odette de Crécy, mit der er in Combray verheiratet ist und eine Tochter hat. Swann selbst ist gesellschaftlich ein Wanderer zwischen den Welten, stammt aus einer reichen jüdischen Familie, verlebt sein Erbe, arbeitet als freier Kunsthistoriker und verkehrt in allen gesellschaftlichen Schichten von Paris bis zu den sogenannten höchsten. Er ist ein Frauenheld, bevorzugt normalerweise junge Frauen aus der Arbeitsschicht, verschaut sich aber in Odette, auch wenn sie eigentlich nicht seinem Frauentyp entspricht.

Um sie regelmäßig sehen zu können, beginnt er im Salon des Ehepaars Verdurin zu verkehren, das sich mit einem kleinen Kreis aus Akademikern und Künstlern umgeben hat, zu dem auch Odette eher zufällig gehört. Odette lässt sich von diversen Männern aushalten und erweist im Gegenzug wohl auch regelmäßig Liebesdienste, was Swann aber für lange Zeit zu ignorieren versteht, bis es zu einer konstanten Quelle der Eifersucht für ihn wird, als er bei Odette aus der Rolle des Favotiten herauszufallen beginnt. Weder nach seinem Bildungsstand noch seinem sonstigen gesellschaftlichen Umgang passt Swann in den Kreis der Verdurins, so dass hier ein distanziertes Portrait des Großbürgertums entsteht. Ergänzt wird dieses gesellschaftliche Bild durch einen Abend bei der Marquise von Saint-Euverte, deren Einladung Swann nur folgt, um sich von seinem Unglück mit Odette abzulenken. Dieser künstlerische Abend – es wird ein junger Pianist vorgeführt – liefert eine bitterböse, detaillierte Satire der Hautevolee.

Die Erzählung – die interessanterweise offenbar ebenfalls vom Erzähler von Combray erzählt wird, der hier quasi als auktorialer Erzähler auftreten muss – endet, ohne dass der innere Konflikt Swanns, der Odette offensichtlich weiterhin liebt und sich zugleich in seiner Eifersucht nicht von ihr lösen kann, während sie längst zu anderen Männern weitergezogen zu sein scheint, aufgelöst wird. Die Leser erfahren nicht, wie es dazu gekommen ist, dass Swann Odette geheiratet hat, was ihn in den Augen seiner Nachbarn in Combray gesellschaftlich ruiniert hat, während Swann in Paris tatsächlich auch weiterhin in den höchstens Kreisen geschätzt wird und dort verkehrt.

Ländliche Namen: Der Name

… wenn eines Tages in diesem meinem allzu wohlbekannten, geringgeschätzten Leben Gilberte die ergebene Dienerin werden würde, eine praktische und bequeme Mitarbeiterin, die mir am Abend bei der Arbeit helfen und in meine Veröffentlichungen die Seitenzahlen eintragen würde.

Der dritte Teil des Romans erzählt in der Hauptsache von der Liebe des etwa 15-jährigen Ich-Erzählers zu Gilberte Swann, die er regelmäßig zu sportlichem Spiel in den Champs-Élysées trifft, während zwischen den beiden Familien der Jugendlichen kein gesellschaftlicher Kontakt mehr besteht. Ergänzt wird dieser Hauptteil durch eine Einleitung, die dem Teil seinen Titel gibt, in dem der Erzähler von seinen frühen Fantasien um Ortsnamen herum (Balbec, Florenz, Venedig) berichtet, und einer Art von Epilog, in dem das Hauptthema Erinnerung wieder aufgenommen wird und der Erzähler einen sentimentalen Blick auf Erinnerung an die Jahre seiner Jugend wirft:

Die Wirklichkeit, die ich gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es genügte schon, dass Madame Swann nicht völlig unverändert im gleichen Augenblick erschien, und die Avenue war eine andere. Die Stätten, die wir gekannt haben, gehören nicht allein der räumlichen Welt an, in die wir sie der Einfachheit halber einbetten. Sie waren nur ein schmales Segment inmitten der zusammenhängenden Eindrücke, die unser damaliges Leben ausmachten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.

S. 584 f.

Wie schon gesagt ist dieser erste Teil der Recherche extrem handlungsarm; selbst Eine Liebe von Swann, in dem noch am ehesten so etwas wie eine traditionelle chronologische Entwicklung gefunden werden kann, ist zum Großteil gefüllt mit Reflexionen und Schilderungen innerer Zustände. Die Erzählung ist in allen Teilen sowohl inhaltlich als auch formal bewundernswert dicht, wenn auch nicht frei von Redundanzen. Es wird sich zeigen müssen, ob diese Art von Innerlichkeit über alle sieben Bände des Romans tragen wird.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 694 Seiten. 29,95 €.

Wird fortgesetzt …