Martin Walser: Ein liebender Mann

Das Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.

Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.

Geschrieben ist das Buch in jener hölzernen Prosa, die auch schon frühere Bücher Walsers ausgezeichnet hat. Auch dieses Buch ist eher monologisch, repetitiv und eintönig geraten. Es scheint Walser nicht mehr groß darauf anzukommen, worüber er schreibt, er ergießt seine Sprache über alles und ebnet mit ihr alle Differenzen ein: In allen Teilen des Buches herrscht derselbe überspannte und überhöhte Ton, selbst dort, wo Entspannung oder Intimität behauptet wird. Mancher mag das für Stil halten, es ist aber nicht mehr als eine steife Manier, die jegliche Beweglichkeit, jede Angemessenheit an den verhandelten Gegenstand oder die konkrete Situation vermissen lässt und stets nur sich selbst setzt und niemanden und nichts zu Wort kommen lässt. Wie weit Walsers Sprache – trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen – von der Goethes entfernt ist, kann man exemplarisch an dem durchgehend verwendeten, hässlichen Wort „kriegen“ (im Sinne von „bekommen“) ablesen, das in diesem Buch wohl ungefähr sooft verwendet wird wie im Gesamtwerk Goethes – um von der Variante „mitkriegen“ ganz zu schweigen.

Inhaltlich ist das Buch so spekulativ, wie es angesichts der Quellenlage sein muss. Man kann Walsers Einfälle schätzen, seine Erfindungen glücklich finden; ebenso gut kann man die konkrete Fabel als albern, lärmend und langatmig bezeichnen. Ob es nötig ist, die einzige ausführliche authentische Quelle – die Aufzeichnungen der alternden Ulrike von Levetzow – Lügen zu strafen, mag ebenfalls eine Geschmacksfrage sein. Bezeichnender ist, dass Walser zum zentralen Goetheschen Text, der Marienbader Elegie, die vollständig abgedruckt wird, nichts als Allgemeinplätze und Phrasen mitzuteilen hat. Die besten Urteile sind noch die, die er aus den zeitgenössischen Quellen abschreibt – der Rest ist Schweigen. Dass die Marienbader Elegie entstanden ist, wird wahrheitsgemäß berichtet, wie sie aber möglich gewesen ist, bleibt demjenigen, der nur Walsers Goethe kennt, gänzlich unverständlich. Trotz des gewaltigen Aufwands an vorgeblicher Einsicht in die Goetheschen Gedanken bleibt Goethe dem Leser wesentlich fremd. Es ist schlicht falsch, dass Goethe in den Wochen und Monaten nach der Trennung in Karlsbad nichts als Getriebensein, Verzweiflung, Neigung zum Suizid erlebt und empfunden habe und ihm jene bei ihm stets vorhandene zweite, distanzierte und objektive Ebene der Reflexion unzugänglich geblieben wäre. Dass sie Walser fehlt, dokumentiert der Roman; dass und wie sehr sie Goethe zugänglich war, dokumentieren die vorhandenen Quellen. Dies als „Entsagungstheater“ oder „kulturellen Firnis“ denunzieren zu müssen, ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, wie fremd Walsers Lamentieren dem Goetheschen Wesen geblieben ist.

Dass der Roman auch mit den historischen Tatsachen flüchtig und oberflächlich umgeht, ist bereits an einem Beispiel aufgezeigt worden. Es ist nicht das einzige. Offensichtlich war es sowohl dem Autor als auch dem Lektorat zu lästig, das Buch einmal gründlich anzuschauen. Mag auch sein, dass Walser wenigstens mit einem Satz Recht behalten hat:

Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.

Das würde einiges erklären.

Bestürzend aber ist einmal mehr, als wie weit entfernt von Goethe sich ein Großteil des deutschen Kulturbetriebs gerade in den Momenten beweist, wo er ihn angeblich feiert. Goethe verkommt den Deutschen bei jedem Durchgang mehr zur Phrase.

Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 287 Seiten. 19,90 €.

Hartmut Lange: Der Therapeut

lange_therapeut Im Rahmen der Vorbereitung für einen Vortrag über Geschichte und Begriff der Novelle habe ich zum ersten Mal auch Hartmut Lange gelesen, der sich von den lebenden deutschsprachigen Autor wahrscheinlich am intensivsten mit der Form auseinandersetzt. Der Therapeut enthält drei Texte, die alle in Berlin spielen und in deren Zentrum jeweils ein alleinstehender, älterer Mann steht. In allen drei Texten bleibt ein wesentliches Element vom direkten Erzählen ausgespart und lässt sich nur vage aus dem Erzählten erschließen.

So erzählt Der Hundekehlesee vom Berliner Kunstprofessor Wernigerode und seiner arabischen Lebensgefährtin Alima, die allerdings zu Beginn der Erzählung verschwindet oder bereits verschwunden ist. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto unklarer wird die Geschichte um Alima, so dass am Ende bezweifelt werden kann, ob es eine Beziehung zwischen Wernigerode und Alima überhaupt je gegeben oder Wernigerode sie sich nur eingebildet hat, ob Alima Selbstmord am Hundekehlesee begangen oder zu ihrer Familie nach Tunesien zurückgekehrt ist, oder ob Wernigerode sie gar umgebracht und die Tat mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hat.

Der von Der Hundekehlesee angeschlagene Ton setzt sich auch in den Erzählungen Der Therapeut und Die Kränkung fort, wenn diese beiden Erzählungen auch thematisch deutlich anderes gelagert sind. Insgesamt steht dieser Novellen-Band Langes klar in der Erzähltradition, deren hervorragende Protagonisten Heinrich von Kleist, dessen Erzählungen sich dadurch auszeichnen, dass sie umso unklarer werden, je genauer man sie anschaut, oder Franz Kafka sind. Alle drei Novellen Langes lohnen die Lektüre, nur darf man als Leser eben keine glatten und abgeschlossenen Texte erwarten.

Hartmut Lange: Der Therapeut. Drei Novellen. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 148 Seiten. 18,90 €.

Walter Moers: Der Schrecksenmeister

moers-schrecksenmeister Es scheint beinahe unmöglich, diesem Buch oder besser dem Autor im Fall dieses Buches gerecht zu werden. Nach einem Buch wie Die Stadt der träumenden Bücher (2005) muss einem Schriftsteller die Herausforderung, die nächste Fortsetzung der Zamonien-Romane zu schreiben, von überwältigenden Schwierigkeit erscheinen. Beinahe scheint es, dass sich Moers in der »Anmerkung des Übersetzers« dafür entschuldigt, keinen zweiten Teil der Stadt geschrieben zu haben, sondern auf eine eher kleine, beinahe unscheinbare Geschichte ausgewichen zu sein.

Grundlage des Buches ist Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen, ein »Märchen«, wie Keller selbst es benennt, das aber bei genauerer Betrachtung wenig Märchenhaftes aufweist, sondern sich erstaunlich konkret mit gesellschaftlichen Realitäten des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt. Mit all dem kann natürlich Moers’ Transfer in zamonische Gefilde wenig anfangen, was auf der einen Seite zu einer Verflachung und Verharmlosung des Stoffes, auf der anderen Seite zu nicht unwesentlichen Eingriffen in den Text geführt hat, besonders was die Länge und das Ende betrifft. Für den Kenner Kellers macht Moers’ Buch den Eindruck, den eine schlechte Verfilmung machen kann, die einen eigentlich ungeeigneten Stoff unter Aufgabe von Sinn und Struktur in das eigene Medium einpresst.

Doch dieser Eindruck ist zumindest insoweit unerheblich, als dass Moers’ Buch durchaus den Anspruch machen kann, ganz für sich selbst zu stehen und Kellers Märchen für nicht mehr als eine Anregung genommen zu haben. Aber selbst wenn man darauf verzichtet, Moers und Keller nebeneinander zu halten, so kommt man nicht umhin, es mit dem Vorläufer zu vergleichen. Und in diesem Vergleich schneidet es enttäuschend ab: Wo Die Stadt der träumenden Bücher überschäumte von Wortwitz, phantastischen Einfällen und skurrilen Figuren, hat Der Schrecksenmeister einen Schuhu mit einer Sprachstörung bei Fremdwörtern, eine Ansammlung literarischer Motive klassischer Schauerromane und als einzige erwähnenswerte Erfindung die Ledermäuse, deren wesentlicher Witz in der wiederholten Feststellung besteht:

Niemand versteht die Ledermäuse! Nicht mal die Ledermäuse!

Würde dieses Buch nicht im Schatten seines Vorgängers stehen, so erschiene all das sicherlich im Rahmen des Gewöhnlichen und würde für ein nicht herausragendes, aber durchaus angängiges Buch ausreichen. Aber so wird Die Stadt der träumenden Bücher wohl zu jenem Fall werden, an dem sich das Schicksal aller folgenden zamonischen Romane entscheiden wird.

Wie der unsterbliche Laurence Sterne bei Anlass des berühmten herausgerissenen Kapitels des Tristram Shandy so richtig schrieb:

Ein Zwerg, der einen Maßstab bei sich führt, um damit seine eigene Länge zu messen, ist – glauben Sie mir’s auf mein Wort – in mehr als einem Sinne ein Zwerg.

Walter Moers: Der Schrecksenmeister. München: Piper, 2007. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, farbiger Kopfschnitt, 384 Seiten. 22,90 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-richterEine Schullektüre ist ein Buch, das jede und jeder meint zu kennen, weil es in der Schule gelesen werden musste. Die allermeisten hassen diese Bücher, weil sie die Schule oder auch nur den Deutsch-Unterricht gehasst haben, und schauen nie wieder in eines dieser Bücher hinein. Wahrscheinlich hat es kein einziges Buch verdient, zur Schullektüre zu verkommen, aber bei einigen bedauert man es mehr als bei anderen. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker gehört bei mir zu diesen Büchern. Das ist um so erstaunlicher, als ich eigentlich kein Krimi-Leser bin. Der Krimi ist ein Genre, das ich zwar im Film goutiere, das mir aber im Roman in der Regel zu schematisch, langweilig und eindimensional ist – war, sollte ich besser sagen, denn ich lese schon lange keine Krimis mehr.

Die erneute Lektüre von Der Richter und sein Henker (es ist wohl insgesamt die vierte) hat einen didaktischen Anlass: Schullektüre eines Jüngeren. Ich hatte erwartet, einen erzählerisch etwas angestaubten Roman vorzufinden, und war überrascht, was für ein elegantes, schlankes und durchtrainiertes Büchlein sich mir diesmal gezeigt hat. Sicher ist das eine oder andere nicht ganz gelungen, so etwa die Erzählung der Vorgeschichten von Bärlach und Gastmann im Gespräch, wodurch Gastmann für einen Augenblick unnötig geschwätzig und banal erscheint. Oder auch das Gastmahl für Tschanz, das den Roman beschließt und das unnötig überfrachtet ist mit existenzialistischen und moralisierenden Motiven. Da geht der Dramatiker mit dem Prosaautor durch; aber derlei sind Kleinigkeiten.

Dem steht entgegen, wie einfach und schlicht etwa das politische Unterfutter der Bärlachschen Intrige in den Roman eingeführt wird oder wie hübsch sich die beiden Protagonisten Bärlach und Gastmann ineinander spiegeln und ihre Wette am Ende beide zugleich gewinnen und verlieren. Das alles ist gut ausgedacht und zeichnet ein Bild der Schweizer Gesellschaft Ende der 40er Jahre, wie man es lakonischer und zugleich böser in einem populären Roman wohl lange wird suchen müssen. Ein Buch, das an die Tradition großer Schweizer Erzähler anschließt!

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. detebe 22535. Zürich: Diogenes, 1985 ff. 180 Seiten. 5,90 €.

Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff

Insel legt mit diesem Buch wenige Tage vor dem 150. Todestag Eichendorffs die fällige neue Biographie des letzten echten Romantikers vor. Der Autor hat durchaus einen guten Namen in Sachen Eichendorff: Er ist Mitherausgeber der großen Eichendorff-Ausgabe beim DKV und hat auch bei Reclam nicht nur die neue, illustrierte Taugenichts-Ausgabe herausgegeben, sondern auch zahlreiche Anthologien betreut und Texte kommentiert. Um so verwunderlicher ist es, dass seine Eichendorff-Biographie in Teilen oberflächlich und uninteressant bleibt.

Schon seine späten Zeitgenossen hatten mit der Wahrnehmung Eichendorffs einige Schwierigkeiten: Seine Werke hatten sich überlebt und schienen bereits einer anderen Epoche anzugehören, seine katholische Grundüberzeugung passte nur ungenügend in die immer säkularere Zeit, und so musste es der alte Eichendorff erleben, bereits vor seinem Ableben literaturgeschichtlich für tot erklärt worden zu sein. Was im Wesentlichen geblieben ist, ist sein Taugenichts, der zu einem erklärten Lieblingsbuch der Deutschen wurde, dem von Fontane und Thomas Mann sogar zugemutet wurde, ein Idealbild der Deutschen zu liefern, und das, inzwischen zur Schullektüre heruntergekommen, bis dato nur selten in seinem motivischen und artifiziellen Reichtum verstanden und erschlossen worden ist. Interessanterweise kann auch Schultz mit dem Text so wenig anfangen, dass er – trotz seiner Herausgeberschaft und seinem Status als Kommentator – nicht einmal in der Lage ist, die Fabel einigermaßen stimmig und vollständig wiederzugeben. Auch scheint er gänzlich taub zu sein für jeglichen Humor Eichendorffs; nur an einer Stelle äußert er den Verdacht, es könne sich um eine »vielleicht sogar ironische gedachte – Darstellung eines literarischen Modells der Romantik« handeln, lässt sich aber in seinen weiteren Ausführungen von diesem Einfall nicht weiter verunsichern. Dafür unterschlägt er beim Nacherzählen die Liebesintrige und den Aufenthalt auf dem Schloss, versetzt die Prager Studenten einfach an eine andere Stelle im Text – es kommt ja ohnehin nicht so genau drauf an, nicht wahr?

Auch ansonsten herrschen allenthalben Oberflächlichkeit und Schlamperei: Da heißt Eichendorffs Versepos Julian auch gern einmal »Julius« oder sein Robert und Guiscard wird zum beinahe schon Kleistschen »Robert Guiscard« verkürzt. Oder Schultz gibt die Nummern der immerhin von ihm mit herausgegebenen Taschenbuch-Bände der DKV-Ausgabe falsch an. Oder der Leser wird mit tiefen Einsichten in die Motivik der Romantik überrascht: »Offensichtlich führte die oft einsame Lage der Mühlen dazu, daß dieser Ort seit je mit Liebesbegegnungen in Verbindung gebracht wurde.« Ja, ja, offensichtlich! Oder zur Geschichte der Romantik: »Heute werden Eichendorff und Heine beide zu den größten Dichtern der deutschen Romantik gezählt, aber es waren eben Dichter und keine Verfasser objektiv abwägender Literaturgeschichten.« Und der Thomas Mannsche Wind zum Taugenichts wird kommentiert: »Thomas Manns ausführliche Charakteristik von Eichendorffs Werk und seinem Helden ist – wie könnte es anders sein – treffend und überzeugend.« Wie es anders sein könnte? Selbstgefälliges Geschwafel könnte es sein, wie so oft bei Thomas Mann!

Bei Werken, zu denen Schultz gar nichts eingefallen ist, zitiert er einfach ausführlich zeitgenössische Rezensionen, ohne klar zu machen, warum die damaligen Urteile für den heutigen Leser erheblich sein sollen. Überhaupt macht das Buch an keiner einzigen Stelle klar, was an Eichendorff 150 Jahre nach seinem Tod für Leser noch von Interesse sein könnte. Es kann sich ja nicht in der Feststellung erschöpfen, dass zahlreiche seiner Lieder heute noch gesungen werden.

Ein Buch, dem man die Lustlosigkeit und Zeitnot des Verfassers allenthalben anmerkt. Es hat einzig den Vorteil, nicht ganz so umfangreich zu sein wie die Biographie von Günther Schiwy (C.H. Beck, 2000), die inzwischen auch an einigen wenigen Stellen überholt ist, ist aber höchstens zur ersten und oberflächlichen Information geeignet. Der Eichendorff-Liebhaber oder gar -Kenner sollte seine Zeit besser verwenden als mit der Lektüre dieses alles in allem doch ärgerlichen Buches.

Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff. Frankfurt/M.: Insel, 2007. Pappband, 368 Seiten. 22,80 €.

Jurek Becker: Der Boxer

Jurek Becker wäre am 30. September dieses Jahres vielleicht 70 Jahre alt geworden (er kannte selbst sein genaues Geburtsdatum nicht); sein viel zu früher Tod vor zehn Jahren hat das verhindert. Mit Jakob der Lügner hat Becker eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Nachkriegsromane geschrieben, wenn ihm auch erst die Fernseh-Serie Liebling Kreuzberg, mit seinem Lebensfreund Manfred Krug in der Hauptrolle, wirkliche Popularität eingebracht hat. Davon hat sicherlich auch sein letzter Roman Amanda Herzlos (1992), der noch einmal ein großer Erfolg für Becker war, profitiert.

Anlässlich des Jubiläums habe ich mir wieder einmal Der Boxer aus dem Bücherschrank gezogen. Meine Ausgabe stammt noch vom Anfang der 80er-Jahre, als ich Jurek Becker für mich entdeckt habe. Es war nicht ohne Reiz, gerade diesen Roman, der wesentlich auch das Erinnern zum Thema macht, nach beinahe der Zeitspanne wiederzulesen, die auch der Protagonist Aron Blank mit seinem Erzählen umspannt.

In Der Boxer notiert ein namenloser Erzähler die Erinnerungen des KZ-Überlebenden Aron Blank, der im Nachkriegsdeutschland, genauer in Ostberlin versucht, wieder Fuß zu fassen und in ein normales Leben zurück zu finden, letztendlich aber seine Isolation nicht überwinden kann. Aron Blank beginnt sein neues Leben damit, dass er bei der Beantragung seiner Papiere seinen Vornamen in Arno verändert und sich als Geburtsort Leipzig statt Riga zuschreibt. Außerdem macht er sich um die sechs Jahre jünger, die er in den Lagern der Nazis verbracht hat. Arons Frau ist von den Nazis umgebracht worden, und zwei seiner drei Kinder sind im Ghetto gestorben. Das dritte Kind lässt Aron nach dem Krieg von einer Hilfsorganisation suchen, und es wird auch ein Junge mit dem Vornamen Mark gefunden, der allerdings in der Lagerliste als Mark Berger, nicht Blank, geführt wird. Aron fährt zu dem nun in ein Krankenlager verwandelten KZ, um den völlig abgemagerten und entkräfteten Mark Berger anzuschauen und entschließt sich beim ersten Blick auf das Kind, dass dies sein verlorener Sohn sei. Erst viele Jahre später, nachdem Mark in den Westen Deutschlands geflohen ist, werden die alten Zweifel an dessen Identität in Aron wieder aufleben.

Nachdem sich Aron einmal für Mark entschieden hat, tut er alles für den wiedergefundenen Sohn: Aron verdient als Buchhalter eines Schwarzmarkt-Händlers viel Geld, das er nun dafür aufwendet, Mark mit dem Besten, was sich finden lässt, langsam wieder aufzupäppeln. Er besucht Mark täglich und als der schließlich das Krankenhaus verlässt, verpflichtet er Marks Lieblings-Krankenschwester als Haushälterin und Geliebte. Während er so auf der einen Seite versucht, Mark wenigstens das Grundgerüst einer Familie zu bieten, verweigert er sich auf der anderen Seite der Eingliederung in das sich normalisierende bürgerliche Leben: Als der Schwarzmarkt-Händler sein Geschäft auf eine legale Grundlage stellt und Aron die Stelle eines Hauptbuchhalters anbietet, kündigt er. Statt dessen beginnt er, als Dolmetscher für die russische Besatzungsmacht zu arbeiten. Wenig später befreit ihn eine Erbschaft aus den gröbsten Geldsorgen.

Der titelgebende Boxer taucht erst sehr spät im Buch auf: Als Mark in die Schule kommt, wird er als einer der körperlich schwächsten Schüler Opfer einer brutalen Attacke eines seiner Mitschüler. Daraufhin erzählt ihm Aron eine Geschichte – von der der Leser nicht erfährt, ob sie stimmt oder nur zweckhaft erfunden ist – davon, dass auch er als Kind von einem Stärkeren drangsaliert worden ist, dann aber Boxen gelernt habe. Eines Tages habe er dann den Stärkeren bei einer Gelegenheit verprügelt und so dessen »Herrschaft« ein Ende bereitet. Das Boxen habe er aber bald wieder aufgegeben:

Ein Boxer sei nämlich nicht der, sagte er, der immerzu boxte, sondern einer, der boxen könne. Leider jedoch boxten Boxer oft nur deshalb, weil sie Boxer seien, das ist ja das Unglück.

Auch Mark will daraufhin das Boxen erlernen, benutzt dann aber die erworbene Überlegenheit nicht im Sinne des Vaters, sondern um sich an einem Mitschüler zu rächen, der ihn verpetzt hat.

Für den Erzähler wird das Bild des Boxers offensichtlich zur verständnisleitenden Metapher des Buches: Aron hat sich gegenüber seinen Mitmenschen unangreifbar gemacht. Er ist ein Einzelkämpfer, der die meisten Mitmenschen als Gegner begreift, die es auf Distanz zu halten gilt. Zwar erreicht er, was er sucht: die Souveränität im eigenen Ring. Er bezahlt sie aber damit, dass er in eine unüberwindliche Isolation gerät. Selbst zu dem Menschen, dessen Glück und Wohlergehen im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns stehen, kann er keine wirkliche Beziehung aufbauen: Seine Gespräche mit Mark bleiben im Alltäglichen und Unpersönlichen stecken, kein wirkliches Verständnis entwickelt sich zwischen den beiden. Aron vermeidet es, sich in Marks Leben einzumischen, weil er selbst nicht will, dass man sich in sein Leben einmischt. Der aus der erfahrenen Fremdbestimmung durch den Terror des Nationalsozialismus erwachsene Wille zur Autarkie wendet sich an Ende gegen Aron selbst.

Sein letzter Kontakt »zur Welt« ist der Erzähler des Buches, und Aron wirbt mit seiner Lebensgeschichte um diesen Erzähler, nicht ohne ihn zugleich immer wieder von sich zu stoßen. Nur ein einzige Mal im Buch erleben wir Aron tatsächlich entspannt, als der Erzähler eine Spazierfahrt ins Blaue vorschlägt und dieses ziellose Fahren dann auch tatsächlich gelingt.

Als ich ihn zu Hause absetze, ist es schon dunkel, er sagt: »Das war mal eine gute Idee von dir.«

Wir wissen heute, dass Jurek Becker vieles aus der Lebensgeschichte seines Vaters in Der Boxer verarbeitet hat. Auch in dieser Hinsicht bietet das Buch eine bewegende und wichtige Lektüre zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Jurek Becker: Der Boxer. st 2954. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1998. 6,99 €.

Marcus Braun: Armor

braun-armor Dass Marcus Braun stark reduzierte Texte mit erstaunlichem Tiefgang schreibt, hatte er bereits mit seinem bemerkenswerten ersten Roman »Delhi« (Berlin Verlag, 1999) unter Beweis gestellt. Ich muss zugeben, dass ich ihn danach etwas aus den Augen verloren habe; zwar stehen »Nadiana« (Berlin Verlag, 2000) und »Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen« (Berlin Verlag, 2003) seit dem Erscheinen im Bücherschrank, aber es ist immer wieder »etwas dazwischen gekommen«. Nun ist sein vierter Roman bei Suhrkamp erschienen und erfüllt die Erwartung, die ich an »Delhi« entwickelt hatte.

Braun hat einen äußerst reduzierten Erzählstil (angesichts der deutlichen Anspielungen auf Arno Schmidt, die »Delhi« enthält, dürfte man sicherlich auch von einem »dehydrierten Stil« sprechen, wenn das nicht zu viele Leser abschrecken würde), der wenig Überflüssiges enthält. Schon der Titel ist für diesen Stil bezeichnend: ›Armor‹ ist das, was bei Lewis Carroll ein Portmanteau-Wort heißt. Nicht nur ist es eine Kurzform von ›Aremorica‹, der keltischen Bezeichnung für die Nordwestküste Frankreichs, sondern in ihm steckt auch das lateinische arma (die Waffen, aber übertragen auch der Krieg oder gar die Arglist) und natürlich steckt auch die Liebe und die Leidenschaft, amor, darin.

Es ist dementsprechend nicht überraschend, dass »Armor« wenigstens auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte erzählt, die in der Bretagne spielt. Protagonist ist Fabien, der mit Kate von Paris aus ans Meer unterwegs ist. Zwischen Saint-Malo und Cancale zerschlägt ihnen ein Stein die Windschutzscheibe ihres roten Alfa Romeo und sie kommen bei einer Zufallsbekanntschaft, Isabelle und ihrem sehr viel älteren Mann Jacques, unter. Da die einzige lokale Auto-Werkstatt nicht in der Lage ist, kurzfristig eine neue Frontscheibe zu besorgen, sehen sich Fabien und Kate genötigt, einige Zeit bei Jacques und Isabelle zu logieren. Jacques war früher Architekt und ist beim Bau eines Gezeitenkraftwerks reich genug geworden, um sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau Isabelle war zuerst die Geliebte seines Sohnes Arnaud, der vor einem Jahr beim Schwimmen ertrunken ist.

Was sich nun zwischen diesen vier Personen an zwi­schen­mensch­li­cher Dynamik entwickelt, könnte ohne weiteres als Vorlage eines Chabrol- Films dienen: Jacques, der weder den Tod seines Sohnes verarbeitet hat, noch Isabelles Unabhängigkeit oder seine eigene Untätigkeit so recht zu ertragen vermag, versucht ganz offensichtlich, Kate zu verführen, während Fabien zwischen seiner Begierde nach Isabelle (und Marie, aber das kann hier nicht auch noch dargestellt werden) und seiner Eifersucht hin- und hergerissen wird. Beinahe kann er Kate zur Abreise überreden, als er bei einem nächtlichen Badeausflug in einen Seeigel tritt, was weitere Verzögerungen und Verwicklungen mit sich bringt. Am Ende versorgt Braun den Leser gleich mit zwei Abschlüssen der Geschichte, wovon aber hier nichts weiter verraten werden soll.

All dies wird, wie schon gesagt, in einer kargen und durchtrainierten Prosa präsentiert, die mit Details geizt und den Leser zur aktiven Rekonstruktion des Geschehens zwingt. Man könnte hier den Verdacht haben, der Autor pflege einen artistischen Manierismus, aber diese Erzählweise ist tiefer begründet, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Bereits auf der Motto-Seite des Romans erscheint ein Zitat des Heiligen St. Malo (hier auch mit seinem keltischen Namen Maklou angeführt), der heute als nahezu komplett verschollen gelten darf. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass das Buch weit reicher unterfüttert ist, als es die beinahe banal anmutende Kri­mi­nal­hand­lung vermuten lässt: So ist Jacques etwa durch zahlreiche Details mit der Figur des Freibeuters Robert Surcouf, eines der berühmtesten Söhne der Stadt St. Malo, assoziiert. Sein wohl nicht ganz legal erworbener Reichtum, sein früher Rückzug ins Privatleben und nicht zuletzt sein an einen verwinkelten Fuchsbau gemahnendes Haus (Surcoufs letztes Schiff trug den Namen »Le Renard«, der Fuchs) sind einige der Anknüpfungspunkte für eine Verbindung der Figuren. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich auch für die anderen Figuren derartige Verwurzelungen in der Geschichte Saint-Malos oder der Bretagne finden lassen. Nun ist aber gerade Brauns karge Prosa bestens dazu geeignet, solche Assoziationsfelder im Text hervortreten zu lassen, ohne dass sie den Erzählfluss oder die Oberflächenhandlung stören. Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Braun bei Arno Schmidt nicht nur erfolgreich in die Schule gegangen, sondern auch mit einem eigenständigen Stil und Assoziationsfundus aus dieser Schule hervorgegangen ist.

Es wird abzuwarten bleiben, ob Marcus Braun sich mit dieser reduzierten und zugleich anspruchsvollen Prosa ein adäquates Publikum erobern kann. Für mich gehört er derzeit zu den artistisch interessantesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn ich mit dem »Krimi«-Anteil dieses Buches nicht allzu viel anfangen kann.

Marcus Braun: Armor. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Pappband, 187 Seiten. 17,80 €.

Literaturskandal um zamonischen Großdichter

Anlässlich des gerade erschienenen Buches »Der Schrecksenmeister« hat der zamonische Autor Hildegunst von Mythenmetz schwere Vorwürfe gegen seinen Übersetzer Walter Moers erhoben. Moers antwortet schlagkräftig in der Wochenschrift »Die Zeit«. Für Leser des Buches dürfte die folgende Passage wichtig sein:

Ausgerechnet Hildegunst von Mythenmetz, der Gofid Letterkerls schmale Novelle zum dicken Roman ausbaut, sich also schamlos eines vorhandenen Fundamentes bedient, macht mir den Vorwurf des geistigen Diebstahls. Die Literaturgeschichte ist nicht arm an solchen Beispielen. Ist nicht letztendlich jede Reiseerzählung eine Odyssee? Ist nicht jedes epische Märchen ein Abklatsch der Nibelungen- oder Artussage? Jede Detektivgeschichte ist Edgar Allan Poe zu verdanken, der das Genre erfand. Und jedes Werk der Science-Fiction schuldet seine Existenz eigentlich Shakespeares Sturm. Sind deshalb alle Autoren von Märchen, von Detektiv- oder Science-Fiction-Romanen Diebe und Plagiatoren?

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P.S.: Wie wir herausfinden konnten, liegt dem Mythenmetzschen Roman wohl die Novelle »Schakal spendet Ziege« von Gofid Letterkerl zugrunde, auch wenn das Nachwort nur den viel späteren, abschwächenden Titel der Neuauflage »Echo, das Kätzchen« erwähnt.

Roger Paulin: Theodor Storm

Um Storm scheint es derzeit etwas ruhig zu sein: Außer der veralteten Rowohlt-Bildmonographie von Hartmut Vincon ist derzeit wohl keine Storms Leben vollständig beschreibende Biographie auf dem Markt. Die beiden letzten stammen, soweit ich sehe, von Georg Bollenbeck (Insel, 1988; demnächst in diesem Theater) und eben Roger Paulin, der innerhalb der Reihe der Beck’schen Autorenbücher ein Storm-Porträt abliefert.

Wie bei der Reihe üblich, ist das Buch zugleich Kurzbiographie und Werkeinführung und zielt auf eine studentische Leserschaft ab, die sich schnell einen Überblick zu einem Autor verschaffen will. Diesem Anspruch genügt das Buch vorbildlich. Paulin ist offensichtlich ein exzellenter Kenner Storms und findet bei der Besprechung ein ausgewogenes Verhältnis von Prosa und Lyrik – er schließt sich übrigens Storms Selbsteinschätzung an, einer der bedeutendsten Lyriker des 19. Jahrhunderts zu sein. Er geht bei der Erschließung der Werke von der Autorenpoetik aus und setzt Storms Dichtung von den zeitgenössischen Hauptströmungen ab, ohne sie dabei in die Kategorie Heimatdichtung abzuschieben. Auch persönliche und ökonomische Bedingungen der Produktion werden knapp, aber treffsicher thematisiert. Angesichts des derzeitigen Mangels an Biographischem zu Storm ist es trotz seinem nicht unbeträchtlichen Alter zu bedauern, dass dieses Buch von Beck nicht weiter aufgelegt worden ist.

Roger Paulin: Theodor Storm. Beck’sche Reihe 622. München: Beck, 1992. 144 Seiten.

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

braun-litgeschEine etwas andere Literaturgeschichte will Peter Braun mit diesem Buch liefern. Es wendet sich offensichtlich an jugendliche Leser, deren Sympathien Braun im Vorwort dadurch zu gewinnen sucht, dass er feststellt, er selbst erinnere sich an keine einzige seiner Schullektüren, habe dann aber später das Lesen für sich entdeckt usw. usf. Diese Misere sei durch eine falsche Präsentation der Literatur in den Schulen zu verantworten, und seine andere Literaturgeschichte erzähle nun die spannenden Geschichten über die Autoren klassischer Werke, die in Brauns Schulausbildung nie erwähnt wurden.

So weit, so gehöft. Man kann eine solche Theorie natürlich vertreten, und ob sie viel besser oder schlechter als irgendeine andere das Phänomen beschreibt, dass die Schule aus den wenigsten Schülern gute Leser macht, mag dahingestellt bleiben. Merkwürdigerweise fehlen ähnliche Klagen über den Mathematik-Unterricht beinahe vollständig, obwohl sicherlich noch deutlich weniger gute Mathematiker aus diesem Unterricht hervorgehen als gute Leser aus dem Deutsch-Unterricht. Lassen wir das auf sich beruhen.

Brauns Ansatz ist nach diesem Auftakt berauschend unoriginell. Auch er tut nichts als das, was ein guter Deutsch-Unterricht auch tun sollte: Er stellt Autoren und behandelte Werke in den Zeithorizont ein, erzählt, warum diese Bücher für die Zeitgenossen spannend waren und was die behandelten Texte vor anderen ihrer Zeit auszeichnet. Er bedient sich dabei einer lockeren Schreibe, von der ich mir durchaus vorstellen kann, dass Jugendliche damit ganz gut zurecht kommen. Ich schlage das Buch auf und lese:

Heine war aus dem geistig engen, miefigen Deutschland nach Paris gezogen. Von dort aus schrieb er gegen die gesellschaftliche Eiszeit in Deutschland an, das in der politischen Winterstarre verharrte, die Heine zeit seines Lebens nicht ruhen ließ. »Denk ich an Deutschland in der Nacht«, schrieb er in Deutschland. Ein Wintermärchen, »dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Der Titel passte zu diesem bedeutendsten Werk Heinrich Heines. [S. 90]

Nein, das schrieb Heine nicht in Deutschland. Ein Wintermärchen, sondern im Gedicht Nachtgedanken, und selbstverständlich haben diese Zeilen auch gar nichts mit der politischen Opposition Heines gegen das bürgerliche Deutschland zu tun – auch wenn sie immer und immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert werden von all denen, die Heine im Munde führen, aber nicht in den Köpfen haben –, sondern die Nachtgedanken des Gedichtes drehen sich um die Mutter, die in Deutschland lebt und die der Dichter seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land;
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Ob nun tatsächlich Deutschland. Ein Wintermärchen Heines bedeutendstes Werk ist, mag immerhin Geschmackssache sein und soll daher nicht diskutiert werden. Doch beginnen wir mit dem Lesen vorn:

Kriegszeiten sind Notzeiten, und weil Lessing sich durchschlagen musste, wurde er Schreiber eines Generals. Die eintönigen Feldlager aber ließen ihm die Freiheit zu schreiben – und zu spielen. [S. 22]

Das ist ja verständlich: Siebenjähriger Krieg, Lessing Sekretär – nicht Schreiber; das war ein gänzlich anderer Beruf – bei einem General, da wird es wohl ein Leben in Feldlagern gewesen sein. Nun war Bogislaw von Tauentzien zwar preußischer General, aber er war wesentlich auch Stadtkommandant von Breslau, und die Belagerung Breslaus durch Gideon Ernst von Laudon im Sommer 1760 war längst vorüber, als Lessing in Breslau erscheint. Von Feldlager kann also keine Rede sein. Nun könnte man über Lessings Breslauer Zeit die spannende Geschichte von dem Verdacht erzählen, dass Lessing vielleicht in die illegalen Münzgeschäfte des Generals von Tauentzien verwickelt war, aber dazu müsste man sich eben auskennen. Doch vielleicht hat Braun ja wenigstens einige Kenntnise des Werks:

Tellheim will die Verlobung lösen, um Minna nicht ins Unglück zu stürzen. Minna greift zur List: Sie sei enterbt, weil sie zu ihm halte. Der redliche Tellheim borgt sich Geld, löst den Verlobungsring aus, den sie verpfändet hat, will Minna beistehen und heiraten. [S. 24]

Wie belieben? Minna hat einen Verlobungsring verpfändet, den Tellheim dann auslöst? Da hätte ein Blick ins Buch auch nicht geschadet. Lesen wir weiter bei Goethe:

Überall und ständig wurde von nun an geflucht, ob im Alltag oder an den Höfen, und so auch am Weimarer Hof, dessen Herzog gerade erst achtzehn geworden war, als er Goethe zu sich einlud, weil er vom Götz begeistert war.

»In Weimar geht es erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethe wie ein wilder Bursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.« Um den jungen Herzog zu zerstreuen, veranstaltete Goethe Feste, Jagden, lagerte mit ihm im Wald, badete mit ihm in eiskalten Bächen und wurde dafür belohnt.

Das geklitterte Zitat über die Weimarer Zustände stammt aus einem Brief von Johann Heinrich Voß an seine Verlobte Ernestine Boie vom 14. Juli 1776. Voß sitzt zu diesem Zeitpunkt in Wandsbek und unterhält seine Briefpartnerin mit dem neuesten literarischen Klatsch. Er selbst weiß gar nichts über die Lage in Weimar, sondern reproduziert – wie die meisten anderen auch – nur die vom erzürnten Weimarer Adel gestreuten Gerüchte, die Goethe diskreditieren sollen. Verlässlicher ist da ein Wort Wielands über diese frühe Zeit Goethes in Weimar:

[…] Göthe, dessen große Kunst von jeher darin bestand, die Convenienzen mit Füssen zu treten, und doch dabei immer klug um sich zu sehn, wie weit ers gerade überal wagen dürfe. [zu Böttiger, 19. Januar 1797]

»Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.« – Und Goethe ist also Weimarer Minister geworden zum Dank für die Feste und Jagden, die er organisiert hat? Wie schrieb Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in dieser Sache an seinen ersten Minister Jakob Friedrich von Fritsch:

Sie fordern … Ihre Dienstentlassung, weil, sagen Sie, Sie nicht länger in einem Collegio, wovon der Dr. Goethe ein Mitglied ist, sitzen können. Dieser Grund sollte eigentlich nicht hinlänglich sein, Ihnen diesen Entschluß fassen zu machen. Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen. Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen. Nicht alleine ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt. Sie werden selbst einsehen, daß ein Mann wie dieser nicht würde die langweilige und mechanische Arbeit, in einem Landescollegio von unten auf zu dienen, aushalten. Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen … Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setzte, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses verändert gar nichts. Die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich aber und jeder, der seine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm u erlangen, sondern um sich vor Gott und seinen eignen Gewissen rechtfertigen zu können, und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln. [10. Mai 1776; Hervorhebung nicht im Original.]

Und so geht das fort und fort bei Braun: Goethe »entledigt« sich Schillers, indem er ihm eine Professur in Jena verschafft [S. 45] – wo Braun wohl meint, dass Jena liegt? »Mit Schillers Tod war das Jahrzehnt der Weimarer Klassik zu Ende. Der Bund Goethes und Schillers war schon weit früher zerbrochen.« [S. 54]

Feine Damen […] träumten sich fort zu den Inseln der Südsee, weil der ausgesetzte Matrose Alexander Selkirk von seinem einsamen Eiland gerettet worden war und Daniel Defoe sein Schicksal in Robinson Crusoe bekannt gemacht hatte. [S. 74]

Die Südsee-Begeisterung des 18. Jahrhunderts wurde also durch Defoes Roman ausgelöst und nicht durch die märchenhaften Berichte von den Reisen Bougainvilles und Cooks? Und der Vorwurf, Defoe habe im Robinson Crusoe in der Hauptsache aus Selkirks Tagebuch abgeschrieben, wird durch sein ehrwürdiges Alter auch nicht richtiger. Was Wunder, dass da E. T. A. Hoffmanns Märchen einmal mehr »Der goldene Topf« [S. 75] und Kleists Theaterstück »Der zerbrochene Krug« [S. 60] heißen. Ich will es gut sein lassen.

Über den titelgebenden Taugenichts stehen drei nichtssagende Sätze in dem Buch – und so ist auch der Rest! Peter Braun hat wenig Ahnung, wovon er schreibt. Alles ist viertelsgewusst und halbverdaut, und es ist ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit Literatur, dass ein solcher Käse gedruckt und positiv besprochen werden kann.

Von einer Verbreitung dieses Buches ist dringend abzuraten!

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf. Eine etwas andere Literaturgeschichte. Bloomsburry Kinderbücher & Jugendbücher. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Pappband, 224 Seiten. 14,90 €.