Norbert Kohl: Oscar Wilde

Die wesentliche biografische Quelle zu Oscar Wilde ist immer noch Richard Ellmanns Buch von 1988 (deutsch 1991). Aber natürlich haben Verlage und Leser das Bedürfnis nach Neuem, so dass zum letzten Wilde-Jubiläumsjahr 2000 die entsprechenden Bücher in Auftrag gegeben wurden. So auch die Biographie von Norbert Kohl bei Insel. Kohls Biographie hat den unbestreitbaren Vorteil, deutlich kürzer ausgefallen zu sein als die beinahe 800 enggedruckten Seiten Ellmanns. Außerdem liest es sich angenehm glatt weg, wenn auch der Autor hier und da zur Phrase neigt, besonders wenn es zur Interpretation einzelner Werke kommt.

Auszukennen scheint er sich recht gut, soweit ich das beurteilen kann, was auch dadurch dokumentiert ist, dass Kohl parallel zur Biographie eine kleine Quellensammlung herausgeben hat (Oscar Wilde im Spiegel des Jahrhunderts). Insbesondere die Darstellung der Prozesse und der letzten Lebensjahre fand ich konzise und überzeugend.

Ein echter Höhepunkt findet sich gegen Ende, als es um die für den öffentlichen Geschmack etwas zu prominent ausgefallenen Geschlechtsteile des Grabmonuments Wildes geht:

Kaum war Epsteins Grabmonument im Jahre 1912 aufgestellt worden, als es auch schon das Mißfallen des »conservateur en chef du Père-Lachaise« erregte, dem die Größe der Genitalien mißfiel. Nachdem alle Bemühungen, die anstößigen Teile mit Gips zu ummanteln bzw. hinter einem bronzenen Feigenblatt als cache-sexe zu verbergen, nichts fruchteten, weil sie immer wieder entfernt wurden, umhüllte man kurzerhand das gesamte Grabmal mit einer Plane. Erst ab 1914 war es wieder zu besichtigen. Noch 1961 nahmen Unbekannte an der ausgeprägten Männlichkeit des geflügelten Wesens Anstoß und schlugen ihm beide Testikel ab, die fortan dem Konservator des Friedhofs als Briefbeschwerer (!) dienten und seit langem verschollen sind.

Ich denke, zumindest dieses Detail der Nachwirkung Oscar Wildes sollte bekannter sein.

Norbert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Werk. Frankfurt/M.: Insel, 2000. Pappband, Fadenheftung, 344 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies

Diese Geschichte Europas der frühen Neuzeit (1517–1648) gehört in die Reihe der Penguin Geschichte Europas, aus der hier schon der Band von Ian Kershaw zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen wurde. Es scheint mir interessant, dass man bei Random House offenbar nicht davon überzeugt ist, dass die gesamte Reihe für die eigene Verlagsgruppe attraktiv ist, so dass wir einzelne Bände wohl noch in anderen Verlagen erwarten dürfen. Die Reihe lässt sich aus zwei Bänden natürlich nicht beurteilen, aber der allgemeine Eindruck ist durchaus positiv.

Der Originaltitel des Bandes ist etwas deutlicher als der der Übersetzung: “Christendom Destroyed” macht eines der zentralen Konzepte des Autors sofort deutlich, während der literarischere deutsche Titel suggeriert, beim späten Mittelalter habe es sich um eine Art von Paradies gehandelt, wovon in keiner Weise die Rede sein kann und im Buch auch nicht ist.

Der Autor liefert eine sehr detailorientierte Geschichte der Zeit, die bei sehr konkreten Lebensumständen (Wohnverhältnisse, Siedlungsformen, Lebenserwartung, Familienplanung, Ehe, Erbrecht, Primogenitur, Krieg und Krankheiten, Hungersnöte, Klima, Sonnenflecken, Vulkanausbrüche, Essensgewohnheiten und unklare Todesursachen – alles in dieser Reihenfolge) beginnt und sich langsam zu dem vorarbeitet, was man gemeinhin als große Geschichte von einem Geschichtsüberblick erwartet. Wie schon angedeutet, legt der Autor ein bedeutendes Gewicht auf das religiöse Schisma der Reformation, das er einerseits mitverantwortlich macht für einen wesentlichen Wandel im Verhältnis zwischen Untertanen und herrschender Klasse. Andererseits sieht er ein, dass nicht alles, was in der frühen Neuzeit nach einem religiösen Konflikt aussieht, tatsächlich religiöse Ursachen hat oder religiöse Ziele verfolgt.

Es lassen sich dem Buch eine Vielzahl interessanter Details entnehmen, wenn auch die Darstellung hier und da seltsame blinde Flecken aufweist: Kein einziger Satz zur Entstehung der King James Bible, obwohl andere Bibelübersetzungen ausführlich besprochen werden, eine einzige flüchtige Erwähnung der Mayflower und was der Kleinigkeiten mehr sind.

Als ganz und gar missraten muss aber die deutsche Übersetzung angesehen werden, die das Buch gänzlich unnötig aufbläht und den eher lakonischen Stil des Autors durch eine besserwisserische Geschwätzigkeit ersetzt:

auswird
“The Ottomans also turned themselves into a naval power.”„Die Osmanen betrieben auch Flottenbau, um Seemacht zu werden.“
“Protestant reformers undermined pilgrimage to the Holy Places.”„Die Reformatoren hielten Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten ohnehin für unwichtig.“
“By 1650, over 180 tons of gold had been exported from the Indies, and 16,000 tons of silver from the New World.”„Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16.000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt.“

Gerade dieser letzte Zusatz aus der Phantasie des Übersetzers ist besonders ärgerlich, da wenige Seiten zuvor ausdrücklich thematisiert wurde, dass ein bedeutender Anteil des Peruanischen Silbers nach China exportiert wurde.

Zum Ausgleich dafür lässt der Übersetzer an anderen Stellen willkürlich Wörter und auch schon einmal ganze Sätze weg, ändert die Reihenfolge der Sätze, die er doch noch die Freundlichkeit besitzt zu übersetzen, und nimmt sich auch sonst all die Freiheiten heraus, die seine Tätigkeit früher einmal zu einem der phantasievollsten im holzverarbeitenden Gewerbe machten. Gleichgültig, wo man die Übersetzung aufschlägt, bietet sich einem dasselbe Bild. Kurz gesagt: Die Übersetzung macht das Buch für einen ernsthaft interessierten Leser vollständig unbrauchbar. Mit ist unklar, warum eine Organisation wie die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine solche Katastrophe zum Druck befördert.

In Details durchaus interessant, im Ganzen wenig überraschend, auf Deutsch ungenießbar.

Mark Greengrass: Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, 781 Seiten. 39,95 €.

Oscar Wilde: Komödien

Die Wahrheit ist selten rein und niemals schlicht. Unser zeitgenössisches Leben wäre sehr uninteressant, wenn sie auch nur eins von beiden wäre, und zeitgenössische Literatur ein Ding der völligen Unmöglichkeit.

Der hier besprochene Band entstammt der etwas merkwürdigen, fünfbändigen Werkauswahl Oscar Wildes, die 1999 im Vorfeld des 100. Todestages bei Haffmans in Zürich erschienen ist. Die Ausgabe ist auf der einen Seite fraglos sehr hübsch gestaltet, durchweg neu übersetzt, auf Dünndruckpapier gedruckt und  fadengeheftet, in ein schillerndes, silbergraues Leinen gebunden und mit ungewöhnlichen, wachspapiernen Schutzumschlägen versehen.  Auf der anderen Seite kommt sie mit dem – möglicherweise selbstironischen – Anspruch daher, sie verstehe sich „als die definitive deutsche OSCAR WILDE WERKAUSGABE für das nächste Jahrtausend.“

Selbst wenn man davon absieht, dass der Verlag gleich im ersten Jahr dieses nächsten Jahrtausends Konkurs angemeldet hat, ist auch die Auswahl aus den Werken von der Art, dass von definitiver Werkausgabe kaum die Rede sein kann: Keines der Gedichte Wildes wurde übersetzt, bei den Theaterstücken liefert man nur die vier Komödien, “De Profundis” fehlt ebenso wie alle frühen essayistischen Schriften; die Frage, ob “The Portrait of Mr. W.H.” überhaupt unter die Essays gehört, ließe sich immerhin diskutieren.

Wie dem auch sei, Haffmans legte in Band 5 der Werkauswahl die vier Gesellschaftskomödien, die in England Wildes populären Ruhm begründeten, in einer frischen Übersetzung durch Bernd Eilert vor. Eilerts Texte sind auf der Höhe des Wildeschen Humors, was für die Komödien das wichtigste Kriterium der Übersetzung zu sein scheint; da ich seit langem nicht mehr ins Theater gehe, habe ich leider keine Ahnung, inwieweit sich Eilerts Übersetzung auf den deutschen Bühnen durchgesetzt hat, bzw. ob man Wilde dort überhaupt noch in bedeutendem Umfang spielt.

Die Komödien sind im Einzelnen:

— Lady Windermeres Fächer ist eine moralische Ge­sell­schafts­ko­mö­die, deren titelgebende Protagonistin ihren Mann einer Affäre verdächtigt. Der Knoten des Stücks wird geschürzt, indem Lord Windermere seine misstrauische Gattin dazu nötigt, seine mutmaßliche Geliebte Mrs. Erlynne zu einer Abendgesellschaft einzuladen, um sie gesellschaftsfähig zu machen und ihr die Heirat mit dem in sie vernarrten Lord Augustus Lorton zu ermöglichen. Windermeres Absicht ist es im Wesentlichen, Mrs. Erlynne loszuwerden, die ihn damit erpresst, dass sie öffentlich bekannt machen könnte, die Mutter von Lady Windermere zu sein und so deren Ruf gesellschaftlich zu ruinieren.

Die Komödie arbeitet in der Hauptsache mit den üblichen Tricks der Halb- und Uninformiertheit ihrer Figuren, die in einem vom Publikum vollständig durchschauten Labyrinth der Missverständnisse herumtaumeln. Die hohe Moralität Lady Windermeres wird von der mütterlichen Aufopferung der vermeintlich bösen Mrs. Erlynne übertrumpft, mit der dann aber auch nicht so endgültig ernst gemacht wird, damit das Stück nicht nur alles in allem, sondern auch im Detail gut ausgeht. Eine wirkliche Auflösung fehlt: Wilde hält das System von Lügen, auf dem die Moralität der vorgeführten Gesellschaft beruht, aufrecht. Er spielt nur für einen kurzen Moment im 4. Akt mit dem Umschlagen der Handlung in eine Tragödie, die im Stück durchaus angelegt ist, um das Publikum wenigstens an einer Stelle aus dem Dusel der Überlegenheit aufzustören, glättet aber alles gleich wieder, wie es sich für eine Komödie gehört.

— Eine Frau ohne Bedeutung ist Wildes ernsteste und schwergängigste Komödie. Im Zentrum steht eine Variation der Mrs. Erlynne, Mrs. Arbuthnot, die aufgrund eines unehelichen Kindes, Gerald, aus der Gunst der Guten Gesellschaft herausgefallen ist. Gerald wird nun durch einen Zufall unwissentlich von seinem Vater Lord Illingworth als Sekretär angestellt, was dem jungen Mann nicht nur den Weg in die Bessere Gesellschaft öffnet, sondern ihm auch ermöglichen würde, der von ihm heimlich geliebten Miss Hester Worsley, einer jungen US-Amerikanerin, einen Heiratsantrag zu machen.

Die eigentliche Handlung spielt hauptsächlich auf dem Landsitz von Lord und Lady Pontrefact, auf dem sich alle relevanten und einige zusätzliche Figuren aufhalten. Mrs. Arbuthnot wohnt in der Nachbarschaft und wird, als Mutter des anwesenden Sekretärs Gerald, ebenfalls zu Besuch geladen. Es kommt natürlich zur entlarvenden Gegenüberstellung von Mrs. Arbuthnot und Lord Illingworth. Illingworth, ein in die Jahre gekommener, zynischer Dandy, reagiert ganz pragmatisch auf die vorgefundene Situation: Er ist bereit, die Mutter seines Sohnes zu heiraten, diesem ein Gutteil seines Nachlasses zu vermachen und ihm so wenigstens halbwegs die Anerkennung der Guten Gesellschaft zu verschaffen. Mrs. Arbuthnot lehnt diesen Vorschlag rundweg ab: Sie hat vor zusammen mit ihrem Sohn und ihrer künftigen Schwiegertochter nach Amerika zu gehen und dort ein von den Zwängen der englischen Gesellschaft befreites, neues Leben zu beginnen.

Über diese Entgegensetzung kommt die Komödie letztendlich nicht hinaus, im Komödiensinne findet keine Auflösung des zugrunde liegenden Konfliktes statt. Sicherlich geht es in einem ungewissen Sinne gut aus, und die Protagonistin bewahrt ihre moralische Integrität, aber dies nur um den Preis der endgültigen Ablösung von der Bühnengesellschaft. Das Stück geht überhaupt nur deshalb als Komödie durch, weil es einerseits mit einer breiten Parodie des gesellschaftlichen Lebens des englischen Adels beginnt und es andererseits das „Amerika, du hast es besser“ als utopischen Ausblick verkaufen kann. Wilde war mit der Moral seiner Komödie sicherlich zufrieden; mit der Komödie selbst hätte er es besser nicht sein sollen.

— Ein idealer Ehemann zeigt einen erheblichen Fortschritt Wildes als Komödienautor. Diesmal kehrt die Protagonistin seiner ersten Komödie als Lady Chiltern zurück. Auch sie ist von hoher, offiziöser Moral, hält die höchsten Stücke auf ihren politisch aktiven Ehemann, dem eine bedeutende politische Karriere bevorzustehen scheint. Auch diesmal taucht eine zwielichtige Frau im Leben von Sir Chiltern auf, die mit ihm durch seinen früheren Mentor verbunden ist. Diese Mrs. Cheveley besitzt einen Brief, der beweist, dass Chiltern seine politische Karriere und sein Vermögen auf den Verrat eines Staatsgeheimnis gegründet hat; sie will Chiltern dazu nötigen, sich in seiner Funktion als Unterstaatssekretär des Außenministeriums für eine Börsenspekulation stark zu machen, in die Mrs. Cheveley ihr Vermögen investiert hat. Chiltern steht aber unmittelbar davor, gerade diese Spekulation als Betrug zu entlarven. Er ist sich einerseits bewusst, dass das Bekanntwerden seines Verrats nicht nur seine politische Karriere, sondern auch die Ehe mit seiner hoch moralischen Frau beenden wird. Andererseits würde auch der von Mrs. Cheveley geforderte Meinungswechsel ihn in einen fatalen Konflikt mit seiner Ehefrau stürzen. Der geschürzte Knoten scheint unauflöslich und notwendig in eine Katastrophe zu führen.

Die Auflösung hängt Wilde an eine der gelungensten Nebenfiguren der Literatur des gesamten 19. Jahrhundert: Viscount Goring verkehrt im Hause der Chilterns nicht nur als enger Freund des Ehemannes, sondern er ist ebenso ein heimlicher Bewunderer Lady Chilterns und der Ehemann in spe von Roberts Schwester Mabel. Lord Goring ist der ideale Dandy, geistreich und zugleich oberflächlich, intellektuell und albern, in einem tiefen Sinne moralisch und zugleich jede Forderung der gesellschaftlichen Moral verwerfend. Er und die leichtlebige, witzige Mabel bilden das ideale Komödienpaar des Stücks. Goring ist aber nicht nur dies, sondern er ist auch ein früherer Liebhaber Mrs. Cheveleys und anscheinend deren einziger Schwachpunkt. Und Goring wiederum hat ein Mittel zur Erpressung der Erpresserin in der Hand, womit er die Herausgabe des belastenden Briefes erzwingt, den er sogleich verbrennt. Chiltern bewährt sich, ohne zu wissen, dass er bereits gerettet ist, aufs Beste und entlarvt, wie geplant, den Börsenbetrug, und nach ein paar weiteren Wendung und Drehung endet alles so gut, wie man es von einer Komödie erwarten darf; sogar eine Hochzeit zeichnet sich ab: Mabel und Lord Goring gehen fröhlich in das Glücksversprechen des 19. Jahrhunderts ein.

Man kann kaum umhin, Wilde für diese Komödie hohe Anerkennung zu zollen: Sowohl ist der zugrunde gelegte Konflikt ist in seiner scheinbaren Ausweglosigkeit mutig als auch ist die Art der Auflösung dieses und der zusätzlich mit Bedacht eingeführten kleineren Verwerfungen von einer Eleganz, die ihresgleichen sucht. Das ganze Stück läuft wie eine wohl geölte Maschine ab, obwohl der analytische Zuschauer nach dem 1. Akt fürchten muss, dass es dem Autor katastrophal missraten wird. Zudem zieht sich durch das ganze Stück nicht nur ein sprachlicher Witz, sondern zudem ein tief menschlicher Humor, der am Ende alle Figuren ein wenig demütig und wehmütig zurücklässt. Dieses Stück präsentiert ein ganz seltenes Zusammengehen von dramaturgischer Finesse und inhaltlicher Souveränität.

— Ernst – und seine tiefere Bedeutung ist Wildes leichteste und wahrscheinlich auch von daher beliebteste Komödie. Bereits der Untertitel „Eine triviale Komödie für ernsthafte Leute“ weist darauf hin, dass Wilde sich hier von dem Versuch verabschiedet, Moral auf der Bühne mit einiger Ernsthaftigkeit zu diskutieren. Stattdessen liefert er einen Komödienplot, wie er auch heute noch jede gute Boulevardkomödie ziert: John Worthing, als Findelkind von einem gutherzigen Adeligen großgezogen, lebt ein Doppelleben: Einerseits ist er ein verdienstvolles Mitglied der ländlichen Gesellschaft um seinen Herrensitz herum, andererseits führt er unter der Identität seines leichtlebigen Bruders Ernst ein lockeres Junggesellendasein in London. Dort ist er nicht nur eng befreundet mit dem finanziell etwas angestrengten Adeligen Algernon Moncrieff, er ist auch verliebt in dessen Cousine Gwendolen Fairfax, der er gleich zu Anfang des Stücks einen Heiratsantrag macht, der von ihr freudig angenommen, von ihrer Mutter Lady Bracknell aber aufgrund der unklaren Herkunft Worthings irritiert abgewiesen wird.

Nach dem diesen Knoten etablierenden 1. Akt verlegt Wilde die restliche Handlung auf den Landsitz Worthings, auf dem Algernoon am nächsten Tag auftaucht und sich als Johns Bruder Ernst ausgibt, den John in der Stadt verfehlt habe. Algernon verliebt sich augenblicklich in Johns Mündel Cecily, die wiederum längst eine Phantasie-Verlobung mit dem von ihr erträumten Ernst Worthing eingegangen ist. Natürlich verkompliziert die Ankunft zuerst Johns und dann Gwendolens die Lage, die durch das Eintreffen von Lady Bracknell abschließend auf die Spitze getrieben wird. Ebenso natürlich geht alles so gut aus, wie man das bei einem solchen Plot erwarten darf: Es hagelt geradezu glückliche Eheschließungen, alle, die sich kriegen sollen, kriegen sich und noch mehr, John und Algernon sind tatsächlich Brüder, und selbst Gwendolens Obsession mit dem Vornamen Ernst – die dem ganzen Stück seinen zweideutigen Titel gibt – wird zu einem guten Ende geführt. Nicht umsonst lässt Übersetzer Eilert Wildes Lady Bracknell ganz am Ende feststellen: „das sieht mir hier doch alles stark nach Volkstheater aus.“ (Einer der frechen Eingriffe in den Text; bei Wilde lautet Lady Bracknells abschließende Bemerkung weit weniger deutlich: “My nephew, you seem to be displaying signs of triviality.”)

Der Trivialität der Handlung und ihrer gänzlich unbesorgten Durchführung steht ein hohes Niveau sprachlichen und inhaltlichen Witzes zur Seite, die das Stück aus der Massenware der Trivialkomödien heraushebt. Der durchweg ironische Umgang der Hauptfiguren mit sich selbst und untereinander, die unsinnig sinnigen Dialoge, das konsequente, oft gewollte Aneinander-Vorbeireden und die durchgehend als reines Spiel markierte Handlung bilden den Kern des Erfolgs dieses Stückes.

Es ist sehr, sehr bedauerlich, dass Wildes Karriere durch den Hass und die Intoleranz seiner Zeit und Zeitgenossen so gewaltsam beendet worden ist. Er hätte mit Sicherheit noch zahlreiche Meisterstücke für die Bühne geliefert, vielleicht am Ende sogar noch erreichen können, dass man ihn auch in seiner Wahlheimat England als tragischen Dramatiker anerkannt hätte. So müssen wir wie immer Vorlieb nehmen mit dem, was wir haben.

Oscar Wilde: Komödien. Aus dem Englischen von Bernd Eilert. Werke in 5 Bänden, Bd. 5. Zürich: Haffmans, 1999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 632 Seiten. Derzeit noch lieferbar in einer einbändigen Ausgabe der Werkauswahl bei Zweitausendeins.

Laurence Sterne: Werke und Briefe

Man ist überfordert darin, Bücher zu schreiben und auch noch Köpfe zu finden, die sie verstehen.

Der Übersetzer Michael Walter hat seine Arbeit an den Schriften Laurence Sternes fortgesetzt, so dass im 250. Todesjahr zum ersten Mal so etwas wie eine Werkausgabe Sternes auf Deutsch vorliegt. Die leichte Einschränkung ergibt sich daraus, dass ein um­fäng­li­cher Teil der Werke Sternes, seine Predigten, zwar auf Deutsch vorliegen – zuletzt 1921 bei Georg Müller –, den deutsch­spra­chi­gen Lesern aber offenbar nicht mehr zugemutet werden sollen. Sozusagen zum Ausgleich liefert die Ausgabe alle bekannten Briefe Sternes in deutscher Übersetzung.

Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, hat Sterne nur gut acht Jahre als Schriftsteller im eigentlichen Sinne gearbeitet und im Grunde nur zwei fragmentarische Werke hinterlassen: Zum einen neun Bände des „Tristram Shandy“, der seinen Ruhm als Schriftsteller begründete, zum anderen die beiden Bände der „Empfindsamen Reise“, die nur die erste Hälfte des geplanten Umfangs enthalten. Der Erfolg des späteren Werks gründet sich hauptsächlich auf den sensationellen Erfolg des früheren, das seinen Autor im Jahr 1759 praktisch über Nacht zu einem Star der besseren Gesellschaft Londons gemacht hatte. Sterne war ein skrupelloser Promoter seiner selbst, der im Erfolg seines Romans mit Recht seine einzige Chance auf finanzielle Un­ab­hän­gig­keit erkannte. Dementsprechend sollte er bis zu seinem Lebensende nicht aus den Schulden herauskommen. Das Hauptwerk des „Tristram Shandy“ füllt denn auch den ersten Band der Ausgabe.

Um weitere Werke im eigentlichen Sinne ist es, außer den durchaus zahlreichen Predigten, etwas dünn bestellt. Es existiert eine politische Satire, die sich mit klerikalem Ämterklüngel in York aus­ein­an­der­setzt, ein „Fragment in Rabelais’scher Manier“ (eine offensichtliche Handübung zum „Tristram Shandy“), das nach fünf Seiten ab­ge­bro­chen wurde, zwei Gedichtlein, eine Sammlung von Briefen an die späte Geliebte Eliza, die bereits von den Zeitgenossen mehr aus Not zum postumen Werk erklärt worden ist, und schließlich noch ein Journal für eben dieselbe Geliebte, das Sterne als Ersatz für die Fortsetzung seiner Briefe geführt hat, als sich Elizabeth Draper  auf einem Schiff in Richtung auf ihren in Indien lebenden Ehemann befand. Diese ärmliche Ansammlung von Werken bildet zusammen mit der „Empfindsamen Reise“ den Inhalt des zweiten Bandes dieser Ausgabe; die Herausgeber trifft kein Vorwurf: Sieht man von dem Korpus der Predigten ab, gibt es einfach nicht mehr.

Die Waltersche Übersetzung der „Empfindsamen Reise“ ist seit ihrem Erscheinen 2010 noch einmal gründlich überarbeitet worden, wobei ich anhand vorgenommener Stichproben keine eindeutige Tendenz der Überarbeitung habe erkennen können: An zahlreichen Stellen erscheint der jüngere Text straffer und kürzer, an wieder anderen zeigt er eine stärkere Neigung zu einem historischen Sprachstand. Es mag am Ende eine Ge­schmacks­fra­ge bleiben, welche der Fassungen man vorzieht. Auf einen Vergleich des „Tristram Shandy“ habe ich verzichtet, da ich mir – bei allem Respekt vor Walters Können und seiner Ausdauer – nicht noch eine Ausgabe der Walterschen Übersetzung antun wollte.

Den Omphalos der Ausgabe aber bildet der Briefband, der, wie schon gesagt, alle derzeit bekannten Briefe Sternes enthält. Diese Briefe bilden die Hauptquelle für die Biographie Sternes. Naturgemäß ist der Anteil der erhaltenen Briefe für seine letzten Lebensjahre deutlich höher, wenn auch immer noch nicht so, dass man daraus tatsächlich ein einigermaßen geschlossenes Bild des Lebens Sternes entnehmen kann. Auch ist Sterne zu selbstverliebt und stets auf die Inszenierung seiner eigenen Bedeutsamkeit und Witzigkeit aus, dass ein Ge­gen­ge­wicht nicht dringend nötig wäre. Aber man muss eben mit dem arbeiten, was man in die Hände bekommt. Walters Übersetzung ist einmal mehr ein Genuss, da er es versteht, dem deutschen Text eine so altertümlich elegante Anmutung zu geben, dass man an einigen Stellen tatsächlich den Ton der Sterneschen Originale zu hören glaubt.

Die Kommentare des Briefbandes, die sich in der Hauptsache am Fuß der einzelnen Briefe befinden, gehen wohl zu einem bedeutenden Umfang auf die englische, sogenannte Florida-Ausgabe der Werke und Briefe Sternes zurück. Es ist zum einen ganz erstaunlich, welche der von Sterne mit Briefen bedachten oder in ihnen erwähnten Personen identifiziert und mit Informationen zu Leben und ge­sell­schaft­li­cher Stellung und Bedeutung für Sterne versehen werden konnten; mindestens ebenso erstaunlich ist die Anzahl der Personen, zu denen man nichts weiß oder deren Identität nur erraten werden kann. Dabei entwickeln diese Kommentare durchaus ihren ganz eigenen Humor; zum Ausgleich wird die Bibel an den meisten Stellen in der Fassung der Luther-Übersetzung von 1545 zitiert, an anderen wieder in einer späteren Fassung (ich vermute eine des 18. Jahr­hun­derts, war aber zu faul, sie zu identifizieren), was vielleicht auch ein Ausdruck von Humor ist. Zudem weist der Briefband eine erstaunliche Anzahl von Druck- und Sachfehlern auf, lässt also noch einigen Raum für eine verbesserte zweite Auflage – aber das ist vielleicht schon eine zu optimistische Sicht der Dinge in Sachen Sterne.

Laurence Sterne: Werke und Briefe in drei Bänden. Übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2018. Pappbände, Fadenheftung, Lesebändchen. 1885 Seiten. 98,– €. Alle drei Bände sind auch einzeln erhältlich.

Rudyard Kipling: Kim

»Je mehr man über die Eingeborenen weiß, desto weniger kann man vorhersagen, was sie tun werden oder was nicht.«

Rudyard Kipling ist in Deutschland in der Hauptsache als Autor des „Dschungelbuchs“ wahrgenommen worden; nur wenige dürften wissen, dass er 1907 der erste englische Literaturnobelpreisträger wurde und bis heute der jüngste Träger dieses Preises geblieben ist – Kipling war erst 41 Jahre alt, als ihm der Preis verliehen wurde. Während ihn die meisten deutschen Leser als eine Art von Kinderbuch-Autor ansehen werden, war Kipling in seiner Heimat aufgrund seines politischen Engagements eine höchst umstrittene Person; von seinen Gegnern wurde er gern als Faschist beschimpft, war aber im Grunde wenig mehr als ein erzkonservativer Militarist, der mit der Militärpolitik der britischen Regierungen stets höchst unzufrieden blieb. Auch sein Bild Indiens wurde von seinen ideologischen Kontrahenten gern bespöttelt: Wie man bei George Orwell lesen kann, wurde diesem von Bekannten Kiplings versichert, Kipling habe von Indien nur wenig Ahnung gehabt.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, bildet „Kim“ zusammen mit den beiden „Dschungelbüchern“ die Grundlage für das Indien-Bild zahlreicher Europäer. Kipling wurde 1865 in Bombay geboren und stand über die Schwestern seiner Mutter sowohl mit der künstlerischen als auch der politischen Elite Englands in verwandtschaftlicher Beziehung. Kiplings Vater war Künstler und Kunstpädagoge und später Museumsdirektor in Indien; Kipling erhielt zuerst die bei vermögenden Engländern übliche Erziehung in England; er wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Georgiana Burne-Jones, der Frau des Präraphaeliten Edward Burne-Jones. Eine anschließende universitäre Ausbildung in England konnte Kiplings Vater nicht finanzieren, so dass Kipling 1882 nach Indien zurückkehrte und in Lahore einen Job als Journalist bei der Civil & Military Gazette übernahm. In dieser Tageszeitung erschienen dann auch seine ersten Gedichte und Erzählungen. Bereits 1889 verließ Kipling Indien wieder und erreichte nach einer Weltreise London. Bereits verheiratet lebte Kipling anschließend für einige Zeit in den USA, bevor er sich dauerhaft in England niederließ. Als er 1907 den Literaturnobelpreis erhielt, war er bereits ein ebenso weltbekannter wie umstrittener Autor. Alle seine vier Romane hat Kipling in dem Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende verfasst – „Kim“ erschien als letzter 1901 in Buchform –, später beschränkte er sich auf Erzählungen und Gedichte.

Kim, der titelgebende Protagonist des Romans, ist ein halb irischer, halb indischer Waisenjunge, der bei einer Schwester seiner indischen Mutter in Lahore aufwächst. Als der Roman beginnt, ist Kim etwa 12 Jahre alt – die Handlung ist historisch nicht präzise einzuordnen, spielt aber sicherlich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – und von einem eingeborenen Inder kaum zu unterscheiden. Er bewegt sich auf den Basaren wie ein Fisch im Wasser, hat Freunde unter den Fakiren und ist insbesondere befreundet mit dem afghanischen Pferdehändler Mahbub Ali, für den er von Zeit zu Zeit diskret kleine Aufträge erledigt. Erzählanlass aber ist, dass Kim vor dem Museum von Lahore einen Lama, also einen buddhistischen Mönch aus Tibet kennenlernt, dem er sich nahezu augenblicklich als Schüler zugesellt. Die beiden beginnen eine Reise durch Nordindien, da der Lama auf der Suche nach einem geheimnisvollen Fluss ist, der ihm Erleuchtung bringen soll.

Unterwegs treffen die beiden auf das Regiment, zu dem Kims Vater gehörte; Kim wird als Engländer erkannt und man will ihn in eine englische Wai­sen­schu­le stecken. Doch der Lama verpflichtet sich, für Kims Ausbildung zu bezahlen, und so besucht Kim – zwar zuerst nur widerwillig – eine der besten englischen Schulen in Lucknow. Natürlich erweist es sich, dass Mahbub Ali für den englischen Geheimdienst in Indien arbeitet und Kim aufgrund seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, als Inder durchzugehen, für eine Karriere in diesem Dienst vorgesehen ist. Während der Ferien erhält er eine Spezialausbildung als Spion und wird nach dem Ende seiner Schulzeit – er ist nun etwa 16 Jahre alt – zusammen mit seinem Lama wieder auf die Straßen Nordindiens geschickt. Es spinnen sich eine Reihe von Geheimdienst-Abenteuern an, in denen sich Kim natürlich aufs Beste bewährt, aber auch an seine körperlichen Grenzen gerät. Das Buch hat ein offenes Ende, das den Protagonisten nach seiner ersten Bewährungsprobe quasi als Unseren Mann in Ambala in die Welt entlässt.

Kipling erzählt diese Geschichte vor einem breiten Panorama nordindischer Kultur und Landschaft. Hindus, Moslems und Buddhisten treffen aufeinander, Kim und sein Lama geraten bis in die Berglandschaft des Himalaya mit ihren wieder ganz eigenen, lakonischen Bergbauern. Auch sprachlich ist die Erzählung von einer ungewöhnlichen Fülle geprägt; wenn Kipling vielleicht auch nicht so sehr viel von der Politik Indiens verstanden haben mag, wie man dort sprach, wusste er ziemlich genau. Es ist dieser kulturelle Reichtum, der das Buch zu einem Klassiker hat werden lassen. Leider geht in sprachlicher Hinsicht in der Übersetzung notwendig viel verloren, aber Gisbert Haefs ausführlicher Kommentar und sein Nachwort holen einiges davon wieder ein.

Rudyard Kipling: Kim. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Fischer Taschenbuch 90526. Frankfurt/M.: Fischer, 22016. Broschur, 431 Seiten. 10,99 €.

William Shakespeare: König Heinrich VIII.

König Heinrich VIII. gehört zu den derzeit unbeliebteren Stücken Shakespeares, während es noch Anfang des 20. Jahrhunderts mit großem Pomp und Erfolg inszeniert worden ist. Im Kern behandelt es eine vergleichsweise kurze Phase im Leben Heinrichs VIII. zwischen seiner ersten Bekanntschaft mit Anne Boleyn und der Taufe ihrer gemeinsamen Tochter Elizabeth. Das Stück endet mit einer Apotheose der jungen Elizabeth, wahr­schein­lich zu dem Zweck, um damit zugleich Elizabeth Stuart zu feiern, die 1613, im Jahr der Erstaufführung, Friedrich V. von der Pfalz, den späteren böhmischen Winterkönig geheiratet hat.

Das Stück weist eher wenig Dramatik auf, insbesondere was seine Titelfigur angeht: Heinrich VIII. erscheint fast als eine Figur des Hintergrundes, während sich im Vordergrund eine Reihe politischer Tragödien abspielt: Der Herzog von Buckingham fällt einer Intrige des Kardinals Wolsey zum Opfer, der damit einen seiner politischen Gegner beseitigt. Königin Katharina durchleidet die Scheidung von ihrem untreuen Ehemann; der Kardinal wird anschließend selbst Opfer einer Intrige oder eigenen Ungeschicks, und sein Nachfolger Thomas Cramner entgeht nur knapp der nächsten Intrige, weil der König ihn als seinen treuen Freund anerkennt und schützt. Es folgen Geburt und Taufe der späteren Königin Elizabeth, und bei der Taufe eben jene Feier der goldenen Zukunft, die Elizabeth dem englischen Volk bereiten werde.

Wenn man unbedingt einen kritischen Gehalt des Stückes suchen will, so findet man ihn in der durchgehenden Thematisierung des Problems der Wahrheit in der politischen Welt. Wahr ist, was so erscheint, und oft muss eben dieser Schein genügen. Darauf weist auch schon platterdings der Titel hin, unter dem das Stück erstmals gespielt wurde: Alles ist wahr. Übersetzer Frank Günther weist darauf hin, dass dieser Titel selbst zweideutig ist, denn er könne neben dem Anpreisen der historischen Verlässlichkeit des Stückes auch bedeuten, dass eben alles und jedes als wahr erscheinen kann, wenn es nur richtig in Szene gesetzt wird. In diesem Sinne wäre dann auch die das Stück beschließende Apotheose Elizabeths cum grano salis zu lesen.

Das Stück ist in seiner Anlage insgesamt eher opernhaft und muss mit großem Pomp inszeniert werden, um seine Wirkung zu entfalten. Es enthält zahlreiche dafür geeignete Szenen, die in den Regieanweisungen mit außergewöhnlicher Aus­führ­lich­keit geschildert werden. Offensichtlich passt ein solch eher oberflächliches Spektakel nicht gut in das rezente Bild von Shakespeare als Dramatiker. Hinzukommt, dass es eines jener Stücke ist, bei dem man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts annimmt, dass Sha­kes­pea­re nur als Co-Autor tätig gewesen ist (so weit wir wissen, damals wie heute eher der Normalfall); der andere Autor soll John Fletcher ge­we­sen sein, der Shakespeare als festen Autor der King’s Men abgelöst hat. Hand­fes­te Be­le­ge für Fletchers Beteiligung am Stück gibt es nicht, nur stilistische Hinweise für die Tätigkeit eines zweiten Autors neben Sha­kes­pea­re.

Wer nicht allzu viel vom Stück erwartet, kann hier ein Stück dramatischer Panegyrik genießen, wie sie zu dieser Zeit durchaus üblich war. Solche Festdramen schlossen sich nahtlos an Inszenierungen königlicher Herrschaft wie Feste, Umzüge, Ankunftsfeiern und ähnliches an. Sie waren als Spektakel beim Volk höchst beliebt und lieferten das, was heute Fern­se­hen, das Goldene Blatt, die Frankfurter Allgemeine und vergleichbare Medien leisten. Dass auch Shakespeare, als Star der Unterhaltungsindustrie seiner Zeit, an solchen Inszenierungen beteiligt war, ist kaum ver­wun­der­lich. Klappern, so heißt es, gehört zum Handwerk.

William Shakespeare: König Heinrich VIII. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 32. Cadolzburg: ars vivendi, 2015. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 320 Seiten. 33,– €.

Jonathan Swift: Gullivers Reisen

Jonathan Swift ist in Deutschland und wahrscheinlich leider auch in anderen Ländern der Autor eines halben Buches: Die beiden ersten von Gullivers Reisen (zu den Lilliputanern und den Riesen) werden als Kinderbuch gehandelt, während die zweite Hälfte des Buchs den meisten Lesern schlicht unbekannt bleibt. Allein deshalb ist jede literarische und vollständige Ausgabe des Textes zu begrüßen. Nun legt Manesse zum 350. Geburtstag des Autors am 30. November die Neuübersetzung von Christa Schuenke noch einmal in der Manesse Bibliothek auf. Der Text ist erstmals 2006 in einem Schmuckband erschienen, der auch immer noch lieferbar ist.

Gullivers Reisen (Erstausgabe 1727) liefert gleich eine ganze Reihe anspruchsvoller und zum Teil politisch brisanter Satiren, deren Reduktion auf ein Kinderbuch nur als unglücklich bezeichnet werden kann. Sicherlich ist es so, dass die politische Ebene des Textes den Heutigen nur durch einen Kommentar erschlossen werden kann, doch gerade die beiden Reisen der zweiten, unbekannteren Hälfte des Buchs enthalten satirische Schilderungen, die zeitlos sind und seit dem 18. Jahrhunderts nichts von ihrer Schärfe verloren haben. Doch der Reihe nach.

Lemuel Gulliver ist von Beruf Wundarzt (surgeon) und heuert in dieser Funktion auf mehreren Schiffen an; seine letzte Fahrt bestreitet er sogar als Kapitän des entsprechenden Schiffes, da er sich über die Jahre die nötigen seemännischen Kenntnisse erworben hat. Die vier Reisen, die er beschreibt, umfassen die Jahre 1699 bis 1715, also die unmittelbare Vergangenheit des Autors und seiner zeitgenössischen Leser. Reise- und Abenteuerliteratur stand damals hoch im Kurs (1697 ff.: William Dampier, 1712: Alexander Selkirk, 1719: Daniel Defoe), so dass Swift allein von daher ein hohes Interesse für ein weiteres Reisebuch erwarten durfte. Dass es sich bei Gullivers Reisen nicht um ein alltägliches Reisebuch handeln sollte, stellt bereits die erste Reise klar.

Zuerst erreicht Gulliver nach einem Schiffbruch die Insel Lilliput und findet sich, als er aus seiner Erschöpfung erwacht, von einem Volk winziger Menschlein an den Boden gefesselt. Er erwirbt jedoch bald das Vertrauen der Liliputaner und lebt in der Hauptstadt in der Nähe des Hofes. Der Hof selbst kann als eine konkrete politische Satiren auf den englischen Hof im Allgemeinen und auf den Georges I. im Besonderen gelesen werden, es ergibt sich aber auch das Vexierbild der menschlichen Gesellschaft als Ameisenstaat, betrachtet von der Höhe eines Riesen, dem die Intrigen und Machenschaften der Menschlein nur wenig anhaben können. Ganz logisch ist es, diesen Einfall in der zweiten Reise nach Bobdingnag umzukehren und so den Erzähler in die Rolle des Menschleins zu versetzen. Hier erscheint Gulliver denn auch mehr als Spielzeug von Plänen und Zufällen, die über ihn walten und ihn mit Leichtigkeit vernichten können. Die Satire wird hier fortgesetzt, in dem Gulliver dem König von Brobdingnag die englischen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse schildert, die dann aus Sicht eines vernünftigen Herrschers kommentiert und kritisiert werden.

Die dritte Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan liefert in der Hauptsache  eine Gelehrten- und Wissenschaftssatire, während Gullivers letzte Reise zu den Houyhnhnms einen utopischen Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft enthält, in dem die Pferde als Wesen von wahrer und vollkommener Menschlichkeit geschildert werden, mit denen verglichen die Menschen (Yahoos) nur als wilde Tiere erscheinen.

Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Texten Swifts ist Gullivers Reisen vergleichsweise häufig ins Deutsche übersetzt worden. Ich selbst besitze die älteren, im Großen und Ganzen verlässlichen Übersetzungen von Greve (1910) und Kottenkamp (1918), kenne aber die neueren Übersetzungen etwa von Mummendey (1952?) oder Real und Vienken (1987) nicht. Von daher hatte ich mich auf die Neuübersetzung durch Christa Schuenke durchaus gefreut. Schuenke ist eine der hochgelobten und preisgekrönten deutschen Übersetzerinnen; es war also eine solide und ansprechende Übersetzung zu erwarten. Es ließ sich auch ganz gut an: Schuenke übersetzt Swift zwar etwas in die Breite, aber ihr künstlicher Ton des 18. Jahrhunderts ist durchaus nett und gut getroffen, ohne den Leser zu sehr zu belasten.

Gestutzt habe ich dann aber zum ersten Mal auf Seite 197. Swift hat die in seiner Zeit durchaus geläufige Gepflogenheit, jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung seines Inhalts zu beginnen. So auch beim 3. Kapitel der zweiten Reise:

Der Verfasser wird vor Gericht gestellt.
Die Königin kauft ihn von seinem Herrn, dem Bauern,
los und zeigt ihn ihrem König. Er disputiert mit den großen
Gelehrten Seiner Majestät. Dem Verfasser wird ein Gemach
bei Hofe hergerichtet. Er steht bei der Königin in höchster
Gunst. Er tritt für die Ehre seines Heimatlandes ein.
Sein Zwist mit dem Zwerg des Königs.

Das Problem ist nun, dass im nachfolgenden Kapitel von einem Gericht gar keine Rede ist; ein Blick ins Original klärt die Frage: ‘The author sent for to court.’ bedeutet schlicht: „Der Verfasser wird an den Hof gerufen.“ Das stimmt dann auch mit dem Inhalt des Kapitels überein. So etwas kann immer mal passieren, dass eine automatisch übersetzte Phrase stehen bleibt und nicht korrigiert wird. (Diese empathische Deutung hat sich nicht bewährt, da Frau Schuenke auf S. 425 darauf besteht, dieselbe Phrase auf dieselbe Weise falsch zu übersetzen!) Als ich dann aber auf die nächste Formulierung stieß, die im Deutschen nur wenig Sinn hatte, habe ich mir für gut 20 Seiten den Text von Frau Schuenke einmal genauer angeschaut:

SeiteSwiftSchuenkeDeutsch
318and would permit no man to search me.und keinem Menschen zu erlauben, dass er nach mir suche.und wollte niemandem erlauben, mich zu durchsuchen.
320for I had about me my flint, steel, match, and burning-glass.(Denn meinen Feuerstein und meinen Wetzstahl, mein Zündholz und mein Brennglas hatte ich bei mir.)denn ich hatte Feuerstein, Wetzstahl, Lunte und Brennglas bei mir.

desolategottverlassenwüst
321and could plainly discover numbers of peopleund sah deutlich ein Gewimmel von unzähligen Menschenund entdeckte deutlich zahlreiche Menschen

I was not able to distinguishkonnte ich nicht erkennenkonnte ich nicht unterscheiden
323that these were sent for orders to some person in authority upon this occasiondass diese Leute Abgesandte waren, die irgendeinem hochgestellten Herrn den Vorfall melden solltendass sie zu einer Person, die in diesem Fall zuständig war, um Befehle geschickt worden waren
323 f.not unlike in sound to the Italiandas mich ein wenig an das Italienische gemahntedas so ähnlich wie Italienisch klang.
325At my alightingSobald ich von dem Sitze abgestiegenBei meiner Landung
331obsoletedie nicht mehr in Gebrauch istobsolet

by corruptiondurch die Erweichung der Konsonantendurch Verderb
333eleven o’clockelf Glasen*elf Uhr

capital cityMetropoleHauptstadt
334certainmehrerenbestimmten

which mounted up directly,die alsdann auf geradem Wege hochgezogen wurdendie direkt nach oben stiegen

the beauty of a woman, or any other animal,die Schönheit einer Fraudie Schönheit einer Frau oder eines anderen Tiers
335They are very bad reasonersIm Spekulieren sind sie gar nicht gutSie sind sehr schlecht im Argumentieren
337severalgewissemehrere
338in its absence from the sunin seinem Aphel**bei seinem sich entfernen von der Sonne
339because they want the same endowments.weil sie nicht über die gleichen Geistesgaben verfügenweil sie sich die gleichen Gaben wünschen***
341and that they are much more uniform, than can be easily imaginedund auch viel weniger verschieden sind, als man es sich vielleicht so mir nichts, dir nichts vorstelltund dass sie viel einheitlicher sind, als man sich gemeinhin vorstellt
362metropolisHauptstadtMetropole
* Es gibt in jeder Wache nur acht Glasen!
** Das Wort Aphel rutscht hier in die Übersetzung, weil Frau Schuenke das kurz zuvor im Text stehende Wort Perihel nachgeschaut und die Erklärung beider Begriffe nicht verstanden hat.
*** Frau Schuenke verdirbt hier, wie andere Übersetzer vor ihr, eine sexuelle Pointe, weil sie das Original nicht versteht.
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die hier besprochene Ausgabe.

Ich kann aufgrund weiterer Stichproben im übrigen Text versichern, dass Schuenkes Übersetzung durch die oben aufgeführten Beispiele musterhaft charakterisiert ist. Fontane hat es den Kritikern für alle Zeit ins Stammbuch geschrieben: „Schlecht ist schlecht und es muß gesagt werden.“ Von einer Lektüre oder gar dem Erwerb des Buches kann leider nur abgeraten werden.

Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Aus dem Englischen von Christa Schuenke.  München: Manesse, 2017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 28,– €.

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá

Ich fand, Falesá war scheint’s wirklich genau der rechte Ort, und je mehr ich trank, desto leichter wurd mir das Herz.

Diese Erzählung, die 1892 zuerst als Serie in The Illustrated London News erschien und ein Jahr später zusammen mit dem in Deutschland weit bekannteren Der Flaschenkobold und Die Insel der Stimmen auch als Buch erschien, ist wahrscheinlich die realistischste Südsee-Erzählung Stevensons überhaupt: Sie spielt um 1870 auf der fiktiven Südsee-Insel Falesá – vielleicht auch nur an dem fiktiven Ort Falesá auf Samoa – und wird erzählt von dem wenig er­folg­rei­chen britischen Händler John Wiltshire, der dort den verlassenen Posten einer Handelsgesellschaft übernimmt. Empfangen wird er von dem bereits anwesenden Händler Case, der für eine Weile sein einziger An­sprech­part­ner ist, da Case Englisch, Wiltshire aber nicht die lokale Sprache der Eingeborenen spricht.

Das erste, was Case für Wiltshire noch am Tag seiner Ankunft organisiert, ist eine Schein-Hochzeit mit der lokalen Schönheit Uma. Gleich am nächsten Tag bemerkt der Erzähler aber, dass irgend etwas nicht ganz in Ordnung zu sein scheint, denn nahezu den ganzen Tag über wird sein Haus von Schaulustigen umlagert, ohne dass klar würde, warum. Allerdings stellt der Erzähler bald fest, dass das nicht die einzige Schwierigkeit darstellt: Obwohl er mit attraktiven, frischen Waren angekommen ist, besucht niemand seinen Laden. Case zieht vorgeblich Erkundigungen ein, kann aber auch nichts bestimmtes sagen; schließlich führt ein Treffen mit fünf lokalen Häuptlingen zu der Einsicht, dass Uma, selbst eine Fremde auf der Insel, das Problem darstellt: Sie wird von den Inselbewohnern gemieden, seit einer der Häuptlinge bei ihr nicht so zum Zuge gekommen ist, wie er sich das wohl vorgestellt hatte.

Nun wäre es für Wiltshire leicht, Uma einfach aus dem Haus zu werfen, da ihr Trauschein nur ein wertloser Zettel ist. Leider hat sich Wiltshire aber in Uma verliebt, so dass er trotzig versucht, die Situation auf anderem Weg zu bereinigen. Auch ihm wird klar, dass Case, der selbst einmal um Uma geworben hat, ihn absichtlich in diese Lage manövriert hat, um ihn als Konkurrenten rasch und einfach wieder loszuwerden. Bestätigt wird Case als der Bösewicht durch einen von Zeit zu Zeit die Insel besuchenden Missionar, der dann auch zwischen Uma und Wiltshire eine ordentliche Ehe stiftet.

Case hat den lokalen Kopra-Handel monopolisiert und nutzt den Geisterglauben der Eingeborenen aus, um seine Machtposition auf der Insel zu sichern. Dafür hat er einen Teil der Insel zu einer Art Geister- oder Teufels-Refugium ausgebaut, das die Eingeborenen nur unter seiner Begleitung zu betreten wagen. Wiltshire erkundet diesen Teil der Insel und findet auch Wiltshires Teufels-Tempel, den er zu sprengen beschließt. Die nächtliche Expedition zum Tempel, die Sprengung und der anschließende Kampf mit Case bilden den abenteuerlichen Abschluss der Erzählung.

Der Strand von Falesá ist konsequent aus der Sicht eines Briten der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben: voller Vorurteile, Rassismen und religiöser Gegensätze. Wiltshire hält die Eingeborenen für Untermenschen und der auf Falesá lebende Schwarze ist auch nur insoweit ein Mitglied der Oberschicht, als er gesellschaftlich noch über den Ureinwohnern steht. Natürlich ist es die Aufgabe der Briten, den Inselbewohnern Religion und Zivilisation zu bringen, die Ausbreitung des Katholizismus zu vermeiden und sie möglichst effizient auszubeuten. Sie haben die Kopra herzustellen und bei den Händlern gegen europäische Waren einzutauchen; den doppelten Gewinn streicht selbstverständlich der Brite ein, so wie es von Gott eingerichtet und gewollt ist. Nur aufgrund eines Eides, den ihm der Missionar abnimmt, ist Wiltshire gezwungen, die Inselbewohner nicht geschäftlich zu übervorteilen, weshalb er auch froh ist, die Insel bald wieder verlassen zu haben, um die ihm zustehenden gewöhnlichen Margen zu kassieren. Aber auch die Ureinwohner sind keine frommen Wilden, sondern pflegen ihre eigenen, sehr klaren Vorstellungen davon, was von Weißen zu halten ist und wie man mit ihnen umzugehen hat.

Stevenson vermeidet in dieser Erzählung, auch nur einen einzigen Mythos der Südsee zu bestätigen. Weder seine Weißen noch seine Insulaner sind gute Menschen, wie sie ein zeitgenössischer Leser in einer ordentlichen Erzählung erwarten durfte. Einziger Lichtblick ist die Treue Wiltshires Uma gegenüber, aber selbst als Ich-Erzähler, der jede Gelegenheit hat, sich in ein gutes Licht zu rücken, kann Wiltshire letztendlich nur als Mörder und Ausbeuter angesehen werden, als Schein-Christ, der seinen Unterhalt aus der Übervorteilung der Inselbewohner bezieht. Auch in der Südsee war die Welt nicht mehr in Ordnung, wenn sie es denn je gewesen sein sollte.

Friedhelm Rathjen liefert mit dieser Übersetzung in bewährter Manier im eigenen Verlag die Ergänzung zu den beiden oben genannten Erzählungen des Sammelbandes Island Nights’ Entertainment. Wer Rathjen als Übersetzer kennt und schätzt, weiß, was ihn erwartet; wer ihn nicht kennt, hat hier die Gelegenheit ihn mit einem der besten Texte Stevensons kennenzulernen!

Robert Louis Stevenson: Der Strand von Falesá. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Edition ReJoyce, 2017. Auf 99 Exemplare limitierte, nummerierte und vom Übersetzer signierte Auflage. Bedruckter Pappband, 112 Seiten. 25,– €. Bestellung direkt an: rejoyce@gmx.de

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg

Im Vergleich zu dem emsigen Herzog Maximilian von Bayern, war der „Bierjörge“ ein fauler Gesell, der die eine Hälfte seiner Zeit mit Jagen und Saufen verbrachte und die andere mit Saufen und Jagen (zwischen 1611 und 1653 soll der Kurfürst sage und schreibe 113 629 Stück Wild erlegt haben).

Vorausschauend aufs nächste Jahr bringt der Theiss Verlag, mithin die Wissenschaftliche Buchgesellschaft die Übersetzung eines englischen Buches aus dem Jahr 2009 auf den Markt. Wilsons Darstellung des Krieges sowie seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen umfasst beinahe 1000 Seiten, mit dem Anhang 1144. Es handelt sich um ein de­tail­lier­tes, eng an den historischen Daten geführtes und weitgehend ideologiefreies Bild der Kriege zwischen 1555 und 1648, ihrer Vorgeschichte, den Zusammenhängen zwischen ihnen und ihrem jeweiligen Einfluss auf das weitere Geschehen.

Allein auf die Vorgeschichte der Serie von Auseinandersetzungen, die wir gemeinhin den Dreißigjährigen Krieg nennen, verwendet Wilson etwa 340 Seiten, auf denen er eine europäische Umschau über die Interessen der einzelnen internationalen Mitspieler (die beiden Zweige Habsburgs, das Heilige Römische Reich, die niederländischen Generalstaaten, Dänemark, Schweden und Polen sowie Frankreich, England, Ungarn und nicht zuletzt die Türkei) hält. Aufgrund dieser Bestandsaufnahme sieht sich Wilson gerechtfertigt, seine Darstellung des Kriegsgeschehens, das mit dem Böhmischen Auf­stand beginnt und dem Westfälischen Frieden endet, wesentlich unter drei Voraussetzungen zu schreiben, die in dieser Kombination nicht von allen anderen Historikern geteilt werden:

  1. Es hilft nicht, den Krieg sowohl in seinem Anfang als auch in seinem Verlauf auf eine oder wenige Ursachen zu reduzieren. Stattdessen muss versucht werden, der außerordentlichen Komplexität des Geschehens gerecht zu werden.
  2. Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg:

Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem militärischen Konflikt und den theo­lo­gi­schen Streitigkeiten innerhalb des Christentums zu verstehen, müssen wir zwischen militanten und gemäßigten Gläubigen unterscheiden.

  1. Der Dreißigjährige Krieg war nicht unvermeidlich.

Entlang dieser Grundthesen entwickelt Wilson dann auf über 500 Seiten ein Panorama des Krieges, das an Faktenreichtum seinesgleichen sucht: Niemals ist ein Heer einfach nur ein Heer, sondern immer erfahren wir seine Stärke, seine Zusammensetzung und wer es wann angeworben und wieviel er dafür bezahlt hat bzw. hätte bezahlen müssen. Einfache ö­ko­no­mi­sche Zwänge der Kriegsführung wie etwa die Tatsache, dass man ein Heer bei seiner Auflösung auszahlen muss, weshalb man es lieber in den näch­sten Konflikt entsendet, in der berechtigten Hoffnung, dass sich zahl­rei­che der Soldforderungen im Laufe der Zeit von selbst erledigen werden, werden von Wilson auf derselben Ebene diskutiert wie territoriale, genealogische, hierarchische oder religiöse Ziele der handelnden Parteien.

Doch Wilsons Darstellung ist nicht nur minutiös, sie ist auch weitgehend frei von übergeordneten ideologischen Konzepten, die versuchen, den Krieg in einen großen Zusammenhang einzubinden, in dem das immer mehr oder weniger zufällige Nacheinander sich zu einem sinnfälligen Prozess gestaltet. Dies geht soweit, dass Leser sich eventuell zuerst andernorts einen Überblick über den Kriegsverlauf im Großen verschaffen sollten, bevor sie versuchen, Wilson zu folgen. Wilsons Erzählung ist oft dem konkreten Geschehen so nah, dass der Leser sich in die Perspektive des Zeitgenossen versetzt fühlt, der den Abläufen nur mehr beobachtend, nicht verstehend folgen kann. Nach einer ebenso exakten wie um­fas­sen­den Darstellung des Krieges und Friedensschlusses klingt das Buch mit 100 Seiten über seine Nachwirkungen aus: Politische, ökonomische, demographische, soziale und kulturelle Folgen werden thematisiert.

Ich muss unmittelbar nach der Lektüre zugeben, dass es mir schwerfällt, einen kritischen Standpunkt gegenüber Wilsons überwältigender Kriegs­ge­schich­te zu entwickeln. Beinahe war ich erleichtert darüber, dass jedes einzelne Urteil Wilsons (so sehr viele sind es nicht) über Friedrich Schiller und dessen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dreißigjährigen Krieg mit Fehlern behaftet ist – was für eine Erleichterung!

Ein sehr gründliches und überzeugendes Geschichtsbuch. Es stellt wahr­schein­lich für die meisten Leser eine Zumutung dar, da es das historische Geschehen nicht in einer einzigen überlegenen und sou­ve­ränen Ein­ord­nung handhabbar und verständlich macht, sondern es als einen le­ben­di­gen, sich aus sich selbst fortzeugenden Prozess behandelt, der nur aus seinen direkten und immer konkreten Voraussetzungen heraus ver­ständ­lich wird. Wahrscheinlich sollte alle Geschichte so oder so ähnlich ge­schrie­ben werden; durchsetzen wird es sich nicht, allein schon wegen der Mühsal, die der Autor damit gehabt haben muss, sich die Grund­la­gen für eine solche Erzählung zu erarbeiten. Ein Buch für alle, die sich entweder für die komplexe und faszinierende Welt des 17. Jahrhunderts oder für historisches Erzählen überhaupt interessieren.

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie. Aus dem Englischen von Thomas Bertram, Tobias Gabel und Michael Haupt. Stuttgart: Theiss, 2017. Pappband, Lesebändchen, 1144 Seiten. 49,95 €.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Die schiere Existenz dieser Idee war ein unwiderlegbarer Beweis, dass sie den Tatsachen entsprach.

Frankensteins Monster, das so häufig direkt mit dem Namen seines Schöpfers identifiziert wird, ist eine der Ikonen des Schauders der wissenschaftlichen Laien angesichts der Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Sein Schöpfer, Victor Frankenstein (kein „Baron“, kein „von“, kein „Dr.“!), steht stellvertretend für die Hybris der modernen Wissenschaft, die sich von ihren eigenen Schöpfungen verfolgt sieht, nachdem sie sie in die Welt entlassen hat. Natürlich ist das alles nur in den Köpfen der wissenschaftlichen Laien und der Naiven, Idealisten und Gutmenschen so, während die Wissenschaftler ihre objektive Distanz bewahren und die Dinge auch weiterhin so sehen, wie sie wirklich sind.

Nachdem wir auf diese Weise sowohl die metaphysisch als auch die wissenschaftstheoretisch relevanten Zugriffe auf den Stoff erledigt haben, wenden wir uns dem Buch zu: Manesse legt in einer überarbeiteten Übersetzung die Urfassung von Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein aus dem Jahr 1818 vor. Die Unterschiede zur späteren Überarbeitung von 1831 sind nicht besonders gewichtig, nehmen dem Buch aber die eine oder andere autobiographische, satirische oder kritische Spitze. Dem Interessierten werden die wichtigsten Differenzen zwischen den beiden Versionen in den Anmerkungen zum Text ausreichend erläutert.

Mary Shelley selbst betont in ihrem Vorwort, dass der Roman aus einer Laune heraus entstanden ist: Sie verbrachte zusammen mit ihrem Mann, Lord Byron und Dr. Polidori einige regnerische Tage in der Gegend um Genf. Zur Unterhaltung las man gemeinsam eine Sammlung deutscher Schauergeschichten, die ins Französische übersetzt worden war. Man unterhielt sich mit den und über die Erzählungen und beschloss, jede und jeder einen Beitrag zum Genre zu liefern. Ganz und gar abgeschlossen wurde wohl nur der Roman von Mary Shelley, der spielerisch und um der schauerlichen Wirkung willen einige Themen der zeitgenössischen Wissenschaft aufnimmt und zur Gothic Novel umdichtet.

Der Roman beginnt mit einer Rahmenerzählung um den englischen Abenteurer Robert Walton, der sich auf einer Expedition zum Nordpol befindet, als er eines Tages den abgemagerten und kranken Victor Frankenstein von einer Eisscholle aufliest. Nach einigem Zögern erzählt Frankenstein seinem Retter seine Lebensgeschichte, die dieser aufzeichnet und seiner Schwester in England zusendet. Im Zentrum dieser ersten Binnenerzählung steht, wie schon angedeutet, ein übergeschnappter Wissenschaftler, der aus der Hybris seiner jugendlichen Genialität heraus den Entschluss fasst, das Unmögliche möglich zu machen und Leben aus leblosem Stoff zu erschaffen. Angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten der mikroskopischen Chirurgie fällt sein erstes und einziges Musterstück etwas grob aus, so dass selbst sein Schöpfer sich der spontanen Bezeichnung Monster nicht enthalten kann. Das namenlose Monster entflieht, nachdem es einmal zum Leben erwacht ist, dem Labor seines Schöpfers, der sich angesichts des eigenen Grauens vor seiner Kreatur ins Bett zurückgezogen hat. Als er wieder erwacht und das Monster entflohen findet, versucht er zur Tagesordnung überzugehen.

Von seiner um ihn besorgten Familie ins heimatliche Genf zurückgerufen, findet er bei seiner Rückkehr seinen jüngsten Bruder William ermordet und ein Hausmädchen der Familie des Verbrechens angeklagt. Da er aber in der Nacht seiner Ankunft das Monster in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben glaubt, steht für ihn fest, dass er sich selbst die Schuld am Tod seines Bruders und der Verurteilung und Hinrichtung des unschuldig verdächtigten Mädchens zuschreiben muss. Um der Depression, die sich aus diesem Schuldgefühl ergibt, gegenzusteuern, unternimmt die Familie Frankenstein einen Ausflug nach Chamonix. Dort wird Victor bei einer Gletscherwanderung von seiner Kreatur gestellt, die ihm in einer weiteren ausführlichen und seitenschindenden Binnenerzählung ihr Leben nach der Flucht aus dem Laboratorium erzählt. Nach einigem Umherirren wird er zum versteckten Beobachter einer Familie, deren Schicksale nun in einer dritten Binnenerzählung eingeholt werden, die aber gänzlich unerheblich für den Roman ist und nur als eine schlecht erfundene Ausrede dafür herhalten muss, wie das Monster zu seiner intellektuellen und ethischen Erziehung kommt, die es nun befähigt, seinem Schöpfer mit einer Forderung entgegenzutreten: Er will eine Gefährtin erschaffen haben, ein Objekt und Subjekt der Liebe, die er in sich fühlt, aber nicht leben kann, da alle Menschen nur mit Entsetzen auf seine Erscheinung reagieren.

Bedroht von seiner Kreatur, die er zugleich bemitleidet, und beeinflusst von seiner Sorge um seine Familie, die das Monster mit Mord und Totschlag bedroht, stimmt Frankenstein zu, dem Monster eine solche Gefährtin an die Seite zu stellen. Er reist zu diesem Zweck mit seinem Jugendfreund Henry Clerval zuerst nach London und von dort weiter nach Schottland. Dort zieht er sich auf eine der Orkneyinseln zurück, um die zweite Kreatur zu erschaffen. Doch dann besinnt er sich eines anderen gerade in dem Moment, als ihn das Monster auf der Insel aufsucht. Frankenstein verweigert sich nun der Forderung seiner Kreatur, die ihm daraufhin droht, ihn in seiner Hochzeitsnacht wieder aufzusuchen. Das Monster flieht, ermordet unterwegs noch rasch Henry Clerval, ein Mord, der diesmal Victor Frankenstein zur Last gelegt wird, der aber auf wundersame und gänzlich unglaubhafte Weise von dem Verdacht rein gewaschen wird. Es lohnt nicht, die Geschichte noch weiter nachzuerzählen; es endet jedenfalls damit, dass Frankenstein sich selbst zur Jagd auf seine Kreatur verpflichtet und auf diesem Wege im Nordmeer endet, wo er von Robert Walton aufgelesen wird, der seine Lebensgeschichte aufzeichnet und wohl auch für ihre Publikation nach dem Tod des Monsterschöpfers Sorge getragen haben wird.

Sieht man von seiner ungeheuerlichen Berühmtheit und Ungelesenheit ab, so muss der Roman wohl leider als ziemlich miserabel bezeichnet werden. Nahezu alle seine Aspekte sind schlecht konstruiert und unglaubwürdig, an viel zu vielen Stellen merkt man, dass sich die Autorin nur etwas zusammenreimt, ohne auch nur eine geringe Ahnung davon zu haben, wie das, was sie beschreibt, ins Werk gesetzt werden oder auch schlicht nur geschehen sollte. Je tiefer die Binnenerzählungen geschachtelt sind, desto einfältiger und schematischer werden sie. Die Gespräche zwischen der Kreatur und ihrem Schöpfer sind so voller Plattitüden, dass es nur als unfreiwillige Ironie aufgefasst werden kann, dass gerade sie von Victor Frankenstein selbst „korrigiert und verbessert“ worden sein sollen, „hauptsächlich um die Gespräche zwischen ihm und seinem Widersacher lebhafter und geistreicher zu gestalten“. Und was soll man zu einem Buch sagen, das ernsthaft Sätze wie die folgenden enthält:

Landwirte führen ein über aus gesundes Leben, und es ist der am wenigsten schädliche oder eher der zuträglichste aller Berufe.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass noch nicht alles überstanden war und dass es abermals ein abnormes Verbrechen verüben würde, dessen Ungeheuerlichkeit die Erinnerungen an das vorherige womöglich gar in den Schatten stellte.

Ach! Victor, wenn Lüge der Wahrheit doch so ähnlich ist, wer kann sich dann noch seines Glücks sicher sein? Mir ist, als ginge ich am Rand eines Abgrunds entlang, an dem sich Tausende versammeln und mich in die Tiefe zu stoßen versuchen.

Auch ich begriff zum ersten Mal, welche Pflichten ein Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hat und dass ich für sein Glück sorgen sollte, bevor ich seine Bosheit beklagte.

Verzagen sie nicht. Keine Freunde zu haben ist wirklich ein großes Unglück. Doch die Herzen der Menschen sind voll brüderlicher Liebe und Güte, wenn sie nicht gerade wegen ihrer eigenen naheliegenden Interessen Vorurteile hegen.

Solche Lebensweisheiten und -einsichten sind leider omnipräsent im gesamten Text. Und das hat sich auch mit der späteren Fassung nicht geändert.

Wer das Genre schätzt, findet hier natürlich einen der ganz großen Klassiker, der die Quelle noch zahlloser Romane des 19. und 20. Jahrhunderts werden sollte. Wer das Genre historisch liest, nimmt das Buch achselzuckend zur Kenntnis als ein Beispiel für einen schwachen Text einer mäßig begabten Autorin, die aufgrund der Tatsache, dass sie zufällig und mehr schlecht als recht eine der mythologischen Unterströmungen unserer Kultur getroffen hat, einen Bestseller und Klassiker landen konnte. Manchmal hilft die Nutzung einer Wünschelrute eben doch.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Urfassung von 1818. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. München: Manesse, 2017. Geprägter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 464 Seiten. 22,– €.