Wolfgang Feelisch: in’sait

In einer seiner Notizen entwirft Ludwig Hohl zwei Anzeigen, von denen eine wie folgt lautet:

»Weihnachten steht vor der Tür! Was schenkst du deinen Verwandten, Freunden und Bekannten? Am besten Bücher. Wir empfehlen dir:

Goethes kleine Prosa in leichtverständlicher Form und von äußerster Dauerhaftigkeit. Unser Haus ist imstande, dieses Buch und bald auch andere zu einem erstaunlich billigen Preis zu liefern infolge einer genialen und höchst modernen Erfindung.

Diese neue Art Bücher wird sich zum Aufstellen im Bücherschrank vorzüglich eignen, von der bekannten, altväterischen Art Bücher aber sich durch folgende Vorzüge unterscheiden: Eine Dauerhaftigkeit, die schon an Unzerstörbarkeit grenzt (auch bei häufigem Ausleihen!); höchste Prunkhaftigkeit des Deckels; den viel niedrigeren Preis.

Dieser alle Konkurrenz in den Wind schlagende niedrige Preis wird dadurch ermöglicht, daß das Innere des Buches aus einem Brett gestaltet ist (echtes Eichenholz!). Nach dem Muster der Holzschinken — man muß nur auf die Ideen kommen! Unsere Erfindung ist gesetzlich geschützt.

Kraft dieser erstrangigen Erfindung werden wir zweifellos in kurzem alle Verlagshäuser überflügelt haben. Von jenen freilich sehen wir ab, die elende Machwerke in die Welt setzen, traurige Unterhaltungs-Werke und erbarmenswürdige Spannungs-Romane, die man lesen muß; denn wir, fern jenen verachtungswürdigen Niederungen, befassen uns allein mit der großen und wahren Literatur, mit den tiefen und ernsten Büchern der Autoren, die etwas zu sagen haben, und die sich zum Aufstellen im schönen Bücherschrank vorzüglich eignen und jedem Besitzer zur Ehre gereichen.«

Feelisch-in-sait-CoverDie Idee scheint so naheliegend, dass sie tatsächlich zumindest einmal umgesetzt worden ist: Der Remscheider Künstler Wolfgang Feelisch ließ 1969 ein kleines Büchlein mit dem schön verschriebenen Titel „in’sait“ – ja, drucken kann man nur eingeschränkt sagen, also: produzieren, das alle die von Hohl gepriesenen Vorzüge aufweist. Wer es aus dem Bücherregal zieht und aufschlägt, sieht sich jeder weiteren Mühe enthoben:

Feelisch-in-sait-Inside

Leider weiß ich nicht, in welcher Auflage das Werk damals entstanden ist und ob die Idee vielleicht auch darüber hinaus Verbreitung und Freunde gefunden hat.

Wolfgang Feelisch: in’sait. Krefeld: Verlag Pro, 1969. Broschur, keine Seiten. Lange schon vergriffen.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll.

Frisch-Berliner-JournalBeim sogenannten Berliner Journal handelt es sich um ein Tagebuch Max Frischs aus den Jahren 1973 bis 1980. Frisch hatte es zuerst für eine Veröffentlichung vorgesehen und entsprechend ausgearbeitet, es dann aber, hauptsächlich aufgrund der Tatsache, dass in dieser Zeit seine Ehe mit Marianne Oellers scheiterte, mit einer 20-jährigen Sperrfrist belegt. Da er es aber in einigen Interviews erwähnt hatte, handelte es sich bei diesem Tagebuch um das bekannteste Desiderat der Frisch-Forschung.

Die Max-Frisch-Stiftung Zürich hat sich nach Öffnung des Manuskripts im Jahr 2011 nun dazu entschlossen, Auszüge aus den ersten beiden von fünf Heften (es handelt sich tatsächlich um Ringbücher, der Herausgeber verwendet aber Frischs eigene Bezeichnung), also den Jahren 1973 und 1974 zu veröffentlichen. Es wurden nur jene Passagen ausgewählt, die nicht Gefahr laufen, Persönlichkeitsrechte anderer zu verletzen. Aus diesen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass das komplette Journal niemals direkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird.

Das „Berliner Journal“ beginnt mit dem Umzug von Max und Marianne Frisch nach Berlin im Februar 1973. Die Auszüge konzentrieren sich in der Hauptsache auf Begegnungen mit Schriftstellern in West- und Ostberlin, darunter prominent Uwe Johnson, Günter Grass, Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert und Wolf Biermann. Der Kontakt zu den DDR-Schriftstellern kommt zuerst über den Verlag Volk und Welt zustande, der zu dieser Zeit an einer kleinen Frisch-Werkauswahl interessiert ist.

Neben den zahlreichen literarischen Begegnungen zeichnet das Tagebuch ein bedrückendes Bild von Frischs häuslicher Situation: Die Ehe kriselt, und Frisch fehlt jegliche Inspiration zu einem neuen Roman oder Theaterstück, so dass das Schreiben am Tagebuch seine einzige literarische Arbeit in dieser Zeit darstellt. Da Frisch inzwischen ein finanziell sehr erfolgreicher Autor ist, fehlt auch jeder materielle Zwang zur Arbeit. Erst die Begegnung mit Alice Locke-Carey im April 1974 führt Frisch aus dieser Phase heraus. Aber das liegt schon jenseits der Auszüge aus dem Journal.

Für viele Frisch-Leser dürften die nun veröffentlichten Teile daher eher eine Enttäuschung darstellen, da in ihnen gerade das autobiographische Widerlager zu „Montauk“, das das Hauptinteresse am „Berliner Journal“ bildet, fehlt. Gelingt es aber, davon abzusehen, so liefert das Buch einige interessante Autoren-Porträts und einen guten, wenn auch schmalen Einblick in den Literaturbetrieb der DDR. In diesem Sinne ist es den 2010 aus dem Nachlass erschienenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“ deutlich vorzuziehen. Allerdings erbt auch diese Nachlassveröffentlichung die Marotte der nur spärlich bedruckten Seiten, als gäbe es keine anderen typographischen Mittel, den Seitenumbruch des Originals wiederzugeben.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle. Berlin: Suhrkamp, 2014. Pappband, 235 Seiten. 20,– €.

Jahresrückblick 2013

Auch für das vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren des Jahres. Dieses Mal mit einer strengen Teilung von Klassikern und Neuerscheinungen.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2013:

  1. Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund – ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
  2. Theodor Fontane: Effi Briest – ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist.
  3. Uwe Johnson: Jahrestage – einer der großen und bedeutenden deutschen Romane des 20. Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2013:

  1. David Markson: Wittgensteins Mätresse – wahrscheinlich nicht wirklich schlecht, aber eine Enttäuschung gemessen an der Stellung, die dem Buch in der Geschichte der literarischen Postmoderne zugeschrieben wird.
  2. Friedrich von Borries: RLF – triviales, unverbindliches und schlecht erfundenes Gefasel um einen Volldeppen aus der Werbebranche.
  3. Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit – ein weiteres Beispiel dafür, wie abgrundtief dumm hoch intelligente und gebildete Menschen sein können.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten

Asterix-bei-den-PiktenSpätestens seit der Aufnahme von „Asterix“ in die erste Auflage von „Kindlers Literatur Lexikon“ (1965 ff., nur echt ohne Bindestrich!) gehören die Geschichten um den kleinen Gallier und seinen vollschlanken Freund auch in Deutschland in den Kanon der Weltliteratur. Dies ist unbestreitbar ein Verdienst René Goscinnys gewesen, der mit „Asterix“ einen der wenigen Comics geschaffen hat, der in allen Altersgruppen und Leserschichten Freunde gefunden hat. Wie sehr „Asterix“ von der Originalität und dem Witz Goscinnys gelebt hat, mussten alle seine Leser schmerzlich erfahren, als Albert Uderzo die Reihe nach Goscinnys überraschendem Tod 1977 allein fortsetzte. Es gab zwar immer noch den ein oder anderen Band, der an die früheren erinnerte, wirkliche Höhepunkte aber fehlten, und die Erfolgsgeschichte schien mit dem Band „Gallien in Gefahr“ (2005) ihren absoluten Tief- und Endpunkt erreicht zu haben.

Natürlich ist es nicht einfach, einen solchen jahrzehntelangen Erfolg einfach auf sich beruhen zu lassen und zu akzeptieren, dass gewisse Dinge ihre Zeit haben und nun einmal zu einem Ende kommen, insbesondere wenn der Verdacht besteht, man könne noch Geld aus dem verbliebenen Ruhm schlagen. Da die Ikone Asterix nun einmal existiert, warum sie nicht in die kommerzielle Unsterblichkeit überführen? Gesagt, getan: Einen neuen Zeichner angeworben, der es perfekt versteht, Uderzos Stil zu imitieren, und einen neuen Autor, denn was immer der schreibt, es kann nicht schlimmer sein als das, was Uderzo zuletzt abgeliefert hat. Und mit der richtigen Werbekampagne läuft das auch: Ein weiterer mittelmäßiger Asterix-Band, der sich am bewährten Muster der Reise-Abenteuer entlangwurschtelt, einige der alten ikonographischen Muster aufgreift (Asterix und Obelix schreien sich mehrfach schlecht motiviert an, Majestix kämpft mit Schild-Problemen, Obelix wird rot, wenn ihn eine hübsche, junge Frau umarmt), dafür andere schlicht ignoriert (keine Massenschlägerei mehr im Gallierdorf, stattdessen viel gänzlich beliebiger Tratsch und Klatsch, keine Wildschwein-Jagd (wahrscheinlich nicht mehr politisch korrekt), Idefix bleibt daheim (eine gänzlich unverständliche Entscheidung, die viel Potenzial zu rein illustrativem Humor verschenkt) usw usf.). Das alles ist brav, aber ohne wirklichen Elan, ohne Originalität und ohne Witz.

Nicht einer der schlechtesten Bände, aber auch keiner von den wirklich guten. Ob unter dem neuen Team noch einmal die Höhe von Abenteuern wie „Streit um Asterix“ oder „Asterix auf Korsika“ erreicht werden wird, bleibt abzuwarten. Der Tiefpunkt jedenfalls ist vorerst einmal überwunden. Dauerhaft überleben wird die Reihe nur, falls es ihr gelingt, sich neu zu erfinden; danach sieht es derzeit aber nicht aus.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten. Asterix Bd. 35. Berlin: Egmont Ehapa, 2013. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten.
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Die dritte Wiederlektüre eines Frauen-Romans von Fontane im Rahmen einer kleinen, didaktisch begründeten Reihe. Nach „Mathilde Möhring“, das im Kleinbürgertum spielt, und „Effi Briest“, dem adligen Pendant, nun also das preußische Großbürgertum und die kleine Gelehrtenwelt eines Gymnasialprofessors, der allerdings damals noch etwas galt.

Erzählt wird der Konflikt zwischen der Titelfigur, einer an der Oberfläche schwärmerischen und sentimentalen, in der Substanz aber knochentrockenen Fünfzigerin, die sich aus einfachen Verhältnissen nach oben geheiratet hat, und Corinna Schmidt, der Tochter eines Gymnasialprofessors, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr zukünftiges Wohlleben dadurch zu sichern, dass sie sich von Jennys Sohn Leopold heiraten lässt. Jenny will Corinna gleich aus mehreren Gründen nicht in der Familie haben: Zum einen wäre ihr die ständige Erinnerung an ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zuwider, zum anderen ist Corinna so eigenständig und intellektuell überlegen, dass Jenny kaum hoffen kann, jemals bedeutenden Einfluss auf sie oder ihren Sohn zu nehmen, sollten die beiden heiraten. Wie oft beim grundpessimistischen Fontane, setzen sich die bösen Absichten durch. Man fühlt sich unwillkürlich an die Zusammenfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen durch Doktor Wrschowitz in „Der Stechlin“ erinnert:

Oberklasse gutt, Unterklasse serr gutt, Mittelklasse nicht serr gutt.

Da der alte Meister aber genau wusste, was sein Publikum von ihm erwartete, hat er zum Ausgleich ein Komödienende hinzuerfunden: Der weichliche Leopold bleibt unter der Knute seiner Mutter und kommt zusätzlich unter die einer von allen Familienmitgliedern ungeliebten Ehefrau, Corinna aber heiratet den ihr sowieso immer schon zugedachten Vetter und Junggelehrten Marcell Wedderkopp, der ihr wenigstens einigermaßen wird Paroli bieten können. So weit, so gehöft.

Der Roman ist ein leichte und angenehme Lektüre. Zu bewundern ist aber die höchste Ökonomie, mit der das Buch geschrieben wurde: Exposition, Schürzen des Knotens und Durchführung des Konflikts sind von einer solchen Stringenz, dass das alles mehr der Konzeption eines Theaterstücks ähnelt als einem auf epische Breite angelegten Roman. Sicherlich: Für ein Bühnenstück sind die Nebenfiguren etwas zu zahlreich und ausführlich geraten, auch sind einige Lokalitäten nicht wirklich bühnentauglich, aber was die Konstruktion des ganzen angeht, hat Fontane offenbar bei den Dramatikern einiges gelernt. Die Exposition wird mit der Beschreibung eines einzigen Tages erledigt, eigentlich beinahe nur durch die Beschreibung zweier Abendgesellschaften: Eine im Hause Treibel, die dem gesellschaftlichen Glanz des Hauses und der politischen Karriere des Hausherrn förderlich sein soll, eine in der Wohnung Professor Willibald Schmidts, der mit ein paar Kollegen einen vergnügten Abend bei Oderkrebsen und Schliemannschen Ausgrabungen begeht. Die Beschreibung dieses ersten Tags macht die ersten ⅖ des Romans aus, und alles, was folgt ist nur die konsequente Durchführung der in diesem ersten Teil angelegten Themen.

Wieder einmal durfte ich feststellen, dass ich Fontane umso mehr schätze, je älter ich werde.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 14. Berlin: Aufbau Verlag, 2005. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 374 Seiten. 24,90 €.

Frank Brady: Endgame

He was poised for battle against the chess establishment, the Union Bank of Switzerland, the Jews, the United States, Japan, Icelanders in general, the media, processed foods, Coca-Cola, noise, pollution, nuclear energy, and circumcision.

Brady_EndgameFrank Brady schreibt seit knapp 50 Jahren Biographien über den elften Schachweltmeister Robert James (Bobby) Fischer. Bereits 1965 erschien sein erstes Buch, damals noch dem Wunderkind Fischer gewidmet, das der 1943 geborenen Fischer zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr war, und dieses Buch wurde in einer überarbeiteten Neuauflage 1973 und einem unveränderten Nachdruck 1989 nochmals publiziert. 2011 ist dann mit »Endgame« sozusagen die Fassung letzter Hand erschienen; es dürfte für einen Kenner kein kleiner Spaß sein, die Wandlung der Biographie Fischers in der Darstellung Bradys durch die Jahre hindurch zu verfolgen.

Brady ist ein routinierter, journalistischer Schriftsteller mit der Neigung, ab und an sprachlich etwas dick aufzutragen. Eigentlich möchte er Fischer sympathisch darstellen, was ihm aber gerade im letzten Teil des Buches angesichts des immer unerträglicher werdenden Charakters dieses Menschen zunehmend schwer fällt. Fischer war spätestens seit den 80er Jahren soziopathisch, paranoid und schwer depressiv. Und auch wenn ihn Brady bei der Darstellung der letzten, isländischen Jahre zu einem Intellektuellen zu stilisieren versucht, so muss doch festgestellt werden, dass etwa Fischers Faszination mit ständig wechselnden religiösen Ideologien, die er sich immer so zurechtlegt, dass sie sein persönliches Wahnsystem und sein Selbstbild stützen – sobald der jeweils aktuelle Versuch brüchig wird, wechselt er die Religion – und sein wahnhafter Antisemitismus – Juden sind für Fischer letztlich alle Menschen, die nicht seiner Meinung sind – starke Indizien dafür liefern, dass Fischer seinen Kopf außer zum Schachspielen zu nicht viel anderem richtig zu gebrauchen wusste. Es muss Brady zugutegehalten werden, dass er alle für dieses Urteil nötigen Sachverhalte zur Verfügung stellt, wenn er sich auch letztlich weigert, die sich daraus ergebende Konsequenz selbst zu ziehen. Fischer ist für ihn offenbar ein bemitleidenswerter und kranker Mann gewesen, über den den Stab zu brechen Brady zu vermeiden sucht.

Alles in allem ist die Biographie solide, wenn auch dem Kenner hier und da merkwürdige Auslassungen auffallen können: So war Fischer zum Beispiel für das Interzonenturnier in Palma de Mallorca im Jahr 1970, in dem er sich mit einem überragenden Sieg für die Kandidaten-Kämpfe der WM 1972 qualifizierte, nicht startberechtigt, da er an der für dieses Turnier qualifizierenden US-Meisterschaft 1969 nicht teilgenommen hatte. Qualifiziert hatte sich unter anderen Pál Benkő, der seinen Qualifikationsplatz zugunsten Fischers aufgab und ihm so den Weg zum Weltmeistertitel 1972 freimachte. Kein Wort davon in Bradys Biographie. Am Platz kann es nicht gelegen haben, denn an anderer Stelle erfahren wir so wichtige Details wie dieses:

As he [Fischer] and his two bodyguards drove along the banks of the Danube, Bobby noticed that the river wasn’t the color he’d thought it would be. Unlike the ‘The Blue Danube’ of Strauss’s waltz, this deep water was mud brown.

Nun gut.

Eine teilweise sprachlich pompöse, aber trotzdem lesbare und insgesamt stimmige, im Detail etwas nachlässige Biographie Bobby Fischers, die besonders für Nichtschachspieler den Vorzug besitzt, gänzlich ohne Partienotationen und Diagramme auszukommen. Eine deutsche Übersetzung liegt seit 2012 ebenfalls vor.

Frank Brady: Endgame. Kindle-Edition. London: Constable, 2011. 418 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,20 €.

Thomas Fuchs: »Ein Mann von Welt«

Fuchs-Mark-TwainEine kleine, flott geschriebene, journalistische Mark-Twain-Biographie, die zum Einstieg gut geeignet ist. Fuchs kennt sich aus, belastet den Leser nicht mit allzuviel konkreten Daten und vermittelt alles in allem ein stimmiges Zeit- und Lebensbild. Ob es tatsächlich notwendig ist, dass Fuchs einen ebenso kurzen wie schiefen Abriss der Ursachen des Amerikanischen Bürgerkriegs liefert, darf bezweifelt werden, aber solche Ausreißer sind zum Glück die Ausnahme. Auch dass ein Autor nicht richtig Deutsch kann und kein Lektorat dem aufhilft – so sind zum Beispiel im Deutschen Schiff und Boot nicht synonym, und Prosa bedeutet auch nicht das, was Herr Fuchs damit meint –, muss heutzutage als der Normalfall angesehen werden. Abgesehen von diesen kleinen Schwächen kann das Büchlein zur Orientierung durchaus empfohlen werden.

Thomas Fuchs: »Ein Mann von Welt«. Eine Mark Twain Biografie. Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 221 Seiten. 14,95 €.

Theodor Fontane: Effi Briest

Man hat wieder mal gelernt: aufpassen.

Fontane_EffiMeine Lektüregeschichte zu »Effi Briest« ist lang und etwas kompliziert: Es ist der erste Roman Fontanes, den ich überhaupt gelesen habe – es muss 1981 gewesen sein – und ich war bei meiner erste Lektüre alles andere als angetan. Ich war damals – beeinflusst durch die intensive Lektüre Arno Schmidts und das langsame Erobern des »Ulysses« – ein sehr formaler Leser und hatte zugleich vom 19. Jahrhundert kaum mehr als eine Ahnung. Von daher erschien mir Fontane in der Hauptsache als ein laxer, unordentlicher Erzähler, der wenig um das Gerüst bzw. die Konstruktion seiner Erzählung gab. Während des Studium begriff ich dann langsam, um was es Fontane beim Erzählen dieses Romans gegangen war und lernte von den scheinbaren formalen Schwächen abzusehen.

Noch später dann verwendete ich »Effi Briest« als Gegenfolie zu Arno Schmidts sogenannter Etym-Theorie, indem ich spaßeshalber bei dem auf den ersten Blick unverdächtigen Fontane den bewussten Einsatz von Etym-Techniken nachwies, also Schmidts Rede von der »4. Instanz« konterkarierte. Und mit der Zeit stellte sich Effi Briest dann endlich auch in die Reihe der berühmten literarischen Frauengestalten des 19. Jahrhunderts ein.

Wenn man nach einer solchen Lektüregeschichte von fünf oder sechs Lektüren aus didaktischem Anlass erneut zu einem Buch zurückkehrt, besteht immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird, dass die Faszination des Buches ausgeschöpft scheint. Doch auch diesmal hat sich Fontane als Erzähler bewährt.

Wie bekannt sein sollte, erzählt »Effi Briest« von Schicksal der zu Anfang 17-jährigen Titelheldin, die an einen mehr als doppelt so alten Mann, einen ehemaligen Bewerber um die Gunst ihrer Mutter verheiratet wird. Effi und Geert von Instetten passen nicht sehr gut zusammen oder, um nicht ungerecht zu sein, sie finden erst nach längerer Zeit die Ebene, auf der sie miteinander statt nebeneinander her leben können. In der Zwischenzeit aber hatte Effi aus Langeweile und Neugier eine kurze Affäre mit einem anderen Mann, die nicht nur gut sechs Jahre später ihre Ehe, sondern ihr gesamtes Leben ruinieren soll. Nach der Scheidung findet sich Effi gesellschaftlich isoliert, sogar zu ihrer eigenen Tochter findet sie keinen Kontakt mehr. Und, obwohl schuldig, endet ihr Leben tragisch: Zu unangemessen an ihren Fehltritt erscheint die Härte, mit der sie von ihrer Welt abgeschlossen wird. Selbst jenen, die ihr am nächsten standen, ihren Eltern und ihrem ehemaligen Ehemann, kommen Bedenken, aber auch ihnen fehlt eine wirkliche Alternative zu dem, was sie eben tun. Es tut ihnen leid, aber was soll man angesichts der Forderungen der Gesellschaft nach Moral und Gerechtigkeit anderes machen, als der Ungerechtigkeit nachgeben?

Daher müsste natürlich einmal gründlich über die Menschlichkeit der Fontaneschen Erzählungen geredet werden: Trotz der unbestreitbaren Ungerechtigkeit, die sich in Effis Schicksal manifestiert, ist keine der Hauptfiguren (vom Apotheker Gieshübler vielleicht einmal abgesehen) ganz schuldig oder ganz und gar unschuldig. Natürlich hätten sich sowohl Instetten als auch Effis Eltern anders verhalten können und sollen, als sie es getan haben, aber Fontane bleibt misstrauisch gegenüber solchen moralischen Anforderungen an das Individuum. Auch nützt es wenig, Effi oder Crampas anzuklagen; die eine, weil sie keine wirkliche Chance hat, sich der Verführung zu erwehren (I can resist everything except temptation.), den anderen, weil er eben auch nur seiner Natur folgt und sich jederzeit über die möglichen Folgen im Klaren ist, die er resignierend in Kauf nimmt. Und so geschieht hier das Böse ohne die Bösen (den Bösen waren wir schon in Goethes Faust losgeworden). Niemand, den man nicht verstehen könnte, der nicht seine Gründe hätte, sich erst einmal um sich und erst später um die Folgen für die anderen zu kümmern. Es gehört zu den besten bei Fontane zu findenden Einsichten, wie ganz obenhin, gedankenlos und zugleich unausweichlich die Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft entsteht.

Darüber hinaus ist mir bei der jetzigen Lektüre deutlicher als zuvor die motivische Dichte des Romans aufgefallen: Überall finden sich Ehebrühe oder außereheliche sexuelle Beziehungen, ständig wird der Leser daran erinnert, welche eine dünne Lackschicht die offizielle Moral bildet über einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Sexualität in den unterschiedlichsten Formen umgetrieben wird.

Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ – zu der Bemerkung hinreißen, »das Käthchen liege sehr gut da,« welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleich kam oder doch zu solcher hinüber leitete.

Es ist erstaunlich, wie subtil und dennoch nicht weniger deutlich Fontane die zentrale Bedeutung sexueller Verhältnisse zu thematisieren vermag, ohne dabei für die Leserinnen der Familienblätter, für die er in erster Linie schrieb, anstößig zu werden. Zugleich macht er klar, dass ihm die unverstelltere Behandlung des Themas in der zeitgenössischen Literatur durchaus bekannt ist:

… die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi, beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, »ob es denn wirklich so schrecklich sei,« habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem ›anderen‹ bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«

Ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist. Ich bin schon jetzt gespannt, wann ich wieder bei ihm vorbeikommen werde.

Theodor Fontane: Effi Briest. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15. Berlin: Aufbau Verlag, 1998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 534 Seiten. 25,– €.

Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund

Sinn hat dieses verrückte Leben keinen und scheinbar einen konstruieren kann man nur dann, wenn man eine Unmenge neuen Unsinns dem alten Unsinn hinzufügt. Alles was man tun kann, ist Märchen erzählen und sich und andere so vorübergehend zu unterhalten.

Feyerabend_Duerr_BriefeDer Band präsentiert wohl etwa die Hälfte oder auch etwas mehr des Briefwechsels zwischen Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr, der den Band herausgegeben hat. Das heißt, es handelt sich in der Hauptsache um Briefe Feyerabends an Duerr, denn die Briefe Duerrs in umgekehrter Richtung haben sich leider nur in Einzelfällen erhalten, da Feyerabend mit ihnen gänzlich sorglos umgegangen ist.

Es ist natürlich hübsch, Briefe gerade von diesen beiden kreativen Außenseitern des akademischen Wissenschaftsbetriebs lesen zu können. Während Duerr eher durch seine Inhalten und Interpretationen verstört, nimmt Feyerabend den gesamten Betrieb nicht mehr ernst und nur noch im Sinne einer Lebensweise an ihm teil. Was die meisten Fachkollegen und Kritiker an Feyerabends Schriften am meisten irritiert haben dürfte, ist ihre prinzipiell skeptische Grundposition, die nicht versucht, dem Allmachtsanspruch des Rationalismus einen anderen entgegenzusetzen, sondern sich mit der Haltung des Kindes begnügt, das die Nacktheit aller Herrscher ausschreit.

Außer um das Elend des Wissenschaftsbetriebs im persönlichen und allgemeinen Sinne geht es in der Hauptsache ums Schreiben und Lesen, hier und da auch um Frauen, Familie und Essen. Am Rande fallen einige hübsche Kurzporträts ab – am reizvollsten ist vielleicht das Siegfried Unselds geraten.

Für mich persönlich war es hübsch zu lesen, dass Feyerabend als ehemaliger popperscher Rationalist seine Wandlung der Wittgensteinschen Gehirnwäsche verdanke.

Ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.

Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. edition suhrkamp 1946. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Broschur, 291 Seiten. 11,50 €.