Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit

… – es macht keinen Unterschied.

Harari-Kurze-GeschichteEin so schlechtes Buch, dass es sich kaum lohnt, es überhaupt zu besprechen, außer in dem Sinne, dass es der einen oder dem anderen die Lektüre ersparen wird. Der Autor ist Historiker, was man dem Buch aber nicht anmerkt. Nach einem Überblick über die Frühgeschichte der Menschheit geht der Autor dazu über, sich sehr allgemein darüber auszulassen, wie die menschliche Gesellschaft seiner Meinung nach funktioniert. Seine Haupteinsicht besteht darin, dass es sich bei menschlichen In­sti­tu­tio­nen und Ü­ber­zeu­gun­gen um Fiktionen handelt, die nichtsdestowe­ni­ger wirksam sind. Zwar kann Harari weder erklären, wie solche Fik­tio­nen installiert werden (sie werden einfach von jemandem erfunden), noch warum sie perpetuiert werden, wenn sie ihre Nützlichkeit ver­lo­ren haben, was ihn aber in keiner Weise dabei stört, ein schlecht durch­dach­tes Beispiel ans andere zu hängen, ohne ein einziges Mal auf Strukturen der Macht zu sprechen zu kommen. Auch handelt es sich bei der Geschichtswissenschaft und den Naturwissenschaften offenbar nicht um solche Fiktionen; auch seine Theorie vom fiktiven Charakter der gesellschaftlichen Institutionen scheint von dieser Theorie aus­ge­nom­men zu sein – so ein Glück!

Es lohnt nicht, Hararis Geschwätz detaillierter zu beschreiben. Die Argumentation des Buches ist flach, dumm, ermangelt jeglicher Selbst­ref­le­xion und weitgehend der Sachrichtigkeit.

Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013. Pappband, 526 Seiten. 24,99 €.

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel

Als jüngsten Band in seiner ebenso schönen wie verdienstvollen Reihe von Neuübersetzungen literarischer Klassiker legt der Hanser Verlag mit „Die Schatzinsel“ nach „St. Ives“ einen weiteren Stevenson-Band vor. „Die Schatzinsel“ ist völlig zu Recht Stevensons bekanntester Roman; er war nicht nur ein Bestseller seiner Zeit, sondern hat auch auf unzählige Nachfolger sowohl im Detail als auch der erzählerischen Form nach massiven Einfluss gehabt. Seine Fabel ist exzellent konstruiert und kompakt und ökonomisch erzählt, seine Figuren prägnant und klar motiviert, ohne einem zu simplem Gut-Böse-Schema zu gehorchen, seine Sprache eingängig, ohne simpel oder klischeehaft zu wirken. All dies hat das Buch zu einem der Muster der Abenteuererzählung werden lassen. So wäre es etwa kein kleiner Spaß, einmal alle direkten und indirekten Anspielungen auf die „Schatzinsel“ in Disneys „Pirates of the Caribbean“-Filmen aufzuspüren.

Es ist daher kein Wunder, dass die Neuübersetzung von Andreas Nohl die Fortsetzung einer langen Reihe darstellt, selbst wenn man von allen Ausgaben für die heranwachsende Jugend absieht, die ohne besondere literarische Ansprüche die Handlung paraphrasieren. Erzählt wird, wie bekannt sein dürfte, die Geschichte vom jungen Jim Hawkins, Sohn eines verstorbenen Gastwirts, der aus dem Nachlass eines merkwürdigen, seemännischen Gastes im elterlichen Gasthaus in den Besitz einer Schatzkarte gelangt, auf der das Versteck des Schatzes des berüchtigten Piraten Flint eingetragen ist. Jim findet im Doktor des Dorfes und einem benachbarten Gutsverwalter zwei Unterstützer bei der Suche nach Flints Schatz, die ein Schiff ausrüsten und sich zusammen mit ihm auf den Weg zur Schatzinsel machen. Wie sich herausstellt, besteht ein bedeutender Teil der Besatzung des Schiffes aus Flints alter Mannschaft, die dem eigentlichen Bösewicht des Buches, dem Schiffskoch Long John Silver gehorchen und eine Meuterei inszenieren, sobald man auf der Schatzinsel angekommen ist. Mehr muss von den Abenteuern Jims nicht nacherzählt werden, denn dass es gut ausgeht und die Richtigen am Ende mit dem Schatz nach Hause fahren, versteht sich von selbst.

Um die Neuübersetzung sollte man eigentlich auch nicht viele Worte machen müssen, da es völlig normal ist, dass ein so populärer Text mit schöner Regelmäßigkeit neu übersetzt wird. Nohl selbst betont einmal mehr, seine Übersetzung suche die „größtmögliche Nähe zum Original bei gleichzeitig größtmöglicher Lesbarkeit“. Die Auffassung, dass es Aufgabe des Übersetzers sei, die größtmögliche Lesbarkeit des Textes zu erzeugen, anstatt dem zielsprachlichen Leser einen möglichst genauen Eindruck vom ausgangssprachlichen Text zu vermitteln, hatte mir bereits das Vergnügen an seiner „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“-Übersetzung verdorben. Was Lesbarkeit in diesem Zusammenhang überhaupt anderes bedeuten soll als die Vorstellung eines Verlegers von der rezeptiven Dummheit seiner Kunden, bleibt denn auch diesmal unklar. Im Falle der „Schatzinsel“ ist dies nicht ganz so dramatisch, da das englische Original in weiten Teilen schon recht lesbar ist. Dennoch macht sich Nohl Sorgen um „ausgefallene“ nautische Fachausdrücke, die er versucht, in „leichter verständliche“ zu übersetzen. Ob der Reiz der Verwendung ausgefallener Ausdrücke nicht gerade darin liegen könnte, die Fremdheit der Welt an Bord eines Segelschiffs des 18. Jahrhunderts zu erhöhen, wird – zumindest im Nachwort – nicht reflektiert.

Dass Nohl die grammatikalisch oft falsche und stark mit Dialektausdrücken und Verschleifungen durchsetzte Sprache Long John Silvers im Namen der Lesbarkeit verflachen und verharmlosen würde, war nicht anders zu erwarten. Dabei ist er für die sprachliche Ausdifferenzierung des Originals durchaus nicht unempfänglich, wie sich an dem fein gemachten Tonwechsel in den wenigen Kapiteln zeigt, in denen nicht Jim Hawkins, sondern der Doktor als Erzähler fungiert.

Doch bleibt es wenigstens für mich fraglich, ob es bei der Übersetzung eines Romans aus dem 19. Jahrhundert, der zudem noch im 18. Jahrhundert spielt, wirklich glücklich ist, „cooling drinks“ mit dem Wort „Erfrischungsgetränke“ zu übersetzen; oder warum Billy Bones, der im Original den ihn behandelnden Doktor einen „fool“ (Narren) nennt, seine ehemaligen Schiffskameraden aber als „lubbers“ (Trottel) bezeichnet, in Nohls Übersetzung für beide Wörter den Ausdruck „Dösbaddel“ benutzen muss. Ob „gentleman of fortune“, für das es das schöne deutsche Wort „Glücksritter“ gibt, besser mit „Hasardeur“ übersetzt ist, mag noch immerhin Geschmackssache sein. Auch gestehe ich gern zu, dass sich der berühmte Fluch Long John Silvers „shiver my timbers“ nicht recht eindeutschen lässt, aber wenn es denn schon „hau mich der Lukas“ heißen soll – was meiner gänzlich unmaßgeblichen Meinung nach an und für sich schon ganz und gar schrecklich ist –, dann muss es eben auch so heißen und nicht mal so und mal „zum Donnerwetter“ (S. 218) und mal „Donnerkiel“ (S. 254), was nebenbei an anderer Stelle (S. 276) die Übersetzung von „by thunder“ ist. Von Schlampereien des Lektorats wie den missratenen Gradangaben auf Seite 59 und der Erwähnung einer „westlichen Breite“ in der dazugehörigen Fußnote will ich ganz absehen; sicherlich hätte man solche ausgefallenen nautischen Angaben am liebsten ganz aus dem Text fortgelassen.

Leser, denen solche literarischen Feinheiten gleichgültig sind, bekommen – wie immer bei Hanser – ein sehr schön ausgestattetes Buch mit einer weitgehend akzeptablen, modernen und lesbaren Übersetzung. Wir anderen gehen ins Antiquariat oder hoffen darauf, dass sich doch wieder einmal ein Verleger besinnt, die Übersetzung Friedhelm Rathjens (Haffmans, 1997) zum Druck zu befördern.

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2013. Leinen, Fadenheftung, bedrucktes Vorsatzpapier, Lesebändchen, 383 Seiten. 27,90 €.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita

bulgakow_meisterMichail Bulgakow ist 1940 gestorben, so dass sein Werk zu Anfang des vergangenen Jahres gemeinfrei geworden ist. Nun legen Alexander Nitzberg und der Berliner Galiani Verlag, die mir zuletzt mit der inzwischen abgeschlossenen Ausgabe der Werke von Daniil Charms Vergnügen gemacht haben, eine Neuübersetzung von Bulgakows Hauptwerk »Meister und Margarita« vor. Da es noch nicht so sehr lange her ist, dass ich die alte Übersetzung von Thomas Reschke gelesen habe, habe ich mich bei der Neuausgabe vorerst auf Stichproben beschränkt.

Nitzbergs Übersetzung muss wohl als flott bezeichnet werden: Gleich aus den ersten drei grammatikalisch wohlgegliederten Sätzen Bulgakows macht Nitzberg ein parataktisches Prosageknatter von neun Sätzen, von denen einige nicht einmal ein Verb aufweisen können. Auf der zweiten Seite wird ein Satz des Dichters Besdomny dem Redakteur Berlioz zugeschustert. Bei jeder Gelegenheit wählt Nitzberg (im Vergleich zu Reschke) den knalligeren, lauteren, auffälligeren Ausdruck. In Ermangelung von nennenswerten Russischkenntnissen kann ich nicht beurteilen, wie weit Nitzbergs Entscheidungen vom Original gedeckt werden, aber ich habe den Verdacht, dass Bulgakow hier durch die Mühle eines Übersetzers gedreht wurde, der seinen Stil zuletzt auf einen Manieristen wie Charms eingerichtet und nicht ausreichend nachjustiert hat.

Den deutschen Leser muss nicht unbedingt interessieren, ob er eher eine Übersetzung oder eine Bearbeitung liest, wenn sich nur beim Lesen das erwartete Vergnügen einstellt. Und dafür ist Bulgakows »Meister und Margarita« allemal gut.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani 2012. Bedruckter Pappband, Leinenrücken, Lesebändchen, 604 Seiten. 29,99 €.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 1

Fürwahr: Es gibt Lügen, es gibt schamlose Lügen und es gibt die Statistik. Aber, Freunde, lasst uns dabei die Psychologie nicht vergessen!

Strugatzki_Werke_1Arkadi und Boris Strugatzki waren die erfolgreichsten Autoren von Zukunftsromanen in der Sowjetunion. Ein bedeutender Teil ihrer zahlreichen Romane und Erzählungen sind ins Deutsche übersetzt und sowohl in der BRD als auch in der DDR erfolgreich immer wieder aufgelegt worden. Im Westen dürften ihre beiden populärsten Romane jene sein, die verfilmt wurden: Ein Abschnitt aus »Picknick am Wegesrand« lieferte die Vorlage für Andrei Tarkowskis »Stalker«; die andere halbwegs bekannte Verfilmung basiert auf »Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein«.

Seit 2010 legt der Heyne Verlag nun erstmals eine geschlossene Werkauswahl vor, von der gerade der vierte Band erschienen ist. Parallel zu den Taschenbüchern bei Heyne wird auch eine gebundene Ausgabe im Golkonda Verlag gedruckt, die sich allerdings explizit an Liebhaber zu richten scheint, da sie auf den normalen Vertriebswegen des Buchhandels nicht zu finden ist. Soweit ich es beurteilen kann, scheinen die Bände inhaltsidentisch zu sein. Ich selbst lese die Bücher in der Kindle-Edition des Heyne Verlages, zu der aber zu sagen ist, dass sie nicht frei von Kinderkrankheiten ist: So ist der 2. Band derzeit nicht verfügbar, da Amazon ihn derzeit anscheinend auf Fehler prüft (ich konnte auf Anhieb bis auf ein etwas ungeschickt formatiertes Inhaltsverzeichnis keine feststellen); in Band 4 fehlt das Inhaltsverzeichnis der Kindle-Edition komplett, was für ein elektronisches Medium mit mehreren Texten, in dem man nicht eben mal so blättern kann, ein Unding darstellt. Band 1 ist unordentlich bzw. gar nicht lektoriert: An einer Stelle (Position 9664) sind mehrere Varianten einer Passage, die der Übersetzer wohl alternativ formuliert hatte, im Text stehen geblieben. Auch fehlt in allen Bänden eine erschließende Übersicht der Gesamtedition, die deutlich macht, warum welche Texte in gerade dieser Reihenfolge auf die Bände verteilt wurden. Das alles muss man sich mühsam aus verschiedenen Quellen zusammensuchen. Hier muss Heyne noch sehr dazu lernen.

Alle Text sollen in vollständigen und überarbeiteten Übersetzungen erscheinen, wobei die existierenden Übersetzungen anhand der Originalausgaben vom Herausgeber der Ausgabe Erik Simon ergänzt wurden. Dabei konnte oder wollte er bestimmte stilistische Uneinheitlichkeiten und Verwerfungen offenbar nicht vermeiden. Ob Simon tatsächlich die jeweils beste der zumeist zahlreichen Übersetzungen als Grundlage für seine Ausgabe nimmt oder ob er hier lizenzrechtliche Rücksichten nimmt oder nehmen muss, kann ich nicht beurteilen; es wird wohl auch nirgendwo thematisiert. Wie man leicht sieht, ist dies alles Stückwerk, aber es ist eben auch besser als nichts. Durchweg positiv zu bewerten sind dagegen die Anhänge der Bände: Hier finden sich nicht nur Kommentare zu Anspielungen und Zitaten, sondern auch essayistische Texte Boris Strugatzkis zur Entstehung der Romane und solide Nachworte des Herausgebers Erik Simon.

Band 1 der Gesammelten Werke enthält die drei Romane. deren Protagonist der Progressor Maxim Kammerer ist. Progressoren sind im 22. Jahrhundert Angehörige eine Berufsgruppe, die auf fernen Planeten Entwicklungshilfe leisten (»Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein«, der in der jetzigen Fassung »Es ist schwer, ein Gott zu sein« heißt, dürfte der bekannteste Roman zu diesem Themenfeld der Strugatzkis sein). Maxim Kammerer bzw. der erste Kammerer-Roman »Die bewohnte Insel« wurde aus einer Trotzreaktion heraus geboren: Nachdem die sowjetischen Zensurinstanzen den Brüdern Strugatzki wieder einmal vorgeworfen hatte, ihre Protagonisten seien nicht sowjetisch genug, nahmen sie sich vor, einen idealen sowjetischen Vollpfosten zum Helden ihres nächsten Buches zu machen. Zum Glück erwiesen sich der Stoff und der Charakter als widerständig genug, um diesen Plan scheitern zu lassen.

In »Die bewohnte Insel« (1969) begegnen wir Maxim Kammerer zuerst als jungem, etwa naivem Kosmonauten, der ins All geflogen ist, um bewohnte Planeten zu entdecken und zu erkunden. Leider hat sein Raumschiff beim Landeanflug auf den Planeten Saraksch eine Panne und wird kurz nach der Landung auf dem Planeten – Maxim hat sich zum Glück schon auf die Suche nach den Bewohnern gemacht – vollständig zerstört. Maxim ist also für unabsehbare Zeit auf dem Saraksch gefangen. Kammerer trifft auf eine Gesellschaft, die vor nicht allzu langer Zeit einen atomaren Krieg hinter sich gebracht hat. Der einzige Kontinent des Planeten ist aufgeteilt in mehrere Reiche, die gegenseitig nur wenig voneinander wissen und in kontinuierlichem, mehr oder weniger akutem Kriegszustand miteinander zu liegen scheinen (Orwell lässt grüßen). Das Reich, auf das Kammerer zuerst trifft, ist daher auch hauptsächlich militaristisch organisiert. An der Regierung ist eine oligarchische Gruppe, die die Öffentlichkeit nur unter dem Titel Unbekannte Väter kennt (Orwell lässt grüßen). Sie regiert in der Hauptsache mit Hilfe einer Propaganda-Strahlung, die den Großteil der Bevölkerung in willenlose Marionetten verwandelt (Orwell … naja: usw.). Es gibt allerdings eine kleine Anzahl von Menschen, die gegen den propagandistischen Einfluss der Strahlung immun sind; aus diesen rekrutiert sich zum einen die Führungselite der Gesellschaft, zum anderen bilden sie die geächtete Gruppe der sogenannten Entarteten, die von der Regierung gejagt wird mit dem Ziel, sie auszurotten.

In dieser Gesellschaft macht Maxim, der als Erdenmensch den Menschen vom Saraksch körperlich und intellektuell deutlich überlegen ist, nun eine Laufbahn durch, die ihn vom Soldaten über den Terroristen und Gefangenen zum Einzelkämpfer gegen die Oligarchie macht, der gegen Ende des Romans die zentrale Steuerungseinheit der Propaganda-Strahlung sprengt, um damit einen gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse zu erzwingen. Nachdem diese Zentrale zerstört wurde, wird er von einem der regierenden Funktionäre aufgegriffen, der sich als ein echter irdischer Progressor erweist: Der Wanderer hat die Regierung infiltriert, um von der Führungsebene aus eine Reformation der Gesellschaft zu bewirken. Die Einsicht, dass auf Saraksch längst Erdlinge aktiv an der Gestaltung der dortigen Geschichte arbeiten, bildet die letzte Stufe in Maxims langsam wachsendem Verständnis der dortigen Verhältnisse und beendet vorerst seinen Aufenthalt auf diesem Planeten.

In weiten Teilen handelt es dich bei »Die bewohnte Insel« um eine Allegorie auf die Sowjetunion der späten 60er Jahre und wurde auch offensichtlich so wahrgenommen. Insbesondere die militärischen Strukturen und der zentrale Einfluss der Propaganda auf die Gesellschaft, die oligarchische Führung, die die Propaganda nutzt, ohne selbst an ihren Wahrheitswert zu glauben, sowie die latente Neigung des politischen Systems zur Diktatur dürften die wesentlichen Elemente dieser allegorischen Ebene des Romans darstellen. Ergänzt und überhöht wird sie durch phantastische Elemente wie etwa der Gruppe der Mutanten, die am Rande der Gesellschaft leben oder die – im zweiten Roman eine wichtige Rolle spielenden – halb menschlichen, halb hündischen Kopfler. In Zentrum aber steht die kontinuierlich wachsende Einsicht des anfänglich naiven Kammerers in die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die den eigentlichen Reiz des Romans ausmacht.

»Ein Käfer im Ameisenhaufen« (1979) spielt etwa 20 Jahre später auf der Erde. Maxim Kammerer, der zwischenzeitlich als Progressor gearbeitet hat, ist nun Abteilungsleiter der KomKon 2, einer irdischen Behörde, die in der Hauptsache für die Sicherheit des Planeten Erde zuständig ist. Die Handlung umfasst nur vier Tage im Juni des Jahre 2278. Kammerer erhält zu Anfang der Erzählung vom Leiter der KomKon 2 – dem Wanderer des ersten Romans der Reihe – den Auftrag, den Progressor Lew Abalkin ausfindig zu machen, der vor wenigen Tagen auf dem Saraksch unter verdächtigen Umständen verschwunden ist, sich zur Erde aufgemacht hat, dort aber nach seiner Ankunft untergetaucht ist. Bei seinen Recherchen zur Lebensgeschichte Abalkins stößt Kammerer darauf, dass dieser zu einer Gruppe von dreizehn Menschen gehört, deren Herkunft höchst mysteriös und geheim ist, so geheim, dass nicht einmal Abalkin in sie eingeweiht ist. Er entstammt einem tausende von Jahren alten Brutkasten, auf den irdischen Forscher auf einem fernen Planeten gestoßen sind und in dem sich dreizehn befruchtete menschliche Eizellen befanden, die nach ihrer Entdeckung spontan mit ihrer Entwicklung zu Menschen begannen. Eine damals einberufenen Kommission kam zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Brutkasten möglicherweise um den ersten handfesten Beweis für die Existenz einer nichthumanoiden Superrasse, den sogenannten Wanderern (die offenbar bewusst gesetzte Doppelung der Bezeichnungen der Wanderer und die Wanderer wird in keinem der Romane thematisiert) handelt, die auf die Entwicklung der menschlichen Rasse einen vergleichbaren Einfluss nehmen wie die Menschen mit ihren Progressoren auf anderen Planeten. Sollten die Dreizehn tatsächlich Produkte der Wanderer sein, so ist nicht auszuschließen, dass ihnen ein genetisches Programm eingepflanzt wurde, die sie zu einer potenziellen Gefahr für die Erde und die Menschheit machen. Aus diesem Grund ist ihnen ein Aufenthalt auf der Erde grundsätzlich verboten, und deshalb wird Kammerer beauftragt, Abalkin so rasch wie möglich zu finden.

Es ist unnötig, die weiteren Details der Suche Kammerers und der Lebensgeschichte Abalkins nachzuerzählen. Unterbrochen wird der Bericht Kammrerers über seine Recherche aber immer wieder durch einen älteren Bericht Abalkins über eine Expedition auf einem fernen Planeten, auf dem offensichtlich eine immense Katastrophe weite Teile der Bevölkerung vernichtet hat. Abalkin wird auf dieser Expedition von dem Kopfler Wepl begleitet. Wie schon gesagt, handelt es sich bei Kopflern um eine hybride Rasse aus Humanoiden und Hunden, die sich nach dem Atomkrieg auf dem Saraksch entwickelt hat. Auch dieser Bericht enthält Hinweise auf das möglich Wirken der Wanderer, die eventuell einen Teil der Bevölkerung vor der Katastrophe gerettet und auf einen anderen Planeten evakuiert hat, doch bleibt all dies Spekulation. Der eigentliche Reiz des Berichts liegt in der Beschreibung der Freundschaft Abalkins und Wepls und der postapokalyptischen Welt, in der sie sich bewegen.

»Ein Käfer im Ameisenhaufen« spielt offensichtlich mit der Verquickung der beiden Genres der Science-Fiction und des Agenten-Thrillers. Er ist nur lose motivisch mit dem Vorgänger verknüpft. Mit diesem Roman wird das für die weitere Entwicklung des Strugatzkischen Universums wichtige Motiv der Wanderer erstmals breit eingeführt. Aus diesem Motiv entwickeln die Autoren dann das Thema des dritten Teils.

»Die Wellen ersticken den Wind« (1985) ist der dritte und letzte Kammerer-Roman (ein vierter war bereits entworfen, wurde nach dem Tod Arkadi Strugatzkis aber nicht mehr geschrieben) und zugleich der zehnte und letzte der gesamten Serie der Romane des sogenannten Mittags-Universums des 22. Jahrhunderts. In ihm erinnert sich der inzwischen beinahe neunzigjährige Kammerer an die  »Große Of­fen­ba­rung« gegen Ende des 22. Jahrhundert. Kammerer war zu diesem Zeitpunkt Chef der KomKon 2, zu deren wichtigsten Aufgaben inzwischen die systematische Suche nach Beweisen für die direkte Einflussnahme der Wanderer auf der Erde gehört. Kammerers Stab, zu dem auch Tovio Glumov gehört, dessen Mutter eine Nebenfigur in »Ein Käfer im Ameisenhaufen« war, beschäftigt sich dazu mit Ereignissen, für die es auf den ersten und zweiten Blick keine rationale, naturwissenschaftliche Erklärung gibt. Als Tovio endlich auf einen handfesten Beleg für eine Aktion der Wanderer stößt, stellt sich heraus, dass die Wanderer allerdings bereits auf der Erde existieren, aber nicht als außerirdische Agenten, sondern als evolutionäre Weiterentwicklung der Menschheit selbst.

Dieser dritte Kammerer-Roman ist sicherlich der schwächste der Serie: Die Fabel wirkt sehr konstruiert, das Thema des Romans ist recht dünn und das ihm innewohnende Konfliktpotenzial wird nur angerissen, aber nicht konsequent durchgespielt. Das Buch ist nett, die Form der Erzählung nahezu ausschließlich durch Dokumente und Berichte einer Behörde ist originell, aber der Biss, der in »Ein Käfer im Ameisenhaufen« wenigstens noch ab und an zu bemerken war, fehlt dem Buch. Es ist daher kein Wunder, wenn es in den Besprechungen als philosophisch charakterisiert wird.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 1. 3 Romane in einem Band. Deutsch von Erika Pietraß (»Die bewohnte Insel«) und Mike Noris. Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2010. 913 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Robert Louis Stevenson: St. Ives

Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.

Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.

Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.

Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …

Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn

Übersetzungen und Neuübersetzungen des Hanser Verlages kaufe ich normalerweise blind, da der Verlag allgemein für ein hohes Niveau und große Sorgfalt bei seinen Übersetzungen steht. Wenn dann auch noch eine feine Ausstattung des Bandes hinzukommt, freue ich mich ganz besonders auf die Lektüre. So auch diesmal: Zwei Klassiker der amerikanischen Literatur, bisher nicht gerade selten eingedeutscht, werden in einer Neuübersetzung vorgelegt, so wie es sich für Klassiker gehört: Leineneinband, feines Dünndruck-Papier und Fadenheftung – alles so, wie es sein soll. Da greife ich dann gern auch einmal tiefer in die Tasche.

Dann wird es Frühling, und an einem unerwartet sonnigen Tag greife ich mir den Band vom SUB (Stapel ungelesener Bücher) und nehme ihn mit ins Café. Als der Kaffee auf dem Tisch steht, schlage ich voller Vorfreude den »Huckleberry Finn« auf und beginne zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten  stutze ich: Das kommt alles so betulich daher, und als die ersten Dialoge erscheinen, wundere ich mich doch sehr darüber, wie diese Mississippi-Kinder miteinander reden:

»So«, sagte Ben Rogers, »was ist denn die Geschäftssparte der Bande?«
»Nix, nur Raub und Mord«, sagte Tom.
»Aber wen rauben wir denn aus. Häuser … oder stehlen wir Vieh … oder …«
»Quatsch! Vieh stehlen und so was, das hat nix mit Räuberei zu tun, das ist Diebstahl«, sagte Tom Sawyer. »Wir sind keine Diebe. Das hat doch keinen Stil. Wir sind Wegelagerer. Wir halten Postkutschen und andere Kutschen auf der Straße an und haben Masken auf und töten die Leute und nehmen ihre Uhren und ihr Geld.«
»Müssen wir die Leute immer umbringen?«
»Ja, klar doch. Das ist das beste. Manche Fachleute denken da anders, aber die meisten halten es für das beste. Außer ein paar, die man in die Höhle hier bringt und gefangen hält, bis sie ausgelöst sind.«
»Ausgelöst? Was soll’n das sein?«
»Ich weiß nicht. Aber das wird so gemacht. Ich hab’s in Büchern gelesen. Und also müssen wir’s genauso machen.«
»Aber wie sollen wir’s machen, wenn wir nicht wissen, was es ist?«
»Das ist doch egal, wir müssen’s eben machen. Hab ich nicht gesagt, dass es in den Büchern steht? Wollt ihr es anders machen, als es in den Büchern steht und alles durcheinander bringen?«
»Das ist ja alles schön und gut, was du sagst, Tom Sawyer, aber wie zum Kuckuck sollen diese Leute ausgelöst werden, wenn wir nicht wissen, wie man das macht? Das möchte ich gerne mal wissen. Was glaubst du denn, was es ist?«
»Naja, ich weiß nicht. Aber vielleicht, wenn wir sie behalten, bis sie ausgelöst sind, dann heißt das, dass wir sie behalten, bis sie tot sind.«
»Na, das hört sich schon anders an. Das kommt hin. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir behalten sie, bis sie zu Tode ausgelöst sind – aber es wird schon verdammt mühsam mit der Truppe, die werden uns die Haare vom Kopf essen und immer versuchen abzuhauen.«
»Wie du daherredest, Ben Rogers. Wie können sie abhauen, wenn eine Wache auf sie aufpasst und sie sofort abknallt, wenn sie einen falschen Schritt machen?«
»Eine Wache? Ja, das ist mal gut. Dann sitzt also jemand die ganze Nacht da, ohne zu schlafen, und passt auf sie auf. Das halte ich für den reinsten Blödsinn. Warum kann nicht jemand einen Knüppel nehmen und sie gleich auslösen, wenn sie ankommen?«
»Weil’s nicht so in den Büchern steht – deswegen. […]«

Stellen wir dem rasch mal die Original-Passage gegenüber:

»Now,« says Ben Rogers, »what’s the line of business of this Gang?«
»Nothing only robbery and murder,« Tom said.
»But who are we going to rob? houses – or cattle – or –«
»Stuff! stealing cattle and such things ain’t robbery, it’s burglary,« says Tom Sawyer. »We ain’t burglars. That ain’t no sort of style. We are highwaymen. We stop stages and carriages on the road, with masks on, and kill the people and take their watches and money.«
»Must we always kill the people?«
»Oh, certainly. It’s best. Some authorities think different, but mostly it’s considered best to kill them. Except some that you bring to the cave here and keep them till they’re ransomed.«
»Ransomed? What’s that?«
»I don’t know. But that’s what they do. I’ve seen it in books; and so of course that’s what we’ve got to do.«
»But how can we do it if we don’t know what it is?«
»Why blame it all, we’ve got to do it. Don’t I tell you it’s in the books? Do you want to go to doing different from what’s in the books, and get things all muddled up?«
»Oh, that’s all very fine to say, Tom Sawyer, but how in the nation are these fellows going to be ransomed if we don’t know how to do it to them? that’s the thing I want to get at. Now what do you reckon it is?«
»Well I don’t know. But per’aps if we keep them till they’re ransomed, it means that we keep them till they’re dead.«
»Now, that’s something like. That’ll answer. Why couldn’t you said that before? We’ll keep them till they’re ransomed to death – and a bothersome lot they’ll be, too, eating up everything and always trying to get loose.«
»How you talk, Ben Rogers. How can they get loose when there’s a guard over them, ready to shoot them down if they move a peg?«
»A guard. Well, that is good. So somebody’s got to set up all night and never get any sleep, just so as to watch them. I think that’s foolishness. Why can’t a body take a club and ransom them as soon as they get here?«
»Because it ain’t in the books so – that’s why. […]«

Wer ein Gespür für den Ton des Originals hat, bemerkt dass die neue Übersetzung den Dialog aufpoliert: Weder das »per’aps« noch das »reckon« des Originals sind angemessen übersetzt, überhaupt sind in der Übersetzungen die Verschleifungen reduziert und das sprachliche Niveau angehoben. Nicht, dass die Übersetzung falsch wäre, sie trifft nur den Ton des Originals nicht.

Doch ist das noch eine unproblematische Stelle. Jede Übersetzung des »Huck Finn« steht und fällt mit dem, was der Übersetzer aus der Sprache Jims macht:

I says:
»Hello, Jim!« and skipped out.
He bounced up and stared at me wild. Then he drops down on his knees, and puts his hands together and says:
»Doan’ hurt me – don’t! I hain’t ever done no harm to a ghos’. I awluz liked dead people, en done all I could for ’em. You go en git in de river agin, whah you b’longs, en doan’ do nuffn to Ole Jim, ’at ’uz awluz yo’ fren’.«
Well, I warn’t long making him understand I warn’t dead. I was ever so glad to see Jim. I warn’t lonesome, now. I told him I warn’t afraid of him telling the people where I was. I talked along, but he only set there and looked at me; never said nothing. Then I says:
»It’s good daylight. Le’s get breakfast. Make up your camp fire good.«
»What’s de use er makin’ up de camp fire to cook strawbries en sich truck? But you got a gun, hain’t you? Den we kin git sumfn better den strawbries.«
»Strawberries and such truck,« I says. »Is that what you live on?«
»I couldn’ git nuffn else,« he says.
»Why, how long you been on the island, Jim?«
»I come heah de night arter you’s killed.«
»What, all that time?«
»Yes-indeedy.«

Grundsätzlich sind hier drei Lösungswege versucht worden: Einige Übersetzer haben versucht, Jim einen bestimmten deutschen Dialekt reden zu lassen. Aber weder Bayerisch noch Sächsisch führen zu wirklich befriedigenden Ergebnissen. Andere Übersetzer haben versucht, einen Kunstdialekt zu erfinden, der den Ton von Jims Sprechweise im Deutschen nachzuahmen versucht. Wieder andere haben vor dem Problem kapituliert und ersetzen den starken Dialekt Jims durch einige wenige Verschleifungen. Diesen Weg geht auch die Neuübersetzung:

Dann sagte ich:
»Hallo, Jim!« und hüpfte hinter dem Busch hervor.
Er schrak hoch und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie und presste die Hände zusammen und sagte:
»Tu mir nix – bloß nix! Ich hab noch nie nem Gespenst was getan. Ich hab Tote immer gern gehabt und alles für sie getan, was ich konnte. Du gehst jetzt wieder innen Fluss zurück, wo du hingehörst, und tust dem alten Jim nix, der immer dein Freund gewesen is.«
Na, ich machte ihm schnell klar, dass ich nicht tot war. Ich war so froh, Jim zu sehen. Jetzt war ich nicht mehr allein. Ich sagte ihm, ich hätte keine Angst, dass er den Leuten verrät, wo ich war. Ich redete einfach drauflos, und er saß nur da und starrte mich an, sagte aber kein Sterbenswort. Dann sagte ich:
»Es ist schon richtig hell. Lass uns frühstücken. Mach dein Lagerfeuer ruhig wieder an.«
»Was hat’n das für ’n Sinn, das Lagerfeuer anzumachen, um Erdbeern und so ’n Grünzeug zu kochen. Aber du hast ja ’n Gewehr! Da können wir was Besseres wie Erdbeern holen.«
»Erdbeeren und so ’n Grünzeug«, sagte ich. »Was andres zum essen hast du nicht?«
»Ich hab sonst nix gefunden«, sagte er.
»Wieso, wie lang bist du denn schon auf der Insel, Jim?«
»Ich bin hier in der Nacht her, nachdem sie dich ermordet haben.«
»Was, die ganze Zeit?«
»Ja, so isses.«

Das ist natürlich im Vergleich zum Original gar nichts. Nun ist es aber so, dass die Verwendung der Dialekte im »Huck Finn« programmatisch ist. Der Verfasser stellt seinem Text ausdrücklich dies voran:

Explanatory

In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary ›Pike- County‹ dialect; and four modified varieties of this last. The shadings have not been done in a hap-hazard fashion, or by guess-work; but pains-takingly, and with the trustworthy guidance and support of personal familiarity with these several forms of speech.
I make this explanation for the reason that without it many readers would suppose that all these characters were trying to talk alike and not succeeding.

THE AUTHOR.

Mark Twain scheint also davon ausgegangen zu sein, dass die sprachliche Vielfalt seines Textes zum Vergnügen seiner Leser beitragen wird. Und er betont, dass er die  Ausdifferenzierung unter Mühen erarbeitet hat, um die Sprechweise seiner Figuren so genau wie möglich an die von ihm erlebte Sprachfülle anzunähern.

Natürlich weiß das auch der Übersetzer Andreas Nohl, denn er hat die entsprechende Passage des Buches mit übersetzt. Was also bringt ihn dazu, die sprachliche Färbung weiter Textpassagen einfach zu ignorieren und zu ein paar Verschleifungen zu verflachen? Es ist einmal mehr die »Lesbarkeit«, der dies angeblich geopfert wurde:

Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, den Slang des Ich-Erzählers und der sprechenden Personen in einem künstlichen deutschen Slang oder in einem Dialekt abzubilden. Darin unterscheidet sich die neue Übersetzung grundlegend von den bisherigen Übersetzungen.
[…]
Bei Huckleberry Finn gibt es neben den älteren Jugendbuchbearbeitungen zwei neuere Übersetzungen, deren Lesbarkeit aber durch deutsche Dialekteinsprengsel bzw. einen deutschen Kunst-Slang stark beeinträchtigt ist.

Was glaubt denn wohl der Übersetzer, wie das Original in dieser Beziehung von Muttersprachlern wahrgenommen wird? Und was mag er wohl über deutsche Bücher denken, deren Hauptforce gerade darin liegt, einen Kunst-Slang (z. B. Herbert Rosendorfers »Briefe in die chinesische Vergangenheit«) oder Dialekte und Sprechweisen (z. B. Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«) abzubilden. Wünscht er auch diese Bücher ins »Lesbare« übersetzt? Und was glaubt er wohl, warum sich ein deutscher Leser eine Übersetzung des »Huck Finn« kauft – um Mark Twain zu lesen oder Andreas Nohl?

Nun können sich deutsche Leser zum Glück entscheiden: Entweder sie folgen Andreas Nohl ins Land der sprachlichen Plattitüde, oder sie greifen zur Übersetzung von Friedhelm Rathjen und haben zusammen mit ihm und Mark Twain Spaß an der Sprache. Ich jedenfalls habe die Neuübersetzung bedauernd beiseite gelegt – so ein schönes Buch und so eine vertane Liebesmüh.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. München: Hanser, 2010. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 711 Seiten. 34,90 €.