Nirgends lagen modernitätsbejahender Optimismus und modernitätskritischer Eskapismus im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit wohl so dicht nebeneinander wie im akademischen Milieu.
Eine kurze, dennoch alle wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte ansprechende Geschichte des deutschen Kaiserreichs zwischen etwa 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die erkenntnisleitende These lautet, dass sich die Rede von einem deutschen Sonderweg, die in einem prominenten Teil der historischen Literatur zum deutschen Kaiserreich vorherrscht, angesichts der vielfältigen, zu einem bedeutenden Teil widersprüchlichen Tendenzen dieser Epoche, die sich in vergleichbarer Ausprägung immer auch in anderen westeuropäischen Staaten finden lassen, kaum aufrecht erhalten lässt. Zum Glück für den Leser orientiert sich Krolls Darstellung aber nicht an dieser ideologischen Leitlinie, sondern konzentriert sich weitgehend auf konkrete Daten und Fakten.
Der Fachmann wird wahrscheinlich die Darstellung in seinem jeweiligen Spezialgebiet notwendig verkürzt und daher ein wenig schief finden, aber das gezeichnete Gesamtbild scheint durchaus stimmig und gibt wohl im Großen und Ganzen einen zutreffenden Eindruck von der sehr dynamischen Entwicklung Deutschlands in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es sicherlich so, dass Krolls Darstellung für den historischen Laien oft zu knapp ausfällt, so dass sich das Buch für einen ersten Überblick nur bedingt eignet. Doch sowohl als Propädeutik zu weiterer Lektüre als auch zur konzisen Auffrischung des Gedächtnisses kann das informative Büchlein nur empfohlen werden.
Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 216 Seiten. 4,50 €.
Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.
Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.
Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge
Eine kleine, flott geschriebene, journalistische Mark-Twain-Biographie, die zum Einstieg gut geeignet ist. Fuchs kennt sich aus, belastet den Leser nicht mit allzuviel konkreten Daten und vermittelt alles in allem ein stimmiges Zeit- und Lebensbild. Ob es tatsächlich notwendig ist, dass Fuchs einen ebenso kurzen wie schiefen Abriss der Ursachen des Amerikanischen Bürgerkriegs liefert, darf bezweifelt werden, aber solche Ausreißer sind zum Glück die Ausnahme. Auch dass ein Autor nicht richtig Deutsch kann und kein Lektorat dem aufhilft – so sind zum Beispiel im Deutschen Schiff und Boot nicht synonym, und Prosa bedeutet auch nicht das, was Herr Fuchs damit meint –, muss heutzutage als der Normalfall angesehen werden. Abgesehen von diesen kleinen Schwächen kann das Büchlein zur Orientierung durchaus empfohlen werden.
Thomas Fuchs: »Ein Mann von Welt«. Eine Mark Twain Biografie. Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 221 Seiten. 14,95 €.
Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen.
Bei Goethes »Wanderjahren« handelt es sich unbestreitbar um den schwierigsten Roman des Weimarer Meisters. Nicht nur die Editions- und Redaktionsgeschichte stellt eine Herausforderung für jeden Herausgeber dar, sondern die inhaltliche Breite und formale Beliebigkeit des Buches fordern auch ein hohes Maß an Toleranz von den Lesern. Für die konkrete Lektüre hilft es auch wenig, wenn uns versichert wird, bei dem Roman handele es sich um einen frühen Vorläufer der Moderne, wenn man von Seite zu Seite mehr geneigt ist, ausnahmsweise ein einziges Mal im Leben Friedrich Gundolf zuzustimmen und den Roman nicht nur stofflich, sondern auch technisch langweilig, d. h. verfehlt zu finden (»Goethe«, Berlin 101922, S. 716). Auch dass sich Goethe des höchst problematischen Charakters seines Buches offenbar bewusst war, hilft nur indirekt weiter; aber dazu später noch ein paar Worte.
Was erzählt wird, lohnt kaum der Mühe, es wiederzugeben: Wir finden den aus den »Lehrjahren« wohl bekannten Wilhelm Meister zu Anfang des Romans zusammen mit seinem Sohn Felix auf dem Weg nach Italien. Die Turmgesellschaft, die sich in den »Lehrjahren« als eine Wilhelms Geschick steuernde Vereinigung herausgestellt hatte, hat ihm für diese Reise einige merkwürdige Bedingungen auferlegt, die ihn in Bewegung halten sollen: Er darf nicht mehr als drei Tage und Nächte unter demselben Dach verbringen, muss von Station zu Station seiner Reise immer eine erkleckliche Distanz zurücklegen und darf an einen einmal besuchten Ort erst nach Jahr und Tag wieder zurückkehren. Dies liefert die natürliche Grundlage für die anekdotische Reihung von Orten und Ereignissen, die die erste Hälfte des Romans weitgehend beherrscht. Im Laufe des Romans wird außerdem die auktoriale Erzählstruktur überschrieben durch eine Herausgeberfiktion, die vorgibt, es handele sich bei dem Roman eben nicht um eine Erzählung im herkömmlichen Sinn, sondern um eine Auswahl aus einem ungeordneten Konvolut von Papieren, das dem Herausgeber vorliege.
Dementsprechend ist das Buch denn auch eine lose Folge von Ereignissen, Gesprächen, Reden, Briefen und Novellen, die – je weiter, desto schlechter motiviert – schlicht auf den Faden einer vollständig beliebigen Handlung aufgereiht werden. Auf der Ebene der Fabel im traditionellen Sinne erscheinen nur zwei Elemente als für den Roman wesentlich: Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt – nicht zum Arzt im Sinne eines Allgemeinmediziners, wie man hier und da lesen kann – und der am Ende stattfindende utopische Aufbruch einer großen Gruppe unter Leitung der Turmgesellschaft nach Amerika, wo man in einer selbstbestimmten – tatsächlich aber natürlich von den weisen Führern der Turmgesellschaft vorgegebenen – Gesellschaftsform zu leben gedenkt. Zum Glück ist der deutschen Literatur ein dritter, in einem fiktiven Amerika spielender Teil der Lebensgeschichte Wilhelms erspart geblieben.
Thematisch tritt das Buch mit großem Anspruch auf: Pädagogik, Gesellschaft, Industrialisierung, vita activa versus vita contemplativa, Vulkanismus versus Ozeanismus – dies alles und mehr wird in Gesprächen und Reden der Figuren (und damit immer zugleich auch unter individuellem Vorbehalt) diskutiert und analysiert. Hinzu kommen die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829, die unter anderem Kleinigkeiten wie Kunst, Wissenschaft und Wissenschaften, Mathematik, Wahrheit, Poesie, Lord Byron und Laurence Sterne aphoristisch bewirtschaften. Falls der heutige Leser hier nicht einfach vor dem intellektuellen Anspruch des Buches kapituliert – denn er soll nicht nur verstehen, was hier überhaupt gesagt wird, sondern er muss es immer auch noch in den historischen Horizont der 1820er Jahre einstellen, um es angemessen wahrnehmen zu können –, so könnten ihm durchaus Bedenken kommen, ob denn ein Roman, und sei es auch ein so umfangreicher wie die »Wanderjahre«, das geeignete Medium für die Erörterung so zahl- und umfangreicher Themen ist.
All dies hat zu scharfer Kritik geführt; Gundolfens haben wir oben schon zitiert, weil er aber so spitz und witzig ist, soll hier einmal mehr Arno Schmidt zu Wort kommen:
Das erste Axiom ist für heute: es gibt gar keine »Klassiker«, sondern nur »klassische Werke« (wenn man schon den albernen Begriff weiter behalten will). So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze. Und ich wiederhole, was ich Euch – Dir und Alice – so oft gesagt habe: es gibt keinen Dichter, der nicht besser nur die Hälfte geschrieben hätte; bei den meisten war ein Viertel schon zu viel. –
Und der zweite Satz lautet: abgesehen von Goethes wissenschaftlichphilosophischen und seelischen Defekten, hatte er als Autor noch den, daß er keinen Roman schreiben konnte. Das ist auch gar keine Schande: Wieland, Poe, Storm, Keller waren völlig unbegabt für’s Bühnenspiel, Hoffmann und Stifter für gebundene Rede aller Art, Klopstock hätte sich im Formalen auf Ode, Anekdote und grammatische Gespräche beschränken sollen. Unangenehm für die Nachwelt wird so Etwas aber, wenn der Dichter das selbst nicht merkt, also Wieland sich an der Alceste versucht, Klopstock ein Epos schreibt, und Goethe die Wanderjahre »macht«.
»An Uffz. Werner Murawski«
(Und gleich der Gegensatz [zu Wieland]: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste – den »Werther« beiseite; und »Wahrheit und Dichtung«, wo allerdings ja gar kein Problem einer Stofformung vorliegt –: gewaltsam aneinandergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novellen; Aforismensammlungen; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er das Kind Ottilie für onkelhaft weltkundige »Maximen« in ihr Tagebuch schreiben! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!).
»Aus dem Leben eines Fauns«
Schmidt hält die Faulheit eines diktierenden Schriftstellers (»An Uffz. Werner Murawski«) für eine der Ursachen von Goethes frecher Formschlamperei, was immerhin eine bodenständig-handwerkliche Erklärung für den Zustand des Textes liefert, statt sich in poetologische Spekulationen zu verlieren.
Dagegen darf mit Sicherheit angenommen werden, dass sich Goethe über den heiklen Charakter seines Buches vollständig im Klaren war. Es gibt zahlreiche Stellen im Text, die – wie die eingangs als Motto zitierte – die Zumutungen der formalen Beliebigkeit und inhaltlichen Schwierigkeit explizit thematisieren. Goethe lässt den Erzähler immer erneut den brüchigen Aufbau und die losen Übergänge kommentieren und anmerken, dass es zu dem gerade Verhandelten noch viel zu sagen gäbe, nur sei eben hier der Ort nicht. Auch die letzten Worte des Romans (Ist fortzusetzen.) deuten auf das unendliche Projekt, von dem das Buch nur einen verschwindenden Ausschnitt liefert.
Im Gegensatz zu den beiden Hauptströmungen der Deutung bin ich heute weder geneigt, dem Roman seinen Mangel an formaler und inhaltlicher Geschlossenheit als Fehler anzukreiden, noch halte ich es für besonders überzeugend, Goethe als einen frühen, noch unsicheren Modernen zu lesen. Offensichtlich resultiert der Mangel der Form zuerst einmal aus dem ausschweifenden inhaltlichen Anspruch, dem Goethe zu genügen versucht. Doch scheint es mir zu kurz gegriffen, die bis dahin für einen Roman unerhörte thematische Fülle allein für die brüchige Form verantwortlich zu machen. Vielmehr scheint Goethe allerspätestens in den 1820er Jahren nicht mehr am Erzählen um des Erzählens willen, an der Fiktion als Fiktion interessiert gewesen zu sein. Die Fabel im traditionellen Sinne liefert ihm nur mehr ein Vehikel, mit dem er versucht, seine Weltsicht und -deutung einem breiteren Kreis des gebildeten bürgerlichen Publikums bekannt zu machen. Auch befreit die künstlerische Aufarbeitung sozialer, wissenschaftlicher und philosophischer Thesen ihn von jenen Ansprüchen an die Theorie, denen er weitgehend misstraut:
Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das eine noch auf das andere.
[…]
Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren, war mir erst ein Ärgernis, dann betrübte ich mich darüber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.
Da zudem im Kern der Weltdeutung der »Wanderjahre« ein Plädoyer für das Tätigsein in der Welt und gegen das übermäßige – um nicht ›maßlose‹ zu sagen – Theoretisieren und Abstrahieren steht, erschiene jede rein essayistische Behandlung der verhandelten Themen als eine Bewegung in die falsche Richtung.
Goethes Missachtung der Form sollte also gerade nicht als eine Missachtung der Kunst der Literatur verstanden werden, sondern geradezu als ihre Hochschätzung: Nur die Kunst erlaubt es Goethe, seiner Auffassung nach angemessen über die Welt und ihr Verständnis zu schreiben, ohne sich entweder in Abstraktion einer- oder Banalität andererseits zu verlieren. Dazu aber ist es zugleich nötig, die traditionelle Form zu zerbrechen (man entschuldige diese Reminiszenz an Schillers »Lied von der Glocke«) und in den Trümmern der Form weiter zu erzählen.
Besser macht all dies das Buch aber leider nicht!
Vielleicht zum Schluss noch ein Wort zu der hier gelesenen Ausgabe. Wie oben bereits erwähnt, haben die »Wanderjahre« eine etwas komplizierte Publikations- und Redaktionsgeschichte: Es erschienen zu Goethes Lebzeiten zwei Fassungen, eine fragmentarische 1821, die notwendig wurde durch die Pustkuchensche Fortsetzung der »Lehrjahre« (ebenfalls 1821), und eine umgearbeitete und erweiterte 1829, die heute die Grundlage der meisten Ausgaben bildet. Allerdings hatte Goethe Eckermann gegenüber erwähnt, dass die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829 in der Hauptsache aufgenommen worden seien, um den Umfang des jeweiligen Bandes abzurunden. Eckermann hat sich daher später entschlossen, die Spruchsammlungen wieder aus den »Wanderjahren« herauszunehmen, eine Praxis, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die meisten Herausgeber gefolgt sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Redaktion der Ausgabe von 1829 eher flüchtig war und so ungewollt einige zusätzliche Brüche und fehlende Anschlüsse produziert hat. Natürlich bringt die Münchner Ausgabe, die seit einigen Jahren meine Brotausgabe der Werke Goethes ist, die »Wanderjahre« vollständig in beiden Fassungen. Doch wenn man nicht die Geduld aufbringen möchte, den Text gleich zweimal zu lesen, so bietet die Ausgabe bei Reclam so etwas wie eine integrale Fassung der beiden Versionen und ergänzt einige der aus der Ausgabe von 1829 herausredigierten, zum Verständnis aber notwendigen Teile.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. RUB 7827. Stuttgart: Reclam, 1982/2002. Broschur, 565 Seiten. 9,60 €.
– Wir hatten’s nur in Erwägung gezogen, sagte Stephen.
– Die gesamte Intelligenz, sagte Myles Crawford. Die Jurisprudenz, die klassische Philologie …
– Der Rennsport, warf Lenehan ein.
– Literatur, Presse.
– Wenn Bloom hier wäre, sagte der Professor. Die edle Kunst der Reklame.
– Und Madame Bloom, fügte Mr. O’Madden Burke hinzu. Die Muse des Gesanges. Dublins erste Favoritin.
Lenehan gab ein lautes Husten von sich.
– Ähem, sagte er sehr leise. Ah, bloß ein frischchen bisse Luft! Ich hab eine Erkältung erwischt im Park. Das Tor stand offen.
Die Aussicht, weitschweifige seichte Werke und ihren Einfluß auf andere weitschweifige seichte Werke zu untersuchen, reizte ihn nicht.
Dieser 1930 unmittelbar im Anschluss an »Der Späher« auf Russisch geschrieben Roman macht lange Zeit den Eindruck eines konventionellen modernen (man entschuldige dieses in der Sache begründete Oxymoron) Entwicklungsromans: Erzählt werden die Jugend- und frühen Erwachsenenjahre des russischen Exilanten Martin Edelweiß (der seinen Namen Schweizer Vorfahren verdankt), der nach der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Westeuropa zieht, in Cambridge Irgendwas studiert, sich in Sonja, die Tochter einer anderen Exil-Familie verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, und schließlich aus unklaren Gründen illegal nach Russland zurückkehrt und dort verschwindet. Eine oberflächliche Lektüre könnte dem Verdacht Vorschub leisten, dass Nabokov hier zur erzählerischen Harmlosigkeit seines ersten Romans »Maschenka« zurückkehrt.
Der Roman fällt allerdings durch zwei Eigenschaften auf: Zum einen wird die oft stagnierende Handlung durch sehr exakte atmosphärische Schilderungen aufgewertet, zum anderen wird das Verschwinden des Protagonisten nicht nur von langer Hand vorbereitet, sondern es wird auch als Verschwinden in eine phantastische, artistische Wirklichkeit dargestellt, was den vorherrschenden realistischen Ton des Romans komplett diskreditiert. Bereits als Kind träumt Martin davon, in dem Landschaftsbild über seinem Bett zu verschwinden, in dem er dem dort dargestellten Waldweg folgt, und Nabokov lässt für den aufmerksamen Leser wenig Zweifel daran, dass Martins letzter Weg ihn in das mit der von ihm geliebten Sonja zusammen erfundene Soorland führt. Dieser Übergang ins Phantastische ist allerdings auch das einzige, was sich vernünftigerweise mit dem durch und durch unpraktischen und weltfremden Martin anfangen lässt.
Der Roman ist alles in allem ganz nett zu lesen und wegen seines romantischen Gegenspiels unter scheinbar realistischer Flagge reizvoll. Am Ende wird ihn der Leser aber wahrscheinlich doch ein wenig enttäuscht zur Seite legen, denn der ästhetische Gewinn des artistischen Spiels fällt für die gut 300 Seiten doch ein wenig dünn aus.
Vladimir Nabokov: Die Mutprobe. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 327 (von 777) Seiten. 29,– €.
Dies ist 1 Titel aus den 37 000 Titeln der Jahrestitelproduktion der Bundesrepublik und Westberlins; auf den Markt geworfen von einem der 2 494 Verlage, in der Hoffnung, mit dieser Ware, die auf den Regalen von 6 920 Buchhandlungen in 888 Orten feilgeboten wird, einen Anteil am 3-Milliarden-Umsatz zu ergattern, einen, wenn’s beliebt, großen Profit. Hier hört die Schöngeisterei auf, hier beginnt das große kapitalistische Catch as catch can aller gegen alle, hier zählt, wie bei Waschmitteln und Heringskonserven, nichts als die Zahl. Jetzt hast du bezahlt, jetzt haben sich die Investitionen bezahlt gemacht, in jeder Kasse klingelt ein Teil deines Gehalts, deines Lohnes, gleichgültig, ob der Gehalt sich lohnt, du hast deine Konsumentenpflicht getan, deinen Beitrag zur Kapitalverwertung, zur Akkumulation, zur Niederringung der Konkurrenz geleistet (der Prozeß der Kapitalkonzentration ist auch hier weit fortgeschritten, zurück bleiben ein paar ideologische Fetzen, die kaum verschleiern, daß die Druckfreiheit einer 60-Millionen-Gesellschaft auf die Freiheit von 276 Unternehmern zusammengeschmolzen ist, die über 75 % aller Titel beherrschen, während sie ihrerseits wieder von den Banken beherrscht werden, daß von den 7 000 Buchhandlungen 6 000 kaum der Rede wert sind, weil 1 000 80 % aller Umsätze an sich gezogen haben, daß aus der stattlichen Zahl von 564 Grossisten nur 17 zählen, der Rest sich in 20 % des Umsatzes der Branche teilt). //
Dieser 1860/1861 entstandene Roman gehört nach »Oliver Twist« und »David Copperfield« sicherlich zu den beliebtesten Büchern Charles Dickens’. Das liegt wohl auch daran, dass Dickens die Sozialkritik, die etwa in »Bleakhaus« oder »Harte Zeiten« sehr im Vordergrund zu finden ist, hier wieder zugunsten einer eher unverbindlichen und humoristischen Erzählweise zurückgedrängt wurde. Dickens hat das Buch unter großem Zeitdruck in wöchentlichen Lieferungen für seine eigene Zeitschrift »All the Year Round« geschrieben, was sich in einem vergleichsweise reduzierten Figurenensemble und einigen deutlich stagnierenden Passagen niedergeschlagen hat. Auch ist die Konstruktion des Handlungs- und Beziehungsgeflechts bei weitem nicht so komplex wie etwa in »Bleakhaus«.
Erzählt wird die Lebensgeschichte des Jungen Philip Pirip, von allen nur Pip genannt, der als Waise im Haushalt seiner viel älteren, mit einem Schmied verheirateten Schwester lebt. Der Roman beginnt etwa in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts und spielt in der Hauptsache in London und dem östlich davon liegenden Marschland, in dem sich die Themse in die Nordsee ergießt. In diesem Marschland wächst Pip in ärmlichen, aber gesicherten Verhältnissen auf. Der Roman beginnt mit der schicksalshaften Begegnung Pips mit einem Flüchtling von einem der in der Nähe liegenden Gefängnis-Schiffe. Halb aus Mitleid, halb aus Angst vor dem unheimlichen Menschen versorgt ihn Pip mit Nahrunsgmittels und einer aus der Werkstatt seines Ziehvaters gestohlenen Feile. Doch wird der Flüchtige trotzdem bald wieder eingefangen und verschwindet für lange Zeit aus dem Buch.
Zur selben Zeit beginnt Pip damit, regelmäßig das Haus von Miss Havisham zu besuchen. Miss Havisham ist die Erbin eines Brauers und als junge Frau von einem Hochstapler am Tag ihrer Hochzeit sitzen gelassen worden. Seit diesem Tag lebt sie vereinsamt in der elterlichen Villa, in der alles unverändert so geblieben ist, wie es zum Zeitpunkt der geplanten Hochzeit war. Sie selbst trägt noch immer das Hochzeitskleid, das inzwischen so weit heruntergekommen ist wie das Haus, in dem sie lebt. Der etwa sechsjährige Pip wird als Spielgefährte für die gleichaltrige Estella eingeladen, die, dem Anschein nach ebenfalls eine Waise, als Ziehtochter im Hause Havisham lebt. Estella wird von Miss Havisham zu ihrem Rachewerkzeug an den Männern erzogen, und Pip ist eines der ersten Übungsobjekte für die junge Herzlose, was natürlich zu nichts anderem führen kann als dazu, dass er sich unsterblich in das seelenlose Wesen verliebt.
Als Pip in die Pubertät kommt, bricht Miss Havisham den Kontakt zwischen ihm und Estella ab und versorgt den Jungen, in dem sie seine Lehre in der Werkstatt seines Ziehvaters finanziert. Diese Lehre wird nach einigen Jahren durch das überraschende Erscheinen des Londoner Anwalts von Miss Havisham, Mr. Jaggers, abgebrochen, der Pip eröffnet, er sei von einem seiner Klienten als Erbe eines großen Vermögens vorgesehen worden und solle deshalb von nun an zum Gentleman ausgebildet werden. Er werde in London leben, Unterricht erhalten und sich auf das sorgenfreie Leben in der besseren Gesellschaft vorbereiten. Für seinen Unterhalt bis dahin sei gesorgt; er dürfe aber in keinem Fall nach der Identität seines Wohltäters forschen. Für Pip ist nur eine Erklärung möglich: Miss Havisham hat sich eines anderen besonnen und will ihn zum Ehemann für Estella heranziehen. Dass sich diese offensichtliche Lösung des Rätsels als falsch erweisen muss, versteht sich von selbst.
Es ist nicht wichtig, hier die Auflösung dieser langen Exposition nachzuerzählen. Reizvoll ist dieser Entwicklungsroman in der Hauptsache dadurch, dass seine beiden Hauptfiguren über weite Strecken als Marionetten der Intentionen anderer agieren und Pips Erwachsenwerden im wesentlichen Sinne erst einsetzt, als er sich von dem für ihn vorgezeichneten Weg löst und für sich selbst und seinen Wohltäter Verantwortung übernimmt. Dickens verweigert sich dabei dem in der Exposition vorgezeichneten Happy End und überführt seine beiden Protagonisten statt dessen in ein ganz gewöhnliches Unglück.
Wie immer brilliert Dickens besonders in den Rand- und Nebenfiguren des Romans. Sowohl der monomanische Mr. Jaggers als auch sein dualistischer Gehilfe Wemmick machen dem Leser viel Vergnügen, und auch der kinderreiche Haushalt von Pips Lehrer Mr. Pocket hinterlässt mit seinem Chaos einen tiefen Eindruck. Überhaupt finden sich, wie bereits gesagt, zahlreiche humoristische Passagen, auch wenn sie im Gesamtzusammenhang des Romans zum Teil etwas erratisch wirken.
Die Neuübersetzung Melanie Walz ist gut zu lesen und hat sich an den Stellen, an denen ich sie verglichen habe, als zuverlässig und präzise erwiesen. Sie soll im November dieses Jahres auch bei dtv im Taschenbuch erscheinen.
Charles Dickens: Große Erwartungen. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. München: Hanser, 2011. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 829 Seiten. 34,90 €.
So jetzt schreit schon wieder meine schizophrene Nachbarin, eine sehr nette und gebildete alte Dame, damit ich zu ihr komme, um sie zu unterhalten. Letzte Woche schrie und rezitierte sie während der Nacht so laut zum Fenster hinaus, daß ich mich anzog, zu ihr rüberging und ein paar Flaschen Sekt mit ihr trank, worauf sie guter Dinge war. Stell Dir vor, ich war seit 12 Jahren der erste Mensch, der ihre Wohnung betrat, denn alle hatten sie Angst, ihre Schwelle zu überschreiten, weil die alte Dame ja wahnsinnig ist, und weil sie glaubten, von ihr erstochen zu werden. Ich habe mit der Polizei, dem Psychiater und dem Pfarrer gesprochen, alles eiskalte Charaktermasken und daraufhin beschlossen, diesen Umgang künftig zu meiden und stattdessen öfter meine Abende sekttrinkenderweise mit geisteskranken Damen zu verbringen.
Meine Lektüregeschichte zu »Effi Briest« ist lang und etwas kompliziert: Es ist der erste Roman Fontanes, den ich überhaupt gelesen habe – es muss 1981 gewesen sein – und ich war bei meiner erste Lektüre alles andere als angetan. Ich war damals – beeinflusst durch die intensive Lektüre Arno Schmidts und das langsame Erobern des »Ulysses« – ein sehr formaler Leser und hatte zugleich vom 19. Jahrhundert kaum mehr als eine Ahnung. Von daher erschien mir Fontane in der Hauptsache als ein laxer, unordentlicher Erzähler, der wenig um das Gerüst bzw. die Konstruktion seiner Erzählung gab. Während des Studium begriff ich dann langsam, um was es Fontane beim Erzählen dieses Romans gegangen war und lernte von den scheinbaren formalen Schwächen abzusehen.
Noch später dann verwendete ich »Effi Briest« als Gegenfolie zu Arno Schmidts sogenannter Etym-Theorie, indem ich spaßeshalber bei dem auf den ersten Blick unverdächtigen Fontane den bewussten Einsatz von Etym-Techniken nachwies, also Schmidts Rede von der »4. Instanz« konterkarierte. Und mit der Zeit stellte sich Effi Briest dann endlich auch in die Reihe der berühmten literarischen Frauengestalten des 19. Jahrhunderts ein.
Wenn man nach einer solchen Lektüregeschichte von fünf oder sechs Lektüren aus didaktischem Anlass erneut zu einem Buch zurückkehrt, besteht immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird, dass die Faszination des Buches ausgeschöpft scheint. Doch auch diesmal hat sich Fontane als Erzähler bewährt.
Wie bekannt sein sollte, erzählt »Effi Briest« von Schicksal der zu Anfang 17-jährigen Titelheldin, die an einen mehr als doppelt so alten Mann, einen ehemaligen Bewerber um die Gunst ihrer Mutter verheiratet wird. Effi und Geert von Instetten passen nicht sehr gut zusammen oder, um nicht ungerecht zu sein, sie finden erst nach längerer Zeit die Ebene, auf der sie miteinander statt nebeneinander her leben können. In der Zwischenzeit aber hatte Effi aus Langeweile und Neugier eine kurze Affäre mit einem anderen Mann, die nicht nur gut sechs Jahre später ihre Ehe, sondern ihr gesamtes Leben ruinieren soll. Nach der Scheidung findet sich Effi gesellschaftlich isoliert, sogar zu ihrer eigenen Tochter findet sie keinen Kontakt mehr. Und, obwohl schuldig, endet ihr Leben tragisch: Zu unangemessen an ihren Fehltritt erscheint die Härte, mit der sie von ihrer Welt abgeschlossen wird. Selbst jenen, die ihr am nächsten standen, ihren Eltern und ihrem ehemaligen Ehemann, kommen Bedenken, aber auch ihnen fehlt eine wirkliche Alternative zu dem, was sie eben tun. Es tut ihnen leid, aber was soll man angesichts der Forderungen der Gesellschaft nach Moral und Gerechtigkeit anderes machen, als der Ungerechtigkeit nachgeben?
Daher müsste natürlich einmal gründlich über die Menschlichkeit der Fontaneschen Erzählungen geredet werden: Trotz der unbestreitbaren Ungerechtigkeit, die sich in Effis Schicksal manifestiert, ist keine der Hauptfiguren (vom Apotheker Gieshübler vielleicht einmal abgesehen) ganz schuldig oder ganz und gar unschuldig. Natürlich hätten sich sowohl Instetten als auch Effis Eltern anders verhalten können und sollen, als sie es getan haben, aber Fontane bleibt misstrauisch gegenüber solchen moralischen Anforderungen an das Individuum. Auch nützt es wenig, Effi oder Crampas anzuklagen; die eine, weil sie keine wirkliche Chance hat, sich der Verführung zu erwehren (I can resist everything except temptation.), den anderen, weil er eben auch nur seiner Natur folgt und sich jederzeit über die möglichen Folgen im Klaren ist, die er resignierend in Kauf nimmt. Und so geschieht hier das Böse ohne die Bösen (den Bösen waren wir schon in Goethes Faust losgeworden). Niemand, den man nicht verstehen könnte, der nicht seine Gründe hätte, sich erst einmal um sich und erst später um die Folgen für die anderen zu kümmern. Es gehört zu den besten bei Fontane zu findenden Einsichten, wie ganz obenhin, gedankenlos und zugleich unausweichlich die Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft entsteht.
Darüber hinaus ist mir bei der jetzigen Lektüre deutlicher als zuvor die motivische Dichte des Romans aufgefallen: Überall finden sich Ehebrühe oder außereheliche sexuelle Beziehungen, ständig wird der Leser daran erinnert, welche eine dünne Lackschicht die offizielle Moral bildet über einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Sexualität in den unterschiedlichsten Formen umgetrieben wird.
Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ – zu der Bemerkung hinreißen, »das Käthchen liege sehr gut da,« welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleich kam oder doch zu solcher hinüber leitete.
Es ist erstaunlich, wie subtil und dennoch nicht weniger deutlich Fontane die zentrale Bedeutung sexueller Verhältnisse zu thematisieren vermag, ohne dabei für die Leserinnen der Familienblätter, für die er in erster Linie schrieb, anstößig zu werden. Zugleich macht er klar, dass ihm die unverstelltere Behandlung des Themas in der zeitgenössischen Literatur durchaus bekannt ist:
… die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi, beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, »ob es denn wirklich so schrecklich sei,« habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem ›anderen‹ bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«
Ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist. Ich bin schon jetzt gespannt, wann ich wieder bei ihm vorbeikommen werde.
Theodor Fontane: Effi Briest. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15. Berlin: Aufbau Verlag, 1998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 534 Seiten. 25,– €.