Gordon und Tapir

Meschenmoser-GordonSebastian Meschenmoser, der die ganz wundervollen Herr-Eichhorn-Bücher geschrieben und gezeichnet hat, erzählt in „Gordon und Tapir“ die Geschichte vom Pinguin Gordon, der zusammen mit Tapir in einer Wohngemeinschaft lebt. Allerdings sind die beiden nicht sehr zufrieden miteinander: So wie Gordon übertrieben ordentlich ist, ist Tapir ein Chaot und Schlamper; außerdem blockiert Tapirs Freundin, ein Flußpferd, jeden Tag stundenlang die Badewanne. So sucht sich Gordon schließlich eine eigene  Wohnung nur ein paar Straßen weiter, in der er endlich so ordentlich sein kann, wie er will. Der Freundschaft der beiden tut das keinen Abbruch, sondern im Gegenteil leben beiden fröhlich weiter und feiern wilde Partys in Tapirs Reich.

Dem Buch fehlt ein wenig der Zauber der Herr-Eichhorn-Reihe, nichtsdestoweniger ist es ein nettes Buch zum Selbstlesen und Verschenken. Schachspieler erfahren zudem, dass sich Pinguine nicht an die Fide-Regeln halten; zumindest bauen sie das Brett falsch herum auf.

Sebastian Meschenmoser: Gordon und Tapir. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag, 2014. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 54 unpaginierte Seiten. 14,99 €.

Hesiod: Theogonie

Hesiod-TheogonieIm Jahr 2008 erschienen zwei Bücher Raoul Schrotts: zum einen eine Übersetzung von Homers „Ilias“ und zum anderen mit unmittelbarem Bezug zu dieser Übersetzung der Band „Homers Heimat“, der einen kleinen Sturm im Wasserglas der Al­ter­tums­wis­sen­schaf­ten auslöste. Schrott macht sich in diesem Buch in einer komplexen und quel­len­ge­sät­tig­ten Argumentation für die Hypothese stark, Homer als einen kilikischen Autor zu lesen, seine Herkunft und die von ihm verarbeitete lebensweltliche Wirklichkeit also in den östlichen Mittelmeerraum, genauer an die Südost-Küste der Türkei zu verlegen.

Schrotts gerade erschienene „Theogonie“ stellt eine Variation desselben Themas dar: Er liefert zu seiner Übersetzung des Textes einen umfangreichen Anhang, in dem er den Einflüssen nachspürt, den die Mythen des östlichen Mittelmeerraums auf den griechischen Ent­wurf der Göt­ter­welt gehabt haben könnten. Er behauptet im Falle Hesiods nicht, dass ihm – wie er das für Homer wahrscheinlich ma­chen möchte – eine schriftliche Fassung der verarbeiteten Mythen vorgelegen habe, sondern geht in diesem Fall von einer mündlichen Tradierung der entsprechenden Stoffe aus. Schrott steht mit dieser Sicht, die von einer vielfältigen Verbindung und Verschränkung der diversen Kulturräume des Mittelmeers ausgeht, durchaus nicht allein; er ist nur derjenige, der diese Einsichten außerhalb der reinen Fach­dis­kus­sion zuerst thematisiert hat.

Wen die Verknüpfungen der alten Kulturen im Mittelmeerraum in­ter­es­sie­ren, findet hier reichhaltigen Stoff und Anregungen zur weiteren Lektüre. Verständlicherweise ist auch Schrotts Übersetzung sehr stark von seiner Grundthese beeinflusst. Es kann sich daher hier und da lohnen, eine zweite, konservativere Übersetzung zu Schrotts Text der „Theogonie“ parallel zu lesen.

Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott. München: Hanser, 2014. Bedruckter Pappband, bedruckte Vorsätze, 216 Seiten. 19,90 €.

Ein Hinweis: Rathjens „Schatzinsel“

Stevenson-Schatzinsel-RathjDie von mir zuletzt wieder einmal im Gegensatz zu Andreas Nohls flachgehobelter Übetragung von Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ gelobte Übersetzung Friedhelms Rathjens, einst beim Haffmans Verlag erschienen, ist derzeit in einer kleinen Auflage von nur 99 nummerierten, vom Übersetzer signierten Exemplaren lieferbar. Ergänzt wird die „Schatzinsel“ – bei Rathjen ohne bestimmten Artikel im Titel! – von Stevensons Essay „Mein erstes Buch“.

Allen Liebhabern von Stevenson und/oder Rathjens immer originellen und sorgfältigen Übersetzungen sei angesichts der kleinen, exklusiven Auflage geraten, rasch zuzugreifen.

Robert Louis Stevenson: Schatzinsel. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2014. Bedruckter Pappband, 319 Seiten. 50,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Karlheinz Stierle: Dante Alighieri

Dantes Mythenbricolage aus Altem und Neuem Tes­ta­ment und eigenen visionären oder pseu­do­vi­sio­nä­ren Elementen im Einzelnen aufzulösen, ist hier nicht der Ort.

Stierle-DanteWieder einmal ein Sachbuch, das zumindest teilweise unter falscher Flagge segelt: Titel und Untertitel – „Dichter im Exil, Dichter der Welt“ – sowie der Umschlagstext lassen eher eine Biographie erwarten, doch den Schwerpunkt des Buches (drei der sechs Kapitel) bildet eine ausführliche, kommentierende Nach­er­zäh­lung der „Commedia“. Vorangestellt ist eine kurzgefasste Biographie Dantes und eine ebenso knappe Dar­stel­lung seiner frühen Schriften; den Abschluss macht ein Kapitel zur Re­zep­tion, wobei auch dieses kaum über einige erweiterte Stichworte hin­aus­geht.

Im Rahmen dessen, was das Buch leisten will, ist es, soweit ich das nachvollziehen kann, untadelig, wenn es auch trotz seiner Kürze nicht frei von Redundanzen ist; allerdings sollte man auch nicht zu viel erwarten. Schon den einigermaßen interessierten Laien dürfte kaum etwas an Stierles Nacherzählung überraschen; auch geht er zuverlässig auf alle populären Stereotype zur „Commedia“ ein. Dennoch eignet sich das Buch nur bedingt als erste Einführung, da es dafür zu hohe Ansprüche an die historische Vorbildung des Lesers macht. Wie so häufig bei Sachbüchern ist mir auch bei dieser Lektüre nicht recht klar geworden, für welche Zielgruppe der Autor das Buch verfasst hat. Wer seine Erinnerung an die „Commedia“ auffrischen will, ohne das ganze Buch noch einmal zu lesen, wird hier gut bedient; alle anderen werden das Buch wohl etwas enttäuscht zur Seite legen.

Karlheinz Stierle: Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. München: C. H. Beck, 2014. Pappband, 236 Seiten. 22,95 €.

Isaak Babel: Mein Taubenschlag

Und  das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bast­schu­hen zu beiden Seiten des Waggons.

Babel-Taubenschlag

Zum schönsten in einem langen und kon­ti­nu­ier­li­chen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.

Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Na­tur­be­schrei­bun­gen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt auf­ein­an­der, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich un­vor­her­seh­bar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.

Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Tau­ben­schlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.

Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen prä­sen­tie­ren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwer­lich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs

Solche Verkettungen, aus mehreren Zufällen geboren, erscheinen dem Menschen leicht als Fügungen, ver­an­stal­tet von einem zielvollen Wissen.

Zweig-EinsetzungMit diesem in der Chronologie der Handlung sechsten und letzten Band von Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ (erschienen 1937, als Zweig bereits in Palästina im Exil war) habe ich mich ähnlich schwer getan wie mit dem nachträglich in die Handlung eingeschobenen Band „Die Feuerpause“. Auch diesmal gelingt es Zweig nicht, eine wirklich überzeugende Handlung zu konstruieren, die seine beabsichtigte Intention trägt. So dreht sich die erste Hälfte des Romans immer wieder um die Auseinandersetzung, welcher der deutschen Anwärter auf den litauischen Königsthron gehievt werden soll, ohne dass dabei irgendeine Art von Fortschritt in der historischen Entwicklung oder der Einsicht des Lesers in den Prozess erzielt wird.

Im Zentrum des Romans steht diesmal Hauptmann Paul Winfried, der bereits in „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ eine führende Rolle gespielt hatte. Er ist inzwischen nicht mehr Adjutant seines Onkels, des Genrals von Lychow, der nun in der Ukraine stationiert ist und dort für Ordnung sorgen soll, sondern fungiert in der Mi­li­tär­ver­wal­tung Ober-Ost in Wilna als dessen Verbindungsoffizier. Der Leser bekommt Winfried zuerst als eingermaßen angepassten, etwas naiven Offizier vorgeführt, der rasch in die Nähe und das Vertrauen des obersten Befehlshabers an der Ostfront General Clauss gerät. Al­ler­dings wandelt sich Winfried in der Königsfrage unter dem Einfluss seiner Freundin Bärbe und deren Familie von Saulus zum Paulus und gerät so in Opposition zum allmächtigen General, der ihn diesen Fehltritt mit einem etwas groben Soldatenscherz (Verhaftung als Spion und einige Tage Zwangsarbeit) vergelten lässt. Da unglücklicherweise zur selben Zeit auch Winfrieds Onkel in der Ukraine einem Attentat zum Opfer fällt und der Autor zudem auch noch Winfrieds schwangere Freundin Bärbe an der Grippe sterben lässt, darf unser Held am Ende des Romans als einsichtiger und geläuterter Phoenix aus der Asche dieses Elends emporsteigen.

Das alles ist sehr konstruiert und daher auch trivial. Die his­to­ri­schen Ereignisse bleiben an und für sich bedeutungslos und dienen Zweig nur als Hintergrund für die Wandlung seines Protagonisten. Zwar gelingen hier und da einige wenige Seiten, etwa die auf denen das Elend der litauischen Juden unter der deutschen Besatzung knapp und bewegend geschildert wird, aber alles in allem dümpelt das Buch in weiten Teilen vor sich hin, auf jeder neuen Seite in wieder einem Gespräch das altbekannte Stroh noch einmal dreschend, vor­an­ge­trie­ben allein vom seitenschindenen Willen seines Autor.

Es ist ein wenig schade, dass der Zyklus mit seinen beiden letzten Bänden so deutlich abfällt, wobei „Einsetzung eines Königs“ noch der bessere von beiden ist. Auch muss man wohl dem allgemeinen Urteil beitreten, dass der zuerst entstandene „Streit um den Sergeanten Grischa“  zugleich auch schon den Höhepunkt des ge­sam­ten Zyklus darstellt. Zweig ist es besonders mit den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Bänden nicht gelungen, den Zyklus noch einmal zu beleben.

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs. Berlin: Aufbau-Verlag, 2004. Kindle-Edition. 596 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

Heiko Postma: Ein Großklassiker a. D.?

Postma-HauptmannGerhart Hauptmann ist ein komplizierter Fall der deutschen Literaturgeschichte: Hatte er als No­bel­preis­trä­ger in der Weimarer Republik ohne Zweifel den Status eines der bedeutendsten Vertreter der deutschsprachigen Literatur (er war sogar zeitweise als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten im Gespräch), so verführten ihn Eitelkeit und Über­heb­lich­keit dazu, sich mit den Vertretern des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes einzulassen, ein Verhältnis, in dem wahrscheinlich auf beiden Seiten die Überzeugung herrschte, man nutze den jeweils anderen zum eigenen Vorteil aus. Nach dem Krieg ist es Hauptmann durch seinen Tod erspart geblieben, vom nächsten Regime instrumentalisiert zu werden; doch auch eine echte bürgerliche Re­ha­bi­li­tie­rung un­ter­blieb auf diese Weise. So besteht wohl auch heute noch bei den ohnehin nicht so zahlreichen Lesern, die sich über eine reine Schullektüre hinaus mit Hauptmann einlassen, ein im besten Fall zwie­späl­ti­ges Verhältnis zu diesem Autor.

Auch im Buchhandel spiegelt sich das eher komplizierte Verhältnis der Leser zu Hauptmann wieder: Einerseits ist die letzte umfangreiche Werkausgabe, die Centenar-Ausgabe von 1962 in elf Bänden, prob­lem­los greifbar, andererseits sind als Einzelausgaben nur die klassischen Schullektüren und die wenigen noch gespielten Dramen lieferbar. Vor zwei Jahren ist dann zu Hauptmanns 150-jährigem Geburtstag noch einmal pflichtschuldigst eine Biographie von Peter Sprengel er­schie­nen, doch kann man sich des Eindrucks eines langen Abgesangs nur schlecht erwehren.

Auch der lange Essay von Heiko Postma – nur eines in einer ganzen Reihe von literaturhistorischen Büchlein, die von dem Hannoveraner Autor im JMB Verlag erschienen sind – steht, wie sich bereits am Titel ablesen lässt, im Zeichen dieses eher ambivalenten Verhältnisses. Postma liefert nur eine rudimentäre Bio­gra­phie, ohne dabei allerdings Hauptmanns Eitelkeit, seinen Versuch, sich zum Nachfolger Goethes im 20. Jahrhundert zu stilisieren, seine Verwicklung mit dem Regime des Dritten Reichs etc. zu verschweigen. Doch die Hauptmasse des Textes bilden Werkbesprechungen und län­ge­re Zitate, besonders aus den Dramen und den heute fast durchweg unbekannten Versepen Hauptmanns. Von den Romanen bespricht Postma nur „Atlantis“ ein wenig ausführlicher, und die Erzählungen, unter denen sich ganz erstaunliche epigonale Perlen finden lassen, werden nur an einer einzigen Stelle en passant erwähnt. Zum Ausgleich glänzt Postma etwa mit einer ausführlichen Darstellung des Hauptmannschen Atriden-Zyklus, der als Ergänzung und Aufhebung der Goetheschen „Iphigenie auf Tauris“ konzipiert wurde und von dem Postma sicherlich zu Recht feststellt, dass er eine Präsenz auf den deutschen Bühnen verdient hätte.

Ansonsten wäre dem Bändchen eine etwas zurückhaltendere Ty­po­gra­phie ganz gut bekommen, aber das ist auch schon der einzige Kri­tik­punkt, den ich habe finden können. Für eine erste Einführung ist das Buch nicht umfassend genug, doch für alle, die sich für Hauptmann doch einmal über den „Bahnwärter Thiel“ hinaus interessieren wollen, liefert es eine spannende und originelle Auswahl von Lek­tü­re­an­re­gun­gen, die einem Zugänge zur umfangreichen Centenar-Ausgabe eröffnen können.

Heiko Postma: Ein Großklassiker a. D.? Über den Dramatiker, Erzähler und Vers-Epiker Gerhart Hauptmann (1862 – 1946). Hannover: JMB, 2009. Broschur, 66 Seiten. 9,80 €.

Reiner Stach: Ist das Kafka?

Stach-Ist-das-KafkaReiner Stach, der gerade seine gr0ße Kafka-Biographie mit dem dritten Band abgeschlossen hat, liefert mit „Ist das Kafka?“ ein Seitenstück, in dem Kafkas Person und Leben anhand von 99 Fundstücken anekdotisch dargestellt werden. Biographisch umfassen die im Großen und Ganzen chronologisch angeordneten, kurzen Kapitel die Zeit von Kafkas Schulzeit bis zu seinem Tod. Dabei legt Stach ein besonderes Augenmerk darauf, weit verbreiteteten Vorurteilen über Kafka und sein Leben entgegenzutreten. Daher erfährt man einiges über das Sexualleben des jungen Franz, aber auch über Familie, Freunde und Bekannte, seine Berufstätigkeit und nicht zuletzt auch sein Leben als Schriftsteller.

Die Fundstücke bestehen aus Texten Kafkas, sowohl aus dem zu Lebzeiten veröffentlichten Werk als auch aus dem Nachlass, Briefen und Tagebucheinträgen, Erinnerungen von Freuden und Bekannten sowie Fotos. Nahezu alle Kapitel sind mit einem erläuternden Kommentar Stachs versehen, doch stellt sich nirgendwo der Eindruck ein, dass Stach die jeweilige Quelle überschreibt, sondern er liefert nur den jeweiligen Kontext und gibt sparsame Hinweise zum Verständnis.

Ergänzt werden die Fundstücke im Anhang durch ausführliche biographische Notizen zu den Autoren der Quellen; daneben findet sich ein tabellarischer Lebenslauf Kafkas, der den großen Zusammenhang herstellt, den ein mit Kafkas Biographie eher unvertrauter Leser beim Durchgang durch die Fundstücke durchaus vermissen könnte.

Ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit Kafka und eine praktische Vorschule zur großen Kafka-Biographie Stachs, sowohl für Kafka-Anfänger als auch für jene geeignet, die sich schon intensiver mit Kafka auseinandergesetzt haben.

Reiner Stach: Ist das Kafka? 99 Fundstücke. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2012. Kindle-Edition, 336 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €,

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

William Faulkner: Schall und Wahn

Komische Leut. Gut dass ich keiner von denen bin.

Faulkner-Schall

Rowohlt setzt seine Reihe von Neuübersetzungen von Romanen William Faulkners – „Licht im August“ (2008), „Als ich im Sterben lag“ (2012) – mit dem 1929 erschienenen „Schall und Wahn“ fort. Der Titel des amerikanischen Originals „The Sound and the Fury“ ist eine offensichtliche Anspielung auf eine Passage aus Shakespeares „Macbeth“:

Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.

Nun wäre angesichts dieses Hintergrundes der Titel wahrscheinlich genauer mit „Der Lärm und die Raserei“ oder auch, wie Übersetzer Frank Heibert in seinem Nachwort vorschlägt, „Das Tönen und Wüten“ übersetzt. Allerdings, schließt Heibert seine Reflexion über mögliche Titelvarianten, habe bei

der Titelentscheidung […] nicht der Übersetzer das letzte Wort.
Auf Deutsch heißt dieser Roman «Schall und Wahn».

Der Roman ist aufgeteilt in vier große Abschnitte, von denen drei an den drei Tagen von Karfreitag bis Ostersonntag des Jahres 1928 im fiktiven Mississippi-Städtchen Jefferson spielen. Der zweite Teil ist auf den 2. Juni 1910 datiert und ist in Harvard angesiedelt. Jedes der Kapitel hat einen eigenen Erzähler, wobei die Erzählhaltungen von Abschnitt zu Abschnitt immer traditioneller werden. Der erste Abschnitt, der wohl am besten dem Programm des oben angeführten Shakespeare-Zitats folgt, wird vom geistig behinderten Benjy, dem jüngsten der drei Söhne der Familie Compson erzählt. Benjy ist 1928 dreiunddreißig Jahre alt und bedarf ständiger Aufsicht und Hilfe. Er ist nach einem Übergriff auf ein kleines Mädchen kastriert worden und hätte anschließend nach dem Willen seines Bruders Jason in eine geschlossene Anstalt gesteckt werden sollen. Doch aus Rücksicht auf die Mutter lebt er weiterhin im elterlichen Haus, unter ständiger Aufsicht eines schwarzen Bediensteten, zumeist des erst 14-jährigen Lusters.

Benjy ist naturgemäß ein denkbar ungeeigneter Erzähler: Er kann kaum zwei Gedanken folgerichtig hintereinander setzen, seine Erinnerungen und Eindrücke nicht in eine zuverlässige zeitliche Abfolge bringen, keine seiner Erfahrungen tatsächlich begreifen oder sich in ein Verhältnis zu ihr setzen etc. Er ist tief geprägt von den Erlebnissen seiner Kindheit, die in seinem Gedanken- und Er­fah­rungs­strom immer wieder auftauchen. Besonders die Liebe zu seiner Schwester Candy ist eine der Konstanten in dem Chaos in Benjys Kopf. Erst die zweite Hälfte des Romans wird vieles von dem, was Benjy erzählt, verständlich werden lassen.

Der zweite Abschnitt wird von Quentin Compson erzählt, der im Jahr 1910 in Harvard studiert. Der Leser kann vermuten, dass es sich bei dem erzählten Tag um denjenigen handelt, an dessen Ende sich Quentin ertränken wird. Quentin verbringt den Tag mit einer an­schei­nend ziellosen Fahrt durch Harvard und dessen ländliches Umfeld. In einer kleinen Stadt läuft ihm längere Zeit ein kleines italienisches Mädchen nach, weshalb er unter dem Verdacht verhaftet wird, er habe das Mädchen entführen wollen. Nachdem sich dieser Verdacht vor dem Friedensrichter, vor den Quentin gestellt wird, als unbegründet erweist, nimmt Quentin mit einigen Kommilitonen an einem Picknick teil, bei dem er allerdings eine Schlägerei beginnt. Er kehrt allein nach Harvard zurück und ordnet seine Habseligkeiten als Vorbereitung für seinen Selbstmord. Die Erzählung bricht ab, unmittelbar bevor Quentin sein Zimmer wahrscheinlich zum letzten Mal verlässt.

Quentins Ich-Erzählung ist natürlich deutlich klarer strukturiert als die Benjys, doch wird auch hier dem Leser einiges an Aufmerksamkeit und interpretierendem Lesen abverlangt. Quentins Denken ist getränkt von einem tiefem Schuldgefühl wegen seiner Liebe zu seiner Schwester Candace, die offenbar vor kurzer Zeit geheiratet hat. Wir werden später erfahren, dass Candy diese Ehe eingeht, um ihrer unehelich, nicht von ihrem Ehemann gezeugten Tochter eine Familie zu geben. Quentin verachtet Candys Ehemann und ist eifersüchtig auf ihn, macht sich zugleich aber schwere Vorwürfe wegen dieser Gefühle, die er selbst als inzestuös empfindet. Dieser innere Konflikt ist zumindest einer der Gründe für Quentins Entschluss, sich selbst zu töten.

Der dritte Abschnitt wird von Jason, dem dritten Sohn der Compsons erzählt. Auch Jason lebt immer noch im elterlichen Haus, und er ist es, der durch seine Tätigkeit als Verkäufer in einem Ladengeschäft die Familie finanziell über Wasser hält. Im Haushalt der Compson lebt außer der Mutter Caroline, Benjy und Jason auch Candys Tochter Quentin (!), die von ihrer Mutter nach der Scheidung ihrer ersten Ehe zur Familie in Jefferson gebracht wurde. Quentin ist 17 Jahre alt und rebelliert gegen ihren sie und die übrige Familie tyrannisierenden Onkel Jason. Jason ist nicht nur ständig schlecht gelaunt und geneigt, jedermann nach Möglichkeit zu quälen, er unterschlägt auch sys­te­ma­tisch die Unterhaltszahlungen, die Candy für ihre Tochter schickt. Der verbitterte und geldgierige Mann spekuliert mit diesem Geld an der Baumwoll-Börse, die aber im wesentlichen auch nur seinen Hass auf die Welt, die Juden und die Schwarzen schürt. Jasons Ich-Erzählung folgt am ehesten traditionellen Vorbildern, wie sie die Erzähler des 19. Jahrhundert geliefert haben.

Der vierte Abschnitt schließlich hat einen auktorialen Erzähler, der im Großteil seiner Erzählung dem Tagesablauf von Dilsey, der schwarzen Haushälterin der Compsons und Mutter Lusters, folgt. Dilsey hat außer Luster noch eine Tochter, Frony, die aber nicht im Haus lebt. Sie be­sorgt nicht nur den Haushalt, sondern hat auch die Kinder der Comp­sons erzogen, da weder die hypochondrische Mutter Caroline noch der stets betrunkene Vater Jason (sen.) dazu in der Lage waren. Sie ist das ausgleichende Element im Haus der Compson und sorgt immer wieder dafür, dass die Streitereien der weißen Familie nicht in Gewalt und Chaos enden. Allerdings muss Jason (jun.) an dem im letzten Ab­schnitt erzählten Ostersonntag 1928 feststellen, dass seine Nichte, die ihn zwei Tage zuvor flehentlich gebeten hatte, ihr das Geld aus­zu­zahlen, das ihre Mutter ihr gerade geschickt hatte, und von ihm mit 10 Dollars abgespeist wurde, in sein Zimmer eingebrochen ist, seine Geldschatulle aufgebrochen und mit 7000 Dollars das Weite gesucht hat. Ein Großteil dieses Geldes ist der von Jason un­ter­schla­ge­ne Unterhalt, so dass sich Quentin wenigstens zum Teil nur das Geld wiederholt, dass Jason ihr vorenthalten hat. Jason versucht noch, Quentin und den Schausteller, mit dem sie aus Jefferson geflohen ist, einzuholen, muss aber schließlich einsehen, dass der Versuch zwecklos ist. Mit einem letzten Wutanfall Jasons gegen Luster endet der Roman.

„Schall und Wahn“ ist 1928 entstanden und lässt überdeutlich den Einfluss von Joyces „Ulysses“ auf Faulkner erkennen: Der Wechsel der Erzählform und der Erzähler von Abschnitt zu Abschnitt, das ex­pe­ri­men­tel­le Zuspitzen der Subjektivität des Erzählens besonders im ersten Abschnitt, das Erzählen eher eines Zustands als einer Handlung, die Reduktion des Erzählten auf kurze Zeiträume lassen sich alle problemlos auf das Vorbild des „Ulysses“ zurückführen. Heutige Leser, die in der Rezeption dieser Art von Texten geübter sind als Faulkners zeitgenössisches Publikum (es gibt allerdings auch heute noch Ausnahmen), können durchaus den Eindruck haben, dass auch eine deutlich kürzere Fassung des Textes denselben Eindruck vermitteln würde. Doch sollte man nicht vergessen, dass diese Formen Ende der 20er Jahre noch weitgehend neu und wenig eingeübt waren und sowohl auf der Seite der Schriftsteller als auch auf der der Leser noch eine bedeutende Unsicherheit über die Wirkung und die Tragfähigkeit dieser Formen bestand.

Die Übersetzung Frank Heiberts ist sorgfältig und präzise und vermeidet es, den Text zu verflachen oder der sogenannten Lesbarkeit zu opfern. Auch typographisch geht diese Neuausgabe sehr sorgsam mit dem Original um und reproduziert Faulkners typographische Manierismen – etwa längere Folgen von Leerzeichen, um etwas ungesagt Bleibendes zu markieren, oder das Einfügen einer kleinen Graphik eines Auges an einer Stelle, wo eine Werbetafel mit einem entsprechenden Symbol beschrieben wird – zuverlässig.

Ein Klassiker der Moderne, der erheblichen Einfluss auf die Ent­wick­lung der US-amerikanischen Literatur gehabt hat und einen der Grund­stei­ne zu Faulkners Ruhm bildet. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt seine Reihe von Neuübersetzungen Faulkners noch lange fortsetzen wird.

William Faulkner: Schall und Wahn. Übersetzt von Frank Heibert. Reinbek: Rowohlt, 2014. Pappband, Lesebändchen, 381 Seiten.
24,95 €.