Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit

Aber das ist keine verbreitete Auffassung.

Boghossian-Angst

Der Text scheint – so sagt es jedenfalls das Nachwort von Markus Gabriel – nach seiner „Veröffentlichung im Jahr 2006 in der philosophischen Fachwelt für großes Aufsehen gesorgt“ (S. 135) zu haben. Dass ich davon erst durch die Lektüre eben dieses Nachworts erfahre, nehme man als Hinweis darauf, dass ich nicht zu jener philosophischen Fachwelt gehöre und ordne die nachfolgenden Bemerkungen entsprechend ein.

Ziel des Autors ist es, in dem schmalen Bändchen die Positionen des rezenten philosophischen Relativismus und (sozialen) Konstruktivismus prinzipiell zu prüfen und zurückzuweisen. Dabei kommen verschiedene Philosophen unterschiedlich gut davon; am besten noch Richard Rorty, dessen relativistische Position am Ende aber auch verworfen wird. Selbst Kants erkenntnistheoretische Theorie – die nur sehr allgemein und zurückhaltend behandelt wird, da der Autor sie offensichtlich nicht aus einer Lektüre der Primärtexte kennt – findet keine Gnade vor den Augen des Herrn. Aber zum Glück kennt er anderswoher die eine und einzige Wahrheit® und „ihre segensreichen Wirkungen“ (S. 134). Wir kommen darauf zurück.

Das erstaunlichste an der von Boghossian vorgebrachten Kritik des Relativismus und Konstruktivismus ist, dass er die Absicht der von ihm bekämpften Positionen im Grunde gar nicht begreift. Ihm ist es tatsächlich unverständlich, dass jemand einen Standpunkt einnehmen und vertreten möchte, der nicht den Spielregeln gehorcht, die er (Boghossian) so erfolgreich anzuwenden gelernt hat. Und es ist doch auch offenbar und für jeden Gutwilligen immer einsichtig: Was Wahrheit® ist, bestimmt die Naturwissenschaft und ihre rationale Methode. Jeder, der eine andere Wahrheit für wahr hält, muss entweder akzeptieren, dass diese Wahrheit nur ein indirekter, mittelbarer Ausdruck der Wahrheit® ist oder dass sie schlicht falsch sein muss. Wie das zu beweisen ist? Ganz einfach: aufgrund der Wahrheit® und der einzig zu ihr führenden rationalen Methode.

Boghossian lässt sich herab, wenigstens drei konkrete Beispiele ausführlicher zu besprechen, in denen Relativisten auf Schwierigkeiten hinweisen, die Wahrheit® gegen alternative Auffassungen durchzusetzen:

  • So zitiert er die Aussage eines Lakota-Indianers, die Lakota wüssten, sie seien „Nachfahren der Büffelleute. Sie kamen aus dem Inneren der Erde, nachdem übernatürliche Geister diese Welt für die Menschheit vorbereitet hatten. Wenn Nichtindianer glauben wollen, sie stammten von einem Affen ab, sei’s drum. Mir sind noch keine fünf Lakota begegnet, die an die Wissenschaft und die Evolution glauben.“ Boghossian wendet gegen diese – seiner Wahrheit® gegenüber ja immerhin tolerante – Haltung natürlich ein, dass eine solche Auffassung derjenigen, nach der die amerikanischen Ureinwohner „vor ungefähr 10 000 Jahren die Beringstraße überquerten“ (S. 9), allein deshalb unterlegen sein muss, weil es für sie keine Belege gebe. Warum das die Lakota nicht interessiert, wird klugerweise nicht erörtert.
  • Etwas ausführlicher widmet er sich dem Konflikt zwischen Kardinal Bellarmin und Galileo. Bellarmin soll sich bekanntlich geweigert haben, sich von der Richtigkeit der Behauptungen Galileos durch Augenschein zu überzeugen, indem er nicht durch dessen Teleskop blickte. Bellarmin soll die Position vertreten haben, was auch immer er dort zu sehen bekäme, sei unerheblich, da er die Wahrheit über den Aufbau der Welt aus der Heiligen Schrift kenne. Dieses Beispiel spielt sowohl bei Thomas Kuhn als auch bei Richard Rorty eine prominente Rolle. Auch in diesem Fall verweigert Boghossian bereits vor dem Hindernis: Seine Analyse zeigt zuerst auf, dass in diesem Fall die Wahrheit® und die Wahrheit Bellarmins nicht als gleichwertig anzusehen seien, jedenfalls nicht, wenn man die Kriterien der Wahrheit® zugrunde legt. Dann bestreitet er, dass Bellarmin und Galileo tatsächlich prinzipiell unterschiedlichen Weltbildern anhingen – Kuhn spricht unvorsichtigerweise metaphorisch davon, dass sie in verschiedenen Welten gelebt hätte, was Boghossian souverän zu widerlegen weiß –, indem er Kuhns Aussage so allgemein wie möglich auffasst, wodurch sie absurd wird. Wie Galileo das Problem hätte lösen sollen, Kardinal Bellarmin, der in diesem Fall nicht nur über die Wahrheit, sondern auch über die oft mit ihr verbundene Macht verfügte, von der Wahrheit® zu überzeugen, wird klugerweise nicht erörtert.
  • Schließlich setzt Boghossian dazu an, eine Passage aus Ludwig Wittgensteins „Über Gewißheit“ zu diskutieren, in der Wittgenstein den Konflikt einer Gesellschaft, die Orakel befragt, mit einer, die an die Physik glaubt, thematisiert. Allerdings vermeidet Boghossian schließlich doch die abstrakten Fragen Wittgensteins und ersetzt sie durch ein Beispiel aus Edward E. Evans-Pritchards „Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande“, von dem er ohne weiteren Nachweis suggeriert, dass Wittgenstein es gekannt haben könnte. Das konkrete Beispiel betrifft die Vererbungslehre männlicher Hexer: Die Zande erzählten den Ethnologen, dass Hexer ihre Fähigkeiten einer Substanz im Magen verdanken, die vom Vater auf den Sohn vererbt werde. Diese Substanz lasse sich im Magen von Hexern nach deren Tod nachweisen. Die Frage der Ethnologen, ob denn aufgrund der Vererbung alle Söhne eines Hexers und wiederum auch deren Söhne usw. Hexer würden, verneinen die Zande. Dies bereitet nun sowohl Evans-Pritchard als auch Boghossian rationale Beschwerden, denn wie können die Zande nur zugleich der Auffassung sein, die Hexer-Substanz werde vom Vater auf den Sohn vererbt und nicht alle Söhne eines Hexer würden zu Hexern? Boghossian erwägt drei mögliche Lösungen für diesen rationalen Konflikt:
    1. Die Zande könnten einen logischen Fehler begehen.
    2. Wir könnten aufgrund mangelhafter Übersetzung falsch verstehen, was die Zande meinen.
    3. Die Zande sind an „den relevanten Sachverhalten nicht sonderlich interessiert“ (S.111).
    Weitere Möglichkeiten kommen ihm beim besten Willen nicht in den Sinn. Wie wäre es aber zum Beispiel damit, dass die Zande durchaus dazu in der Lage sind, allgemeine Regeln zu bilden und zugleich im Sinn zu behalten, dass deren Allgemeinheit ein eher unbestimmtes Konzept darstellt. Ich kenne die Zande nun noch weniger als Boghossian, aber wenn es sich um Farmer handelt, so denken sie bei allgemeinen Regeln über die Vererbung der Hexerei-Substanz vielleicht ähnlich wie beim Herauszüchten bestimmter Eigenschaften in der Tierzucht: Die Eigenschaft wird allerdings vom Vater auf die Söhne übertragen, aber eben nicht immer zuverlässig; es sind immer auch Exemplare im Wurf, bei der die gewünschte Eigenschaft nicht auftaucht. Warum sollte das bei der Vererbung der Hexerei anders sein? Wonach fragen denn diese weißen Trottel eigentlich? Das versteht sich doch von selbst. Aufgrund dieser Sachlage ist es wahrscheinlich zu begrüßen, dass sich Boghossian gar keine Gedanken darüber macht, wie die Zande wohl von der Wahrheit® der westlichen Logik zu überzeugen wären.

Wie man leicht sieht, besteht das Hauptproblem an Boghossians Erörterungen, dass er sich auf den eigentlichen Konflikt, dem der Relativismus zu genügen versucht, gar nicht einlässt. In jedem einzelnen Fall steht ohnehin fest, dass die Wahrheit® der jeweils alternativen Position vorzuziehen und nur die Frage der Herleitung dieser Überlegenheit eventuell noch zu klären ist. Lässt sich der Opponent trotz der offenbaren Überlegenheit der Wahrheit® nicht von ihr überzeugen, kann das getrost auf sich beruhen, da er sich ja im Unrecht befindet, und das ist so ziemlich das schlimmste, was einem nach der Auffassung Boghossians geschehen kann.

Dabei will Boghossian aber durchaus nicht auf einer absoluten Überlegenheit der Wahrheit® bestehen. Er ist bereit, die Möglichkeit einzuräumen, man könne auf eine alternative Wahrheit2 stoßen, die der gerade gültigen Wahrheit® überlegen ist:

Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass uns ein alternatives epistemisches System begegnet, das uns an der Korrektheit unserer eigenen epistemischen Prinzipien zweifeln lässt. Wie sollen wir uns so etwas vorstellen? Nun, wir könnten uns die Begegnung mit einer andersartigen Gesellschaft vorstellen, deren wissenschaftliche und technische Fähigkeiten deutlich fortgeschrittener als unsere wären, obwohl sie fundamentale Aspekte unseres epistemischen Systems ablehnt und alternative Prinzipien befürwortet.

Damit diese Begegnung den erwünschten Effekt haben könnte, müsste dieses alternative epistemische System klarerweise eines aus dem wirklichen Leben sein, mit einer nachweislichen Erfolgsbilanz, und nicht nur eine theoretische Möglichkeit. Seine tatsächlichen Leistungen müssten hinreichend eindrucksvoll sein, um in uns legitime Zweifel an der Korrektheit unseres eigenen epistemischen Systems zu wecken. (S. 105 f.)

Dies ist der ironische Höhepunkt des Traktats: Boghossian rechnet nicht einmal damit, direkt durch die Wahrheit2 oder das ihr zugrunde liegende epistemische System der „andersartigen Gesellschaft“ überzeugt zu werden, sondern die „nachweisliche Erfolgsbilanz“ ihrer „technischen Fähigkeiten“ ist es, die den Ausschlag geben wird. Hier zeigt sich das vollkommene Unverständnis Boghossians für die von ihm tatsächlich vertretene Position: Die primitiven Wahrheiten sind der Wahrheit® deswegen unterlegen, weil die aus der Wahrheit® entspringende Erfolgsbilanz für sich spricht: fabrikmässiger und entmenschlichter Massenmord, 10.000-facher Overkill, Zerstörung der Welt und systematische Vernichtung des Lebens und der Lebensräume, die Menschheit als Pest des Planeten sind es, die für die Wahrheit® sprechen; und wer sich davon nicht überwältigt zeigt, befindet sich schlicht im Unrecht. Und wenn dann die Außerirdischen kommen, die uns en passant im Vollzug unserer Ausrottung nachweisen, dass wir höchstens Kinder in den Augen der Herrscher der Wahrheit2 sind, dann und erst dann ist es Zeit, der Wahrheit® abzuschwören und zu neuen Göttern zu beten, so lange man es noch kann.

Warum diese Angst vor der Wahrheit? Woher kommt dieses Bedürfnis, sich gegen ihre segensreichen Wirkungen schützen zu wollen? (S. 133 f.)

Ja, woher nur?

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. stw 2059. Berlin: Suhrkamp, 2013. Broschur, 164 Seiten. 14,– €.

Alan Weisman: Die Welt ohne uns

978-3-492-25305-6Etwas zu breit geratenes, dennoch interessantes Gedankenspiel über die Zukunft der Erde unter der Voraussetzung, dass alle Menschen auf einen Schlag verschwinden. Weisman spielt das Thema an immer neuen Beispielen durch: Häuser, Städte, die New Yorker U-Bahn, Industriekomplexe, Pipelines, Kernkraftwerke, Atomwaffen und nicht zuletzt dem Panamakanal. Auch die Auswirkungen von Überfischung, Müllentsorgung und Klimaveränderung auf die Weltmeere werden thematisiert. Zugleich mit der Vergänglichkeit menschlicher Bauwerke stellt Weisman die Fähigkeit der Natur dar, besiedelte Gebiete zurückzuerobern und die Spuren der Zivilisation mehr oder weniger rasch zu beseitigen.

Wenn auch der ein oder andere Fall ein wenig zu theatralisch dargestellt wird und sich der Autor hie rund da einer überzogenen Sprache bedient, handelt es sich um ein informatives und – trotz der offenbar flüchtigen Übersetzung – insgesamt gut lesbares Sachbuch, das insbesondere die dramatische Zuspitzung des menschlichen Eingriffs in die Natur in den letzten Jahrzehnten gut dargestellt. Dass der Autor dabei letztlich sentimental bleibt und sich vor der letzten Konsequenz seiner eigenen Darstellung scheut, ist kaum anders zu erwarten.

Alan Weisman: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde. Piper Taschenbuch 5305. München: Piper, 52010. 383 Seiten. 9,95 €.

Sibylle Berg: Der Mann schläft

978-3-446-23388-1 Mit ihren ersten beiden Büchern, Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) und Sex II (1998, beide Reclam Leipzig), hatte Sibylle Berg bei mir großen Eindruck gemacht. Ich hatte mit ihrer Unverfrorenheit und ihrer klaren, schlanken und harten Prosa viel Spaß. Dann kam – vielleicht zu schnell – Amerika (1999) heraus, das ich fad und voller sprachlicher Klischees fand. Daraufhin habe ich erst einmal aufgehört, Sibylle Berg zu lesen. Nun tauchte sie im letzten Jahr bei Hanser wieder auf, und ich habe es wieder mit ihr versucht und bin nicht enttäuscht worden.

Sibylle Berg ist vielleicht die einzige wirklich misanthropische Autorin, die wir haben, sprich: die so erfolgreich ist, dass man von ihr weiß. Es mag andere misanthropische Autorinnen geben, aber wahrscheinlich fehlt ihnen die geschliffene Prosa Bergs und ihre – ja, was ist jetzt das genaue Gegenteil von Weinerlichkeit? Toughness?

Ihr jüngstes Buch erzählt die Geschichte einer Frau in den besten Jahren, die nach einem langen misanthropischen und einsamen Leben endlich ihren Mann findet. Die beiden leben etwa vier Jahre zusammen und unternehmen dann ihre zweite gemeinsame Urlaubsreise auf eine kleine, vor Hongkong liegende Insel. Dort verschwindet der Mann eines Tages. Die Frau bemüht sich 14 Tage lang erfolglos darum, ihn wiederzufinden, und verfällt anschließend in eine langsam sich steigernde Depression. Nach einiger Zeit wird sie von einem chinesischen Mädchen adoptiert und zu sich nach Hause eigeladen. Aber auch der dortige Familienanschluss hilft nicht; die Erzählerin verfällt als letztem Trost dem Alkohol. Am Ende bleibt es unklar, ob sie gerettet wird oder einem Wahnzustand verfällt. Die Fabel wird in alternierenden Kapiteln erzählt, die jeweils »Damals« und »Heute« überschrieben sind und deren Handlungsbögen sich auf den letzten Seiten vereinigen.

Entscheidend ist aber weniger die erzählte Geschichte, sondern die tief misanthropische Grundposition des Buches: Die Erzählerin verachtet die Menschen, ihre Anstrengungen, ihre Routinen, ihre Dummheit, ihre Lügen und – wahrscheinlich am schlimmsten – ihre Wahrheiten.

Dieses Theater, das um Sexualität gemacht wird, zu unerheblich, um sich davon beeinflussen zu lassen. Selbst die seltsamste Fetischanwandlung wollen wir heute begreifen und akzeptieren, wir wollen tolerant sein und offen und ersticken an unserem Hass gegen alles, was uns nicht ähnelt, und brüllen umso lauter das Lied der Gleichberechtigung.
Alles muss definiert sein, geregelt, geordnet; geheiratet muss werden, auch gleichgeschlechtlich, auch Familienmitglieder und Tiere, so entfernt von Anarchie und Ungehorsam wie jetzt schienen die Menschen noch nie, gerade weil sie so frei sind. Wenn sie nicht das Pech hatten, im Mittelalter geboren zu werden, also bei Fundamen-talisten, also im Patriarchat, versagen sie es sich, suchen nach Geländern zum Festhalten, haben Angst, sich zu verlieren, wenn sie die Regeln nicht befolgen, die sie selber aufgestellt haben. Alle müssen über ihre sexuellen Präferenzen reden, sie müssen sich mitteilen, unbedingt, und akzeptiert werden. [S. 167 f.]

Dabei ist die Erzählerin durchaus nicht selbstgerecht:

Meine Wut auf die Rasse, der ich angehörte, verschwand, denn ich hatte es kaum besser gemacht. Anstatt die Welt zu verändern, hatte ich mich auf die Unmöglichkeit dieser Aufgabe berufen und mich in Gemütlichkeit zurückgezogen, mit meinem kleinen Beruf, den kleinen Freunden, den kleinen Möbeln. Da konnte ich fein ruhig sein, und das war ich dann auch. [S. 175]

Wer die Bücher von Sibylle Berg noch nicht kennt, findet hier einen »netten« Einstieg – nur eben Humor sollte man mitbringen, sonst fällt einem das menschenfeindliche Gezeter leicht auf die Nerven.

Sibylle Berg: Der Mann schläft. München: Carl Hanser, 2009. Pappband, 309 Seiten. 19,90 €.