Lew Tolstoi: Anna Karenina

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Zum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.

Arnold Zweig: Junge Frau von 1914

Verstand ist die beste Vaterlandsliebe, und Militarismus kein gutes Prinzip. Er wird Deutschland zugrunde richten, wenn man ihn nicht zwingt, die Pfähle zurückzustecken.

Zweig-Der-grosse-KriegDieser 1931 erschienene Roman ist sowohl der Chronologie der Handlung als auch der Entstehung nach der zweite des Zyklus Der große Krieg der weißen Männer. Allgemeines zum Zyklus und seiner Entstehung ist bereits bei der Besprechung des Bandes „Die Zeit ist reif“ von 1957 gesagt worden, der die Vorgeschichte zu „Junge Frau von 1914“ liefert. In ihm wurde die Handlung unmittelbar bis an die von „Junge Frau von 1914“ herangeführt, der dementsprechend im Frühjahr 1915 einsetzt, als der Schriftsteller Werner Bertin in Berlin seinen Gestellungsbefehl erhält. Er muss zur militärischen Grundausbildung nach Küstrin und wird anschließend als Armierungssoldat, also als Soldat ohne Ausbildung an der Waffe eingesetzt werden.

Während der drei Monate in Küstrin kommt es zu einem Vorfall zwischen ihm und seiner langjährigen Geliebten Lenore Wahl, dessen Folgen einen Großteil der Handlung des Romans bestimmen: Obwohl wir Bertin bislang nur als einen empfindsamen, rücksichtsvollen und etwas weltfremden jungen Mann kennen, sollen ihn die wenigen Wochen in der Kaserne so verroht haben, dass es bei einem Spaziergang der beiden Liebenden zu einer Vergewaltigung Lenores kommt. Doch merkwürdigerweise ist es nicht dieser gewaltsame sexuelle Übergriff, der für Lenore zur Krise ihrer Beziehung mit Bertin führt, sondern erst die aus ihm folgende Schwangerschaft. Da Lenores Eltern immer noch gegen eine Verbindung zwischen Lenore und Werner sind, sieht sie keine andere Möglichkeit, als das Kind abtreiben zu lassen. Unterstützt von ihrem jüngeren Bruder David, der noch das Gymnasium besucht, findet sie eine Berliner Privatklinik, in der der illegale Eingriff vorgenommen wird. Auch die Finanzierung des Klinikaufenthalts ist durch einen gerade rechtzeitig eintreffenden Vorschuss auf eines der Stücke Bertins gesichert. Zur eigentlichen Verwerfung zwischen Lenore und Werner kommt es aber erst nach der Abtreibung, als Werner seine Geliebte am Wochenende in der Klinik besucht, sich aber weigert, seine Rückkehr in den Dienst herauszuzögern und sich stattdessen um seine rekonvaleszente Freundin zu kümmern. Da Bertins Einheit unmittelbar danach auf den Balkan verlegt wird, kommt es zu keiner Aussprache zwischen den beiden.

Lenore durchläuft in den nächsten Monaten eine merkwürdig inkonsequente Entwicklung: Nachdem sie sich ihre Wut gegen Werner in einem Brief von der Seele geschrieben hat, den sie allerdings nicht abschickt, sondern ihrem Bruder zur Verwahrung gibt, versucht sie sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, indem sie sich autodidaktisch zur Hilfslehrerin auszubilden versucht. Gleichzeitig aber macht sie sich gegenüber ihren Eltern für ihre offizielle Verbindung mit Werner stark: Zuerst kann sie eine Verlobung mit ihm durchsetzen, weil es den Wahls als nützlich erscheint, einen Familienangehörigen im Feld zu haben, da es die Einberufung Davids hinauszögern könnte. Als Bertins Einheit schließlich nach Verdun verlegt werden soll, sucht Lenore einen Weg, ihn gänzlich vom Militärdienst befreien zu lassen, bekommt aber nur den Hinweis, dass eine Hochzeit ihm einen Urlaub garantiert. Sie setzt mit Hilfe ihres liberalen Großvaters bei ihren Eltern die Hochzeit mit Werner durch und betreibt aktiv den Urlaubsantrag für ihren Verlobten. Bertin erhält nach mehr als einem Jahr Militärdienst für seine Hochzeit ganze vier Tage Urlaub, heiratet Lenore in Berlin und verbringt zwei Flittertage mit ihr in der Potsdamer Villa der Familie Wahl. Mit seiner Rückkehr zum Dienst vor Verdun endet der Roman.

Eingewoben in diese Haupthandlung finden sich Aspekte der deutschen Kriegswelt der Jahre 1915/1916: Die magere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln – wobei sich die reichen Wahls dabei natürlich noch gut zu helfen wissen –, die patriotischen Verwerfungen und Beschränktheiten des Zusammenlebens, der Antisemitismus des preußischen Militärs, die Überschattung des zivilen Alltags durch die ständige Bedrohung des militärischen Totschlags, die Verflechtung der Wirtschaft mit der Kriegsmaschinerie, die nationalen Ideologien, die jeden Friedensgedanken des Defätismus verdächtigen müssen usw. usf. Besonders die antisemitschen Tendenzen werden deutlich herausgestellt: Nicht nur in der Anekdote, dass ein Berliner Rabbiner auf der Suche nach der Leiche eines jüdischen Offiziers, um sie in die Heimat zu überfuhren, diese unter einem Misthaufen von Schweinekot beerdigt findet, sondern auch in der ausführlichen Schilderung des humanen Plans der preußischen Militärführung, die Juden aus den besetzten russischen Gebieten vor dem Verhungern zu bewahren und zwangsweise in die USA zu exportieren, unbesehen davon, dass für diese Reise weder geeignete Schiffe zur Verfügung stehen, noch die Reiseroute selbst gesichert werden kann. Dass der Plan nicht umgesetzt wird, ist einzig dem Umstand zu verdanken, dass die zur Beratung herangezogenen jüdischen Bankiers darauf hinweisen, dass die Preußen hiermit zum einen gegen das Völkerrecht verstoßen würden, sie selbst zum anderen sich um die Einwerbung finanzieller Mittel und humanitärer Unterstützung bemühen werden, um wenigstens die schlimmste Not zu lindern. Auch Zweig konnte 1931 nicht erahnen, welche Ereignisse in dieser historischen Anekdote ihre Schatten vorauswarfen.

Im Großen und Ganzen stellt sich die frühe „Junge Frau von 1914“ als stilistisch deutlich schlichter und entspannter dar als der über 25 Jahre später entstandene Roman „Die Zeit ist reif“. Auch er ist nicht frei von romantisierender Exaltation, doch ist sie auf einige wenige Passagen beschränkt. Die Protagonistin Lenore Wahl vermag allerdings auch diesmal nicht vollständig zu überzeugen: Obwohl Zweig explizit Theodor Fontanes „Mathilde Möhring“ als Vorbild heranzitiert, bleibt Lenore am Ende doch nur ein Frauchen: Weder zieht sie irgendeine Konsequenz aus dem auch von ihr als Vergewaltigung begriffenen Übergriff Werners, noch konfrontiert sie selbst ihn am Ende mit ihrer Verletztheit und ihrer Wut. Werner erfährt all dies zwar aus dem von David aufbewahrten und mehrere Monate später an Werner gesendeten Brief Lenores, aber weder reagiert er selbst in irgend einer Weise auf diesen Brief noch ist er – verständlicherweise – Thema zwischen den jungen Brautleuten während der vier Tage Hochzeits-Urlaub Werners. Es bleibt abzuwarten, ob Zweig diesen schwelenden Konflikt in der Folge noch wird wirksam werden lassen. Soweit wie dieser Roman reicht, hat Lenore zwar gut spotten über die spießbürgerliche Welt ihrer Eltern, es ist aber kaum zu erkennen, wie sie selbst dieser Schablone zu entkommen gedenkt. Doch der Zyklus ist ja noch lang …

Arnold Zweig: Junge Frau von 1914. Berlin: Aufbau-Verlag, 131967. Leinen, Fadenheftung, 347 Seiten. Lieferbar ist derzeit eine günstige Hardcover-Ausgabe des Aufbauverlages.

Arnold Zweig: Die Zeit ist reif

Zweig-Der-grosse-KriegMit sechs vollendeten Bänden und insgesamt knapp 2.900 Seiten stellt Arnold Zweigs Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“ die umfangreichste literarische Aus­ein­an­der­set­zung eines deutschsprachigen Schriftstellers mit dem Ersten Weltkrieg dar. Den Keim des Zyklus bildete der 1927 erschienene (auf 1928 vordatierte) Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, den Zweig schon während der Niederschrift zu einer Trilogie des Übergangs auszubauen plante. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ war einer der erfolgreichsten deutschen Antikriegsromane und erreichte bis 1933, als der Autor ins Exil ging und seine Schriften in Deutschland verboten und verbrannt wurden, immerhin eine Auflage von 300.000 Exemplaren.

Während der Entstehung des ersten Bandes der geplanten Trilogie wurde Zweig klar, dass er den Stoff werde auf zwei Bände aufteilen müssen. So erschien 1931 „Junge Frau von 1914“ und – bereits aus dem Exil in Haifa heraus im Querido Verlag – 1935 „Erziehung vor Verdun“. Diese drei Bände sollten die bekanntesten und erfolgreichsten des Zyklus bleiben. Wie geplant, schloss Zweig 1937 die nun zur Tetralogie gewachsene Serie mit „Einsetzung eines Königs“ (ebenfalls im Querido Verlag) vorerst ab.

Erst nach der Rückkehr aus dem Exil nach Ostberlin erweiterte Zweig den Zyklus: Er sollte nach seiner Planung letztendlich acht Bände umfassen, doch konnte Zweig nur noch zwei weitere fertigstellen. Im  Jahr 1954 erschien im Aufbau-Verlag der Roman „Die Feuerpause“, dessen Handlung chronologisch zwischen „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ und „Einsetzung eines Königs“ angesiedelt ist und der noch einmal auf Material zurückgreift, das bereits in „Erziehung vor Verdun“ verarbeitet worden war. Anschließend plante Zweig um die nun fünf Bände einen weiteren Ring zu legen: 1957 wurde „Die Zeit ist reif“ gedruckt, der die Vorgeschichte der beiden Hauptfiguren Werner Bertin und Lenore Wahl lieferte. Unveröffentlichtes Fragment blieb der Band „Das Eis bricht“, der die Handlung über die eigentliche Kriegszeit hinaus in die entstehende Weimarer Republik verlängern sollte; darüber hinaus plante Zweig noch einen Band „In eine bessere Zeit“, der wohl eine Anbindung des Zyklus an die Jetztzeit des Autors liefern sollte.

Nach der inneren Chronologie der Erzählung ergibt sich also folgendes Bild des Zyklus:

  1. „Die Zeit ist reif“ (1957)
  2. „Junge Frau von 1914“ (1931)
  3. „Erziehung vor Verdun“ (1935)
  4. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927)
  5. „Die Feuerpause“ (1954)
  6. „Einsetzung eines Königs“ (1937)
  7. „Das Eis bricht“ (unveröffentl. Fragment)
  8. „In eine bessere Zeit“ (nicht verwirklichter Plan)

Ich werde die Romane des Zyklus hier in den kommenden Monaten entlang der Chronologie der Handlung vorstellen. Meiner Lektüre liegen Einzelausgaben des Aufbau-Verlages zwischen 1959 und 1980 zugrunde, die ich während meiner Studienzeit antiquarisch erworben habe. Derzeit sind beim Aufbau Verlag (jetzt nur echt ohne Bindestrich) nur vier der sechs Titel ( die Nummern 2, 3, 4 und 6 der oben stehenden Liste) im Taschenbuch lieferbar. Warum es der Verlag bislang versäumt hat, den Zyklus in diesem Jahr wieder vollständig aufzulegen und entsprechend zu bewerben, ist mir unbekannt. Aber das Jahr ist ja noch lang.

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„Die Zeit ist reif“ (1957) ist also der zuletzt entstandene, in der Chronologie der Ereignisse aber früheste Roman des Zyklus. Erzählt wird in der Hauptsache die Geschichte des deutsch-jüdischen Liebespaares Lenore Wahl und Werner Bertin vom August 1913 bis zum beginnenden Frühjahr 1915, die sich als Kommilitonen in München kennengelernt haben. Sie befinden sich im August 1913 auf einer Ferienreise in Tirol und Norditalien, verbringen einige glückliche Tage in Venedig und reisen dann wieder nach Deutschland zurück.

Lenore Wahl stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen in Berlin: Ihr Vater Hugo ist Mitinhaber einer zusammen mit ihrem Großvater Markus geführten Bank. Lenore studiert Kunstgeschichte und verheimlicht ihre Liebesbeziehung mit Werner vor ihren Eltern, nicht aber vor ihrem deutlich liberaleren Großvater. Werner Bertin stammt aus einer schlesischen Handwerker-Familie und ist offiziell Jura-Student. Er steht seit längerer Zeit kurz vor dem Abschluss seines Studiums mit der Promotion. Tatsächlich arbeitet er aber schon mehrere Jahre an einer Karriere als Schriftsteller, hat auch bereits einen Roman – „Liebe auf den letzten Blick“ – veröffentlicht, der ihm von allen vernünftigen Leuten in der Erzählung Lob und Anerkennung einbringt. Zur Zeit der Italien-Reise mit Lenore arbeitet er an einem Drama um einen mittelalterlichen jüdischen Bischof [sic!], der in einen Konflikt mit einem deutschen Hauptmann gerät. Außerdem wird er von Lenores Großvater auf eine Preisaufgabe der Freimaurerloge in St. Peterburg aufmerksam gemacht, die „eine Abhandlung über Gott und die Gegenwart“ mit einem erheblichen Geldbetrag prämieren will. Zwar steht Werner diesem Thema vorerst fern, doch der Geldbetrag und die mit dem Gewinn verbundene Publizität, die die Hochzeitspläne des Paares befördern könnten, sind als Anreize stark genug.

Nachdem die beiden Hauptfiguren nach Deutschland zurückgekehrt sind, trennt sie der Autor vorerst: Werner übernimmt, um Geld zu verdienen, stellvertretend einen Posten als Redakteur einer Zeitschrift in Breslau, während Lenore von ihrem Großvater mit Geschäften nach Straßburg geschickt wird, wo sie einen jungen Bankier kennenlernt, mit dem sie Karneval 1914 in München eine kurze Affäre haben wird. Anschließend werden beide für ein Semester wieder in München vereint, wo sie in einem Vorort als Studenten praktisch in wilder Ehe leben. Die Julikrise und der Kriegsausbruch am 1. August 1914 treffen sie so überraschend wie die meisten anderen Deutschen. Werner ist aufgrund seiner schwachen körperlichen Konstitution und seiner starken Sehbehinderung nur eingeschränkt tauglich und muss vorerst nicht damit rechnen, zur Reichswehr eingezogen zu werden. Beide beschließen, ihre Studien in Berlin fortzusetzen, da Lenore angesichts des Krieges in die Nähe ihrer Familie zurück soll.

Nach einer weiteren kurzen Trennung treffen sich die Liebenden also in Berlin wieder. Von nun an werden die Hochzeitspläne zwischen den beiden die Hauptrolle spielen: Werner wird auch von Lenore ihren Eltern vorgestellt, aber hauptsächlich aufgrund seiner offen geäußerten Kritik am hohenzollerschen Kaiserhaus nehmen beide Eltern Wahl, die über den Status der Beziehung zwischen Lenore und Werner immer noch im Unklaren sind, gegen den jungen Mann eine sehr ablehnde Haltung ein. Die Preisschrift über „Gott und die Gegenwart“ stellt Werner zwar fertig, aber der Kriegsausbruch und der Autor verhindern gemeinsam, dass sie St. Petersburg erreichen kann. Werner plant daher, sie als Dissertation einzureichen, da seine ursprüngliche Dissertation auch weiterhin nicht fertiggestellt ist; doch auch dieser Plan zerschlägt sich aufgrund der mangelhaften formalen Ausbildung Werners.

Der Roman schließt mit den Gedanken Werners, ob es nicht seine Pflicht sei, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Als ironische Spitze inszeniert Zweig schließlich eine Begegnung zwischen dem jungen Paar und zwei preußischen Militärs, die in einer Nebenhandlung des Romans eine Rolle spielen und auch im weiteren Romanzyklus Schlüsselstellen einnehmen werden. Bei dieser zufälligen Begegnungen legen die beiden Militärs den jungen Leuten die Frage vor, ob man der italienischen Forderung nach dem Anschluss Südtirols an Italien nachgeben oder eine dritte, südliche Front riskieren solle. Mit dem begeisterten Bekenntnis der beiden Studenten dazu, dass Südtirol eine alte deutsche Kulturlandschaft darstelle und nicht aufgegeben werden dürfen, entlässt sie der Autor in die sich anbahnende Katastrophe.

Sowohl Lenore Wahl als auch Werner Bertin sind als Typen angelegt: Während Lenore als positives Exempel einer nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit strebenden jungen Frau gestaltet ist, die sich besonders durch körperliche und sexuelle Freizügigkeit (alles gemessen an den bürgerlichen Standards des Kaiserreiches) auszeichnet und mehr und mehr zu einem realistischen Bild ihres Freundes Werner gelangt, ist Werner Bertin der typische unpolitische, bürgerliche Intellektuelle, der zwar große weltpolitische Reden führt, von der Sache und den realen Zusammenhängen letztlich aber wenig versteht. Er wird zwar immer wieder als intellektuell und schriftstellerisch begabt geschildert, zugleich wird er aber von mehreren Figuren des Romans explizit als „Dummkopf“ eingeschätzt.

Die beide in den Protagonisten angelegten Dichotomien überzeugen nur bedingt: Bei Lenore bleiben ihr emanzipatorisches Streben und ihre romantische Bindung an Werner bis zum Ende unvermittelt nebeneinander stehen, wobei besonders ihre romantischen Gefühle in einer Sprache geschildert werden, die die Grenze zum Kitsch gefährlich streift:

Und so fortan, dachte sie, in einer Formel des alten Goethe ihrer beider ganzes junges Leben umfassend. Und hingewendet zum Schicksal, dessen Gegenwart sie auf kindliche Weise hinter die unendliche Bläue des Himmels setzte: Sollte einer von ihnen die Bürden des Bündnisses tragen, so sie, deren Rücken bisher von der Schwere des Irdischen verschont geblieben. Nimm mich an, bat sie, stumm vor Liebe; ein weitgeöffnetes Auge von jenseits der Luft blickte, schien ihr, Gewährung; es überrann sie heiß, sie straffte die Schultern, ballte die kleinen Fäuste, griff gleichsam zu. Sie wußte nicht, was alles sie damit auf sich nahm.

(Zu Zweigs Verteidigung muss betont werden, dass nur ein kleiner Teil des Romans in stilistischem Schulst wie diesem verfasst ist.) Auch Werner Bertins Gestaltung kommt über die Spannung zwischen einer von den harten Realitäten unbeleckten Intellektualität und den angeblich tatsächlichen Anforderungen der Zeit nicht hinaus. Hinzu kommt, dass sich der heutige Leser des Romans kaum des Eindrucks erwehren kann, dass sich das alles auch knapper und prägnanter hätte darstellen lassen. Zwar ist das Bestreben Zweigs verständlich, seinen Zyklus in die Vor- bzw. Nachkriegszeit hinein zu ergänzen, es bleibt aber kritisch zu fragen, ob die immerhin 600 Seiten dieses Spätwerks wirklich genug Zugewinn bringen, um seine Lektüre zu empfehlen.

Arnold Zweig: Die Zeit ist reif. Berlin: Aufbau-Verlag, 31959. Leinen, Fadenheftung, 600 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten.
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Die dritte Wiederlektüre eines Frauen-Romans von Fontane im Rahmen einer kleinen, didaktisch begründeten Reihe. Nach „Mathilde Möhring“, das im Kleinbürgertum spielt, und „Effi Briest“, dem adligen Pendant, nun also das preußische Großbürgertum und die kleine Gelehrtenwelt eines Gymnasialprofessors, der allerdings damals noch etwas galt.

Erzählt wird der Konflikt zwischen der Titelfigur, einer an der Oberfläche schwärmerischen und sentimentalen, in der Substanz aber knochentrockenen Fünfzigerin, die sich aus einfachen Verhältnissen nach oben geheiratet hat, und Corinna Schmidt, der Tochter eines Gymnasialprofessors, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr zukünftiges Wohlleben dadurch zu sichern, dass sie sich von Jennys Sohn Leopold heiraten lässt. Jenny will Corinna gleich aus mehreren Gründen nicht in der Familie haben: Zum einen wäre ihr die ständige Erinnerung an ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zuwider, zum anderen ist Corinna so eigenständig und intellektuell überlegen, dass Jenny kaum hoffen kann, jemals bedeutenden Einfluss auf sie oder ihren Sohn zu nehmen, sollten die beiden heiraten. Wie oft beim grundpessimistischen Fontane, setzen sich die bösen Absichten durch. Man fühlt sich unwillkürlich an die Zusammenfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen durch Doktor Wrschowitz in „Der Stechlin“ erinnert:

Oberklasse gutt, Unterklasse serr gutt, Mittelklasse nicht serr gutt.

Da der alte Meister aber genau wusste, was sein Publikum von ihm erwartete, hat er zum Ausgleich ein Komödienende hinzuerfunden: Der weichliche Leopold bleibt unter der Knute seiner Mutter und kommt zusätzlich unter die einer von allen Familienmitgliedern ungeliebten Ehefrau, Corinna aber heiratet den ihr sowieso immer schon zugedachten Vetter und Junggelehrten Marcell Wedderkopp, der ihr wenigstens einigermaßen wird Paroli bieten können. So weit, so gehöft.

Der Roman ist ein leichte und angenehme Lektüre. Zu bewundern ist aber die höchste Ökonomie, mit der das Buch geschrieben wurde: Exposition, Schürzen des Knotens und Durchführung des Konflikts sind von einer solchen Stringenz, dass das alles mehr der Konzeption eines Theaterstücks ähnelt als einem auf epische Breite angelegten Roman. Sicherlich: Für ein Bühnenstück sind die Nebenfiguren etwas zu zahlreich und ausführlich geraten, auch sind einige Lokalitäten nicht wirklich bühnentauglich, aber was die Konstruktion des ganzen angeht, hat Fontane offenbar bei den Dramatikern einiges gelernt. Die Exposition wird mit der Beschreibung eines einzigen Tages erledigt, eigentlich beinahe nur durch die Beschreibung zweier Abendgesellschaften: Eine im Hause Treibel, die dem gesellschaftlichen Glanz des Hauses und der politischen Karriere des Hausherrn förderlich sein soll, eine in der Wohnung Professor Willibald Schmidts, der mit ein paar Kollegen einen vergnügten Abend bei Oderkrebsen und Schliemannschen Ausgrabungen begeht. Die Beschreibung dieses ersten Tags macht die ersten ⅖ des Romans aus, und alles, was folgt ist nur die konsequente Durchführung der in diesem ersten Teil angelegten Themen.

Wieder einmal durfte ich feststellen, dass ich Fontane umso mehr schätze, je älter ich werde.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 14. Berlin: Aufbau Verlag, 2005. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 374 Seiten. 24,90 €.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen.

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Bei Goethes »Wanderjahren« handelt es sich un­be­streit­bar um den schwierigsten Roman des Weimarer Meisters. Nicht nur die Editions- und Re­dak­tions­ge­schich­te stellt eine Herausforderung für jeden Herausgeber dar, sondern die inhaltliche Breite und formale Beliebigkeit des Buches fordern auch ein hohes Maß an Toleranz von den Lesern. Für die konkrete Lektüre hilft es auch wenig, wenn uns versichert wird, bei dem Roman handele es sich um einen frühen Vorläufer der Moderne, wenn man von Seite zu Seite mehr geneigt ist, ausnahmsweise ein einziges Mal im Leben Friedrich Gundolf zu­zu­stim­men und den Roman nicht nur stofflich, sondern auch technisch langweilig, d. h. verfehlt zu finden (»Goethe«, Berlin 101922, S. 716). Auch dass sich Goethe des höchst problematischen Charakters seines Buches offenbar bewusst war, hilft nur indirekt weiter; aber dazu später noch ein paar Worte.

Was erzählt wird, lohnt kaum der Mühe, es wiederzugeben: Wir finden den aus den »Lehrjahren« wohl bekannten Wilhelm Meister zu Anfang des Romans zusammen mit seinem Sohn Felix auf dem Weg nach Italien. Die Turmgesellschaft, die sich in den »Lehrjahren« als eine Wilhelms Geschick steuernde Vereinigung herausgestellt hatte, hat ihm für diese Reise einige merkwürdige Bedingungen auferlegt, die ihn in Bewegung halten sollen: Er darf nicht mehr als drei Tage und Nächte unter demselben Dach verbringen, muss von Station zu Station seiner Reise immer eine erkleckliche Distanz zurücklegen und darf an einen einmal besuchten Ort erst nach Jahr und Tag wieder zurückkehren. Dies liefert die natürliche Grundlage für die a­nek­do­ti­sche Reihung von Orten und Ereignissen, die die erste Hälfte des Romans weitgehend beherrscht. Im Laufe des Romans wird außerdem die auktoriale Erzählstruktur überschrieben durch eine Herausgeberfiktion, die vorgibt, es handele sich bei dem Roman eben nicht um eine Erzählung im her­kömm­li­chen Sinn, sondern um eine Auswahl aus einem ungeordneten Konvolut von Papieren, das dem Herausgeber vorliege.

Dementsprechend ist das Buch denn auch eine lose Folge von Ereignissen, Gesprächen, Reden, Briefen und Novellen, die – je weiter, desto schlechter motiviert – schlicht auf den Faden einer vollständig beliebigen Handlung aufgereiht werden. Auf der Ebene der Fabel im traditionellen Sinne er­schei­nen nur zwei Elemente als für den Roman wesentlich: Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt – nicht zum Arzt im Sinne eines All­ge­mein­me­di­zi­ners, wie man hier und da lesen kann – und der am Ende stattfindende utopische Aufbruch einer großen Gruppe unter Leitung der Turmgesellschaft nach Amerika, wo man in einer selbstbestimmten – tatsächlich aber natürlich von den weisen Führern der Turmgesellschaft vorgegebenen – Gesellschaftsform zu leben gedenkt. Zum Glück ist der deutschen Literatur ein dritter, in einem fiktiven Amerika spielender Teil der Lebensgeschichte Wilhelms erspart geblieben.

Thematisch tritt das Buch mit großem Anspruch auf: Pädagogik, Gesellschaft, Industrialisierung, vita activa versus vita contemplativa, Vulkanismus versus Ozeanismus – dies alles und mehr wird in Gesprächen und Reden der Figuren (und damit immer zugleich auch unter in­di­vi­duel­lem Vorbehalt) diskutiert und analysiert. Hinzu kommen die beiden Spruch­samm­lun­gen der Ausgabe von 1829, die unter anderem Kleinigkeiten wie Kunst, Wissenschaft und Wissenschaften, Mathematik, Wahrheit, Poesie, Lord Byron und Laurence Sterne aphoristisch bewirtschaften. Falls der heutige Leser hier nicht einfach vor dem intellektuellen Anspruch des Buches kapituliert – denn er soll nicht nur verstehen, was hier überhaupt gesagt wird, sondern er muss es immer auch noch in den historischen Horizont der 1820er Jahre einstellen, um es angemessen wahrnehmen zu können –, so könnten ihm durchaus Bedenken kommen, ob denn ein Roman, und sei es auch ein so umfangreicher wie die »Wan­der­jah­re«, das geeignete Medium für die Erörterung so zahl- und um­fang­rei­cher Themen ist.

All dies hat zu scharfer Kritik geführt; Gundolfens haben wir oben schon zitiert, weil er aber so spitz und witzig ist, soll hier einmal mehr Arno Schmidt zu Wort kommen:

Das erste Axiom ist für heute: es gibt gar keine »Klassiker«, sondern nur »klassische Werke« (wenn man schon den albernen Begriff weiter behalten will). So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze. Und ich wiederhole, was ich Euch – Dir und Alice – so oft gesagt habe: es gibt keinen Dichter, der nicht besser nur die Hälfte geschrieben hätte; bei den meisten war ein Viertel schon zu viel. –

Und der zweite Satz lautet: abgesehen von Goethes wis­sen­schaft­lich­phi­lo­so­phi­schen und seelischen Defekten, hatte er als Autor noch den, daß er keinen Roman schreiben konnte. Das ist auch gar keine Schande: Wieland, Poe, Storm, Keller waren völlig unbegabt für’s Bühnenspiel, Hoffmann und Stifter für gebundene Rede aller Art, Klopstock hätte sich im Formalen auf Ode, Anekdote und gram­ma­ti­sche Gespräche beschränken sollen. Unangenehm für die Nachwelt wird so Etwas aber, wenn der Dichter das selbst nicht merkt, also Wieland sich an der Alceste versucht, Klopstock ein Epos schreibt, und Goethe die Wanderjahre »macht«.

»An Uffz. Werner Murawski«

(Und gleich der Gegensatz [zu Wieland]: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste – den »Werther« beiseite; und »Wahrheit und Dichtung«, wo allerdings ja gar kein Problem einer Stofformung vorliegt –: gewaltsam aneinandergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novellen; Aforismensammlungen; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er das Kind Ottilie für onkelhaft weltkundige »Maximen« in ihr Tagebuch schreiben! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!).

»Aus dem Leben eines Fauns«

Schmidt hält die Faulheit eines diktierenden Schriftstellers (»An Uffz. Werner Murawski«) für eine der Ursachen von Goethes frecher Formschlamperei, was immerhin eine bodenständig-handwerkliche Erklärung für den Zustand des Textes liefert, statt sich in poetologische Spekulationen zu verlieren.

Dagegen darf mit Sicherheit angenommen werden, dass sich Goethe über den heiklen Charakter seines Buches vollständig im Klaren war. Es gibt zahlreiche Stellen im Text, die – wie die eingangs als Motto zitierte – die Zumutungen der formalen Beliebigkeit und inhaltlichen Schwierigkeit explizit thematisieren. Goethe lässt den Erzähler immer erneut den brüchigen Aufbau und die losen Übergänge kommentieren und anmerken, dass es zu dem gerade Verhandelten noch viel zu sagen gäbe, nur sei eben hier der Ort nicht. Auch die letzten Worte des Romans (Ist fortzusetzen.) deuten auf das unendliche Projekt, von dem das Buch nur einen verschwindenden Ausschnitt liefert.

Im Gegensatz zu den beiden Hauptströmungen der Deutung bin ich heute weder geneigt, dem Roman seinen Mangel an formaler und inhaltlicher Geschlossenheit als Fehler anzukreiden, noch halte ich es für besonders überzeugend, Goethe als einen frühen, noch unsicheren Modernen zu lesen. Offensichtlich resultiert der Mangel der Form zuerst einmal aus dem ausschweifenden inhaltlichen Anspruch, dem Goethe zu genügen versucht. Doch scheint es mir zu kurz gegriffen, die bis dahin für einen Roman unerhörte thematische Fülle allein für die brüchige Form verantwortlich zu machen. Vielmehr scheint Goethe allerspätestens in den 1820er Jahren nicht mehr am Erzählen um des Erzählens willen, an der Fiktion als Fiktion interessiert gewesen zu sein. Die Fabel im traditionellen Sinne liefert ihm nur mehr ein Vehikel, mit dem er versucht, seine Weltsicht und -deutung einem breiteren Kreis des gebildeten bürgerlichen Publikums bekannt zu machen. Auch befreit die künstlerische Aufarbeitung sozialer, wissenschaftlicher und philosophischer Thesen ihn von jenen Ansprüchen an die Theorie, denen er weitgehend misstraut:

Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das eine noch auf das andere.

[…]

Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren, war mir erst ein Ärgernis, dann betrübte ich mich darüber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.

Da zudem im Kern der Weltdeutung der »Wanderjahre« ein Plädoyer für das Tätigsein in der Welt und gegen das übermäßige – um nicht ›maßlose‹ zu sagen – Theoretisieren und Abstrahieren steht, erschiene jede rein essayistische Behandlung der verhandelten Themen als eine Bewegung in die falsche Richtung.

Goethes Missachtung der Form sollte also gerade nicht als eine Missachtung der Kunst der Literatur verstanden werden, sondern geradezu als ihre Hochschätzung: Nur die Kunst erlaubt es Goethe, seiner Auffassung nach angemessen über die Welt und ihr Verständnis zu schreiben, ohne sich entweder in Abstraktion einer- oder Banalität andererseits zu verlieren. Dazu aber ist es zugleich nötig, die traditionelle Form zu zerbrechen (man entschuldige diese Reminiszenz an Schillers »Lied von der Glocke«) und in den Trümmern der Form  weiter zu erzählen.

Besser macht all dies das Buch aber leider nicht!

Vielleicht zum Schluss noch ein Wort zu der hier gelesenen Ausgabe. Wie oben bereits erwähnt, haben die »Wanderjahre« eine etwas komplizierte Publikations- und Redaktionsgeschichte: Es erschienen zu Goethes Lebzeiten zwei Fassungen, eine fragmentarische 1821, die notwendig wurde durch die Pustkuchensche Fortsetzung der »Lehrjahre« (ebenfalls 1821), und eine umgearbeitete und erweiterte 1829, die heute die Grundlage der meisten Ausgaben bildet. Allerdings hatte Goethe Eckermann gegenüber erwähnt, dass die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829 in der Hauptsache aufgenommen worden seien, um den Umfang des jeweiligen Bandes abzurunden. Eckermann hat sich daher später entschlossen, die Spruchsammlungen wieder aus den »Wanderjahren« herauszunehmen, eine Praxis, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die meisten Herausgeber gefolgt sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Redaktion der Ausgabe von 1829 eher flüchtig war und so ungewollt einige zusätzliche Brüche und fehlende Anschlüsse produziert hat. Natürlich bringt die Münchner Ausgabe, die seit einigen Jahren meine Brotausgabe der Werke Goethes ist, die »Wanderjahre« vollständig in beiden Fassungen. Doch wenn man nicht die Geduld aufbringen möchte, den Text gleich zweimal zu lesen, so bietet die Ausgabe bei Reclam so etwas wie eine integrale Fassung der beiden Versionen und ergänzt einige der aus der Ausgabe von 1829 herausredigierten, zum Verständnis aber notwendigen Teile.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. RUB 7827. Stuttgart: Reclam, 1982/2002. Broschur, 565 Seiten. 9,60 €.

Theodor Fontane: Effi Briest

Man hat wieder mal gelernt: aufpassen.

Fontane_EffiMeine Lektüregeschichte zu »Effi Briest« ist lang und etwas kompliziert: Es ist der erste Roman Fontanes, den ich überhaupt gelesen habe – es muss 1981 gewesen sein – und ich war bei meiner erste Lektüre alles andere als angetan. Ich war damals – beeinflusst durch die intensive Lektüre Arno Schmidts und das langsame Erobern des »Ulysses« – ein sehr formaler Leser und hatte zugleich vom 19. Jahrhundert kaum mehr als eine Ahnung. Von daher erschien mir Fontane in der Hauptsache als ein laxer, unordentlicher Erzähler, der wenig um das Gerüst bzw. die Konstruktion seiner Erzählung gab. Während des Studium begriff ich dann langsam, um was es Fontane beim Erzählen dieses Romans gegangen war und lernte von den scheinbaren formalen Schwächen abzusehen.

Noch später dann verwendete ich »Effi Briest« als Gegenfolie zu Arno Schmidts sogenannter Etym-Theorie, indem ich spaßeshalber bei dem auf den ersten Blick unverdächtigen Fontane den bewussten Einsatz von Etym-Techniken nachwies, also Schmidts Rede von der »4. Instanz« konterkarierte. Und mit der Zeit stellte sich Effi Briest dann endlich auch in die Reihe der berühmten literarischen Frauengestalten des 19. Jahrhunderts ein.

Wenn man nach einer solchen Lektüregeschichte von fünf oder sechs Lektüren aus didaktischem Anlass erneut zu einem Buch zurückkehrt, besteht immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird, dass die Faszination des Buches ausgeschöpft scheint. Doch auch diesmal hat sich Fontane als Erzähler bewährt.

Wie bekannt sein sollte, erzählt »Effi Briest« von Schicksal der zu Anfang 17-jährigen Titelheldin, die an einen mehr als doppelt so alten Mann, einen ehemaligen Bewerber um die Gunst ihrer Mutter verheiratet wird. Effi und Geert von Instetten passen nicht sehr gut zusammen oder, um nicht ungerecht zu sein, sie finden erst nach längerer Zeit die Ebene, auf der sie miteinander statt nebeneinander her leben können. In der Zwischenzeit aber hatte Effi aus Langeweile und Neugier eine kurze Affäre mit einem anderen Mann, die nicht nur gut sechs Jahre später ihre Ehe, sondern ihr gesamtes Leben ruinieren soll. Nach der Scheidung findet sich Effi gesellschaftlich isoliert, sogar zu ihrer eigenen Tochter findet sie keinen Kontakt mehr. Und, obwohl schuldig, endet ihr Leben tragisch: Zu unangemessen an ihren Fehltritt erscheint die Härte, mit der sie von ihrer Welt abgeschlossen wird. Selbst jenen, die ihr am nächsten standen, ihren Eltern und ihrem ehemaligen Ehemann, kommen Bedenken, aber auch ihnen fehlt eine wirkliche Alternative zu dem, was sie eben tun. Es tut ihnen leid, aber was soll man angesichts der Forderungen der Gesellschaft nach Moral und Gerechtigkeit anderes machen, als der Ungerechtigkeit nachgeben?

Daher müsste natürlich einmal gründlich über die Menschlichkeit der Fontaneschen Erzählungen geredet werden: Trotz der unbestreitbaren Ungerechtigkeit, die sich in Effis Schicksal manifestiert, ist keine der Hauptfiguren (vom Apotheker Gieshübler vielleicht einmal abgesehen) ganz schuldig oder ganz und gar unschuldig. Natürlich hätten sich sowohl Instetten als auch Effis Eltern anders verhalten können und sollen, als sie es getan haben, aber Fontane bleibt misstrauisch gegenüber solchen moralischen Anforderungen an das Individuum. Auch nützt es wenig, Effi oder Crampas anzuklagen; die eine, weil sie keine wirkliche Chance hat, sich der Verführung zu erwehren (I can resist everything except temptation.), den anderen, weil er eben auch nur seiner Natur folgt und sich jederzeit über die möglichen Folgen im Klaren ist, die er resignierend in Kauf nimmt. Und so geschieht hier das Böse ohne die Bösen (den Bösen waren wir schon in Goethes Faust losgeworden). Niemand, den man nicht verstehen könnte, der nicht seine Gründe hätte, sich erst einmal um sich und erst später um die Folgen für die anderen zu kümmern. Es gehört zu den besten bei Fontane zu findenden Einsichten, wie ganz obenhin, gedankenlos und zugleich unausweichlich die Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft entsteht.

Darüber hinaus ist mir bei der jetzigen Lektüre deutlicher als zuvor die motivische Dichte des Romans aufgefallen: Überall finden sich Ehebrühe oder außereheliche sexuelle Beziehungen, ständig wird der Leser daran erinnert, welche eine dünne Lackschicht die offizielle Moral bildet über einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Sexualität in den unterschiedlichsten Formen umgetrieben wird.

Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ – zu der Bemerkung hinreißen, »das Käthchen liege sehr gut da,« welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleich kam oder doch zu solcher hinüber leitete.

Es ist erstaunlich, wie subtil und dennoch nicht weniger deutlich Fontane die zentrale Bedeutung sexueller Verhältnisse zu thematisieren vermag, ohne dabei für die Leserinnen der Familienblätter, für die er in erster Linie schrieb, anstößig zu werden. Zugleich macht er klar, dass ihm die unverstelltere Behandlung des Themas in der zeitgenössischen Literatur durchaus bekannt ist:

… die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi, beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, »ob es denn wirklich so schrecklich sei,« habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem ›anderen‹ bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«

Ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist. Ich bin schon jetzt gespannt, wann ich wieder bei ihm vorbeikommen werde.

Theodor Fontane: Effi Briest. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15. Berlin: Aufbau Verlag, 1998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 534 Seiten. 25,– €.