Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel

978-3-257-06174-1 Ein mit 36 Briefen dünner Briefwechsel dieser beiden prominentesten Schweizer Autoren des vergangenen Jahrhunderts, den ich aus didaktischem Anlass wieder einmal aus dem Schrank geholt habe. Natürlich erklärt sich der geringe Umfang hauptsächlich daraus, dass Frisch und Dürrenmatt sehr vieles mündlich verhandelt haben bzw. sich später nur noch wenig zu sagen hatten. Man merkt beiden am Ende die gute Absicht an, mit der der jeweils andere nichts mehr anzufangen weiß. Dennoch waren sie wohl bis zum Schluss mit dem Gegenüber innerlich mehr beschäftigt, als es die äußerlich bleibenden Briefe ahnen lassen.

Daher ist das beinahe Wichtigste an dem Buch der umfangreiche Essay Fast eine Freundschaft des Herausgebers Peter Rüedi, der die Bekanntschaft der beiden Autoren sorgfältig aufarbeitet und darstellt. Rüedi hat zudem die einzelnen Briefe sorgfältig kommentiert, so dass das Bändchen eine Fülle von biografischen Materialien zu beiden Autoren liefert. Die Texte sind ergänzt um einige Brief-Faksimiles und Bilder sowie eine parallele Chronik zu beiden Autoren. Ein Personen- und Werkregister erschließt das Buch.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel. Hg. v. Peter Rüedi. Zürich: Diogenes, 1998. Leinen, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,90 €.

Gilbert Adair: Blindband

978-3-406-57225-8 Ein inhaltlich konventioneller Krimi, dessen Besonderheit einzig und allein in der nahezu durchgehend dialogischen Behandlung des Stoffes liegt. Der erfolgreiche Schriftsteller Paul ist vor vier Jahren bei einem Autounfall entstellt worden und hat beide Augen eingebüßt. Nun hat er sich aber entschlossen, doch wieder ein Buch zu schreiben, eine Art autobiografisch unterfütterten Essay, dessen Hauptgewicht auf der Erfahrung seiner Blindheit liegt. Er holt sich zu diesem Zweck eine Schreibkraft ins Haus, John, der sich – wie der Leser früh zu ahnen beginnt – als seine Nemesis erweisen wird. Es soll hier natürlich nicht zuviel verraten werden, um niemandem den Spaß an der Lektüre zu verderben.

Ich habe mich zur Lektüre verführen lassen, da das Buch von Thomas Schlachter übersetzt wurde, der die von mir hier sehr gelobten Wodehouse-Übersetzungen für die Edition Epoca gefertigt hat. Da ich aber kein Krimi-Leser bin und zudem der artifizielle Erzählstandpunkt mir doch eher brüchig vorkam, habe ich mich bei der Lektüre herzlich gelangweilt. Auch die abschließende Pointe kam mir sehr konstruiert vor.

Gilbert Adair: Blindband. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. München: Beck, 2008. Pappband, 239 Seiten. 18,90 €.

Lion Feuchtwanger: Die häßliche Herzogin

978-3-7466-5627-4 Auf eine Empfehlung hin als vorläufig letzten der historischen Romane Feuchtwangers gelesen. Auch sonst kommt nun erst einmal wieder ein anderer Autor dran und das nicht nur, damit dies hier nicht zu einem Feuchtwanger-Blog ausartet. Zudem fällt mir die Rezension dieses Mal ausgesprochen schwer, denn es ist kein richtig schlechtes Buch, so richtig gelungen ist es aber auch nicht.

Es beginnt damit, dass das Buch mehr eine historische Phantasie als einen historischen Roman liefert. Zwar werden die historischen Rahmenbedingungen im Großen weitgehend korrekt dargestellt, aber damit ist die Grenze auch schon erreicht. Es muss als Legende gelten, dass Margarete, Herzogin von Kärnten, ausnehmend hässlich gewesen sei, jedenfalls wissen die zeitgenössischen Quellen darüber nichts. Der Beiname Maultasch scheint überhaupt nicht auf die Körperbildung der Herzogin zurückzugehen, vielmehr scheint es sich dabei um gegnerische Propaganda gehandelt zu haben. Damit fällt zumindest schon einmal jeglicher Zusammenhang zwischen der von Feuchtwanger angesetzten Hässlichkeit der Herzogin und den tatsächlich geschehenen geschichtlichen Abläufen weg. Auch der den Großteil des Buches durchziehende Kampf der hässlichen Margarete gegen die schöne Agnes gerät so zur reinen Phantasie und muss ganz für sich selbst, ohne die Weihe der historischen Wahrhaftigkeit bestehen.

Hier aber kommt die bereits bei der Josephus-Trilogie angemerkte Schwäche in der Figurenentwicklung zum Tragen. Feuchtwangers Figuren mögen sich für die Bühne eignen, für einen Roman sind sie deutlich zu eindimensional und statisch. Alles an Maragrete und was sie tut, erklärt sich letztlich aus ihrer Hässlichkeit, der Frauenberger ist ein skrupelloser Intrigant und sonst eben gar nichts, der Schenna treu, Prinz Friedrich ein verantwortungsloser Hallodri usw. usf. Jede Figur bleibt in ihrem Muster, erfüllt brav die ihr zugedachte Funktion, aber keine einzige Figur hat wirklich Leben, changiert, wird ihrer Eintönigkeit selbst einmal müde oder gerät gar zu sich selbst in einen Widerspruch. Alle Figuren sind ordentlich, funktional und langweilig.

Zudem ist das Buch an einigen Stellen flüchtig und lieblos gearbeitet. So wird etwa das Giftfläschchen, das Margarete dem Frauenberger auf S. 181 in die Hand drückt, auf S. 179 eingeführt, und der darin befindliche »Saft« verwandelt sich auf S. 234 mir nichts dir nichts in ein »Pulver«. Da wird dem Sohn der Maragrete, Meinhard, wohl wegen des charakterisierenden Namens ein Siebenschläfer als Schmusetier beigesellt, von dem nicht nur wiederholt behauptet wird, es handele sich dabei um ein Murmeltier – das nun wieder einer ganz anderen Tierfamilie angehört –, sondern das auch sonst als Haustier denkbar ungeeignet ist:

Der Siebenschläfer wird verhältnismäßig selten in der Gefangenschaft gehalten. Es läßt sich von vornherein erwarten, daß ein so großer Fresser geistig nicht sehr befähigt sein, überhaupt nicht viele gute Eigenschaften haben kann. Sein Wesen ist nicht gerade angenehm, seine größte Tugend die Reinlichkeit; im übrigen wird er langweilig. Er befindet sich fortwährend in gereizter Stimmung, befreundet sich durchaus nicht mit seinem Pfleger und knurrt in eigenthümlich schnarchender Weise jeden wüthend an, welcher sich erfrecht, ihm nahe zu kommen. Dem, welcher ihn ungeschickt angreift, beweist er durch rasch aufeinanderfolgende Bisse in sehr empfindlicher Weise, daß er keineswegs geneigt sei, sich irgendwie behelligen zu lassen. Nachts springt er wie rasend im Käfige umher und wird schon deshalb seinem Besitzer bald sehr lästig. Er muß auf das sorgfältigste gepflegt, namentlich gefüttert werden, damit er sich nicht durch den Käfig nagt oder einen und den andern seiner Gefährten auffrißt; denn wenn er nicht genug Nahrung hat, geht er ohne weiteres andere seiner Art an und ermordet und verzehrt sie ebenso ruhig wie andere kleine Thiere. Auch die im Käfige geborenen Jungen sind und bleiben ebenso unliebenswürdig wie die Alten.

Brehms Tierleben (1882 ff.)

Solche Patzer sind ärgerlich und mit ein wenig Sorgfalt und Recherche vermeidbar.

Wer sich nur für die geschichtlichen Abläufe des 14. Jahrhunderts im Großen interessiert, findet ein ganz nettes Lesebuch; mehr sollte man aber nicht erwarten.

Lion Feuchtwanger: Die häßliche Herzogin. Aufbau Taschenbuch 5627. Berlin: Aufbau, 72008. 270 Seiten. 8,95 €.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen

feuchtwanger_josephus_III Der dritte Band der Josephus-Trilogie. Das Buch ist zuerst 1942 in einer englischen Übersetzung erschienen, dann 1945 das deutsche Original. Der Roman verschärft die Tendenzen, die sich schon im zweiten Teil Die Söhne beobachten ließen: Der Autor kann mit seinem ursprünglichen Protagonisten Josephus Flavius nun noch weniger anfangen als bislang schon. So gerät das Buch zu einem historischen Roman über den Kaiser Domitian, in dem Josephus nurmehr eine Nebenfigur abgibt. Josephus ist zwar weiterhin mit dem Kaiserhaus schicksalhaft verbandelt, aber weder der Umfang der Anteile am Text, die ihm gewidmet sind, noch die darin geschilderten Ereignisse heben ihn wesentlich über andere Nebenfiguren in diesem Roman heraus. So erfahren wir etwa ausführlich vom Schicksal der Vestalin Cornelia, die im berauschten Zustand vom Privatsekretär des Kaisers beschlafen und deshalb einem jämmerlichen Tod zugeführt wird. Oder von Clemens und Domitilla, deren Söhne Domitian zu seinen Nachfolgern bestimmt hat, und die deshalb als störende Elemente in der Erziehung der Knaben beseitigt werden müssen. Oder von der Kaiserin Lucia, ihrem Einfluss, ihrer Macht und ihren Sym- und Antipathien dem Kaiser gegenüber. Usw. usf.

Feuchtwanger war diese Schwäche des Romans natürlich bewusst. Er hat versucht sie dadurch zu verschleiern, dass er die Josefs-Figur an Anfang und Ende des Romans prominent präsentiert – so wird seinem Tod das Schlusskapitel gewidmet, das deshalb auch wie angeklebt wirkt – und außerdem den Roman in zwei Teile gliedert, deren ersten er »Domitian« und deren zweiten er »Josephus« überschreibt. Erzählt wird über Joseph in etwa das folgende: Er sitzt daheim mit seiner neuen Familie, die er mit Mara gegründet hat und schreibt an seiner »Geschichte des jüdischen Volkes«. Er tritt nur selten in der Öffentlichkeit auf und lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben für einen Mann seines Ruhms. Aufgrund seiner prominenten Position unter dem Kaiser Vespasian ist er am Hofe aber nicht vergessen. Er nimmt am Besuch einer Delegation jüdischer Gelehrter aus Jabne beim Kaiser teil, bei der unter anderem erörtert wird, dass der Messias dem Geschlecht  Davids entstammen soll, was auch für Josephus zutrifft. Der Kaiser will nun alle Nachfahren Davids töten lassen, um sicher zu gehen, dass es keinen Messias wird geben können, fürchtet sich aber vor dem unsichtbaren Gott der Juden so sehr, dass er doch lieber darauf verzichtet. Stattdessen sucht er lieber eine Gelegenheit, Josephus zu verletzen, die er auch findet, als dessen Sohn Matthias ins Gefolge der Kaiserin Lucia eintritt und in die Affäre um die oben schon erwähnte Domitilla verwickelt wird. Dies liefert Domitian den Vorwand, Matthias ermorden zu lassen. Josephus überführt die Leiche des Matthias zur Beisetzung nach Judäa und verbringt den Rest seines Lebens dort. Mit über 70 lässt er sich noch einmal von nationalistischen Gefühlen hinreißen und wird von einer Gruppe römischer Soldaten beiläufig zu Tode geschleift.

Auch in diesem Buch zeigt sich wieder Feuchtwangers Desinteresse an Entwicklung oder Veränderung seiner Figuren. Domitian gleicht als Kaiser in seinen Befürchtungen und Motivationen weitgehend seinem Bruder und Vorgänger im Amt Titus, er reagiert nur bösartiger auf sie. Josephus ändert sich in den mehr als 50 Jahren, die die Trilogie umfasst, nicht – wie Feuchtwanger im Roman explizit schreibt –, sondern bleibt im Grunde derselbe eitle, von sich und seiner Sendung überzeugte Dummkopf, der er von Anfang an ist. Das eigentliche Problem mit dieser Hauptfigur ist aber, dass sie die knapp 1.500 Seiten der Trilogie einfach nicht trägt. So wiederholt sich vieles und die soziale Dynamik der Figuren hat sich lange erschöpft, bevor der Leser den dritten Band erreicht. Was bleibt, ist ein Erzählen historischer Ereignisse, von denen sich einige ereignet haben mögen, die meisten aber sicherlich nicht. Insoweit bleibt die Trilogie am Ende eine Enttäuschung, gut zum Zeitvertreib, mehr aber nicht. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, für den genügt es, den ersten Band Der jüdische Krieg zu lesen und den ersten Teil dieses dritten Bandes.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen. Aufbau Taschenbuch 5604. Berlin: Aufbau, 32006. 439 Seiten. 10,00 €.

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P.S.: Was den Aufbau Verlag wohl dazu getrieben haben mag, ausgerechnet Catilina als Abbildung aufs Cover zu setzen?

Lion Feuchtwanger: Die Söhne

feuchtwanger_josephus_II Zweiter Teil der Josephus-Trilogie. Wie bei der Besprechung von Der jüdische Krieg bereits festgestellt, war das Werk ursprünglich nur auf zwei Bände angelegt. Ein Nachwort Feuchtwangers zu Die Söhne teilt dem Leser mit, dass der zweite Band bei Erscheinen des ersten bereits vollständig konzipiert und zu einem großen Teil auch geschrieben war. Diese Fassung und die zugehörigen  Materialien wurde bei der Plünderung von Feuchtwangers Haus im März 1933 – Feuchtwanger befand sich seit November 1932 im Ausland – durch die Nationalsozialisten vernichtet. Feuchtwanger schreibt weiter:

Den verlorenen Teil in der ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und Weltbürgertum, manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.

Ob das dem Roman gut getan hat, ist natürlich eine kaum zu entscheidende Frage. Allerdings ist das Buch recht handlungsarm und langatmig geraten. Es beginnt mit dem Tod Kaiser Vespasians (79) und erstreckt sich bis über den Tod Titus’ (81) hinaus in die erste Regierungszeit von dessen Bruder Domitian. Wie der Titel schon vorgibt, steht im Zentrum eines Großteils der Handlung der Kampf des Josephus Flavius um seine beiden Söhne: Simon, sein »jüdisches Kind«, das er zusammen mit seiner ersten Frau Mara gezeugt hat, und Paulus, dessen Mutter die Ägypterin Dorion ist, die den Knaben im Sinne der griechischen Kultur erziehen lässt und dem Joseph aus einem Rachebedürfnis heraus entfremdet. Joseph kämpft um seinen Sohn Paulus, in dem er sein Ideal des jüdisch-griechischen Weltbürgers zu verwirklichen sucht, indem er ein Adoptionsverfahren anstrengt. Als er die Gunst des Kaisers Titus für sich erlangen kann, gewinnt er den Prozess, gibt den nun rechtlich unter seiner Obhut stehenden Jungen aber seiner Mutter zurück, als er begreift, wie unglücklich er ihn durch die Trennung von Mutter und Lehrer gemacht hat. Unterdessen ist der etwas von Joseph vernachlässigte Simon bei einem jugendlichen Kampfspiel verunglückt und ums Leben gekommen.

Dann kehrt Joseph nach Judäa zurück. Hier trifft er seine erste Frau Mara wieder, und es gibt eine ganze Menge Gerede um die jüdische Sekte der Christen und den Fortbestand des Judentums überhaupt. Josephus wird für eine Weile in die lokalen religiös-politischen Streitigkeiten verwickelt, entschließt sich dann aber überraschend, Mara wieder zu heiraten und nach Rom zurückzukehren, um endlich mit seiner großen Geschichte des jüdischen Volkes zu beginnen. Das Buch endet mit einer durch Domitian inszenierten öffentlichen Demütigung Josephs, die ihn für immer von seinem Sohn Paulus zu trennen scheint.

Der offensichtlichste Mangel des Buches ist wohl, dass Feuchtwanger ein ausreichend gewichtiger Handlungsfaden fehlt: Während in Der jüdische Krieg der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen das Unterfutter für eine Art von Entwicklungsroman Josephs lieferte, fehlt eine solche grundierende Fabel diesmal. Das Buch erschöpft sich daher über weite Strecken darin, zwischen einzelnen Figuren und Schauplätzen hin und her zu springen, ohne dass der Leser einen Eindruck davon bekäme, wo das ganze hinaus will. Der Charakter des Josephus bleibt weitgehend statisch; der Entwicklungsroman wird nicht fortgesetzt, man hat den Eindruck, dass der Autor selbst nicht so recht weiß, was er mit seinem Protagonisten anfangen soll. Dafür treten ideologische Aspekte stark in den Vordergrund: Es wird an einer breiten Zahl von Fällen erörtert, wie Isolationismus der Juden und Vorurteile der Nichtjuden einander bedingen und verstärken, so dass auch der Gutwilligste unfähig bleibt, die Schranken zu überwinden. Allerdings ist derlei höchstens ausreichend für eine Kurzgeschichte und trägt keinen Roman.

Insgesamt ein Buch, das sich nicht recht entscheiden kann, was es nun eigentlich erzählen will, deshalb viele Versuche und nur wenig wirklich Gerundetes enthält.

Lion Feuchtwanger: Die Söhne. Aufbau Taschenbuch 5603. Berlin: Aufbau, 32006. 527 Seiten. 10,00 €.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, …

genazino_frau … ein Roman. Erzählung einer Jugend: Der 17-jährige Ich-Erzähler, der wegen schlechter Leistungen aus dem Gymnasium geflogen ist, beginnt eine Doppelkarriere als kaufmännischer Lehrling und freier Mitarbeiter einer lokalen Tageszeitung. In beiden Branchen bewährt er sich gut und steigt rasch auf; er hat ein sexuelles Abenteuer, trennt sich von seiner langjährigen Freundin Gudrun, der er ausgiebige literarhistorische Vorträge zu halten pflegt, verliebt sich ein wenig in die Journalistin Linda, die aber leider Selbstmord begeht, bevor es zu irgendwelchen Geständnissen kommen kann, erkennt, dass er anders ist als andere Menschen, zieht daheim aus und in ein Appartement ein, entschließt sich, vorerst nicht hauptberuflich Journalist zu werden, und wird derweil ein wenig erwachsen.

Ein erzählerisch recht schlichtes Büchlein, das aufgrund seiner zwar einfachen, aber treffsicheren Sprache durchaus angenehm zu lesen ist. Viele der verarbeiten Motive bleiben zufällig, ebenso wie die ganze Geschichte einen eher beliebigen Eindruck macht. Alles in allem ist mir der Protagonist fremd geblieben, sowohl in seiner intellektuellen als auch in seiner emotionalen Verfasstheit. Aber derlei ist am Ende natürlich eine Frage des Geschmacks.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. dtv 13311. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. 160 Seiten. 8,90 €.

Markus Werner: Festland

Virtuose Erzählung, die drei Zeitebenen miteinander verbindet. Protagonistin und Erzählerin Julia hat gerade ihr Studium abgeschlossen und ist anschließend in eine depressive Verstimmung geraten. Aus dieser befreit sie ein Anruf ihres Vaters, zu dem sie nur wenig Kontakt hat. Aufgewachsen ist sie nach dem Freitod ihrer Mutter bei den Großeltern, die den unehelichen Vater vom Leben Julias ferngehalten haben. Nun ist Julia aber neugierig auf die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Zeugung. Sie sucht daher ihren Vater auf und findet diesen ebenfalls von einer Depression befallen. Der Vater erzählt seiner Tochter nun die Geschichte seiner unerwiderten Liebe zu Lena, Julias Mutter, aus der Julia als Kind eines einzigen Beischlafs hervorgegangen ist. Als dritte Zeitebene tritt der eigentliche Erzählzeitpunkt hinzu, zu dem sich Julia im Haus ihres Vaters im piemontesischen Orta aufhält. Auf dieser Ebene wird von der Trennung Julias von ihrem Geliebten Josef, einem Mediziner, erzählt.

Mit Orta und dem nahen Sacro Monte di Varallo geraten die beiden scheiternden Liebesbeziehungen des Buches unvermittelt in die Nähe der gescheiterten Liebe Nietzsches zu Lou Andreas-Salomé. Dabei lassen sich nicht ohne weiteres allegorisierende Parallelen ziehen, sondern der Ort und die beiden Spiegelfiguren Andreas-Salomé und Nietzsche dienen eher als Vexierbild der erzählten Ereignisse.

Der Text präsentiert einen souveränen und artistischen Erzähler, dem es ohne große Schwierigkeiten gelingt, seine im Grunde recht simple Liebesgeschichte nicht nur durch eine komplexe Erzählstruktur anzureichern, sondern ihr durch die literarisch-biographische Unterfütterung zudem einen auf Anhieb interessanten assoziativen Hallraum mitzugeben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht erweisen könnte, dass hier letztlich die Trivialität – die ja wesentlich diejenige des Stoffs ist – mehr verschleiert als gehoben wird. Es mag aber auch sein, dass diese reklamierte Differenz am Ende nicht nachweisbar sein wird.

Markus Werner: Festland. dtv 12529. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 42003. 142 Seiten. 8,– €.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg

feuchtwanger_josephus_I Der erste Roman einer Trilogie, in deren Zentrum der jüdisch-stämmige Historiker Josephus Flavius steht. Der erste Band umfasst in etwa fünf Jahre vom ersten Besuch Josefs in Rom noch unter der Herrschaft Neros bis zu seiner Rückkehr dorthin unter dem Kaiser Vespasian. In der Zwischenzeit hat er eine erstaunliche Karriere hinter sich gebracht: Vom jüdischen Rebellenführer im Kampf gegen die römische Besatzungsmacht Judäas über die Gefangenschaft bis zum offiziellen Kriegsberichterstatter des jüdischen Krieges und persönlichen Berater des Kaisersohns Titus. Am Ende des Romans ist aus dem jungen jüdischen Juristen ein kompletter Außenseiter geworden: Die jüdischen Gemeinden Jerusalems und Roms feinden ihn an und das römische Bürgerrecht, das er sich für einen hohen Preis vom Kaiser hatte erwerben müssen, um seine Geliebte heiraten zu können, erscheint als eine Äußerlichkeit, der keine soziale Gemeinschaft entspricht.

Der Roman konzentriert sich auf einige wenige »große Figuren« der Zeit, wobei deren Motivationen nicht immer ganz zu überzeugen wissen. Auch die konkreten politischen Vorgänge – so etwa die Ausrufung Vespasians zum Kaiser – bleiben eher schemenhaft. Auch der Alltag der »kleinen Leute« in Rom und dem Nahe Osten bleibt bis auf einzelne Schilderung der Unterschiede zwischen jüdischen und römischen Haushalten eher blass. Sehr überzeugend sind dagegen die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, deren Beschreibung sicherlich den Höhepunkt des Buches bilden.

Die Entwicklung des Protagonisten hebt sich recht positiv von der Darstellung der anderen Figuren ab: Josef Ben Matthias beginnt seine Karriere als ein hoch begabter, aber auch etwas selbstverliebter junger Mann, der erst langsam lernt, dass seine Handlungen neben den erwünschten auch unerwünschte und von ihm unvorhergesehene Konsequenzen zeitigen, dass sein Konzept des »Vernünftigen« durchaus nicht von allen seinen Zeitgenossen geteilt wird und dass er schließlich weit öfter Getriebener als Treiber ist.

Das Ende des Buches macht deutlich, dass es nicht für sich steht, sondern eine Fortsetzung konkret geplant geplant war; allerdings hatte Feuchtwanger wohl vorerst an einen, nicht zwei weitere Bände gedacht. Es hat sich dann so ergeben, dass die drei Bände der Josephus- zwischen 1931 und 1941 alternierend mit denen der Wartesaal-Trilogie entstanden sind. Die beiden Folgebände werden ebenfalls hier vorgestellt werden.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Aufbau Taschenbuch 5602. Berlin: Aufbau, 32006. 463 Seiten. 10,00 €.

Richard Ford: Die Lage des Landes

ford_lageDer dritte der Frank-Bascombe-Romane, erschienen im Jahr 2006, also 20 Jahre nach Der Sportreporter. Die Handlung spielt wieder einmal in einem Wahljahr, diesmal im Jahr 2000 vor dem Thanksgiving-Wochenende im November – diesmal also ein Herbst-Roman nach dem Oster-Wochenende und dem Unabhängigkeitstag. Der Wahlausgang (George W. Bush vs. Al Gore) ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, da das Ergebnis der Wahlen in Florida noch gerichtlich geklärt werden muss.

Frank Bascombe befindet sich einmal mehr in einer Umbruch-Phase seines Lebens. Er hat Sally, seine Geliebte aus Unabhängigkeitstag geheiratet, die ihn allerdings inzwischen für ihren Ex-Mann, den sie hatte für tot erklären lassen und der im Frühjahr 2000 unvermutet wieder aufgetaucht war, verlassen hat. Frank leidet unter Prostata-Krebs, der mittels radioaktiver Titan-Kügelchen behandelt wird. Der Krebs lässt Frank ernsthaft über seinen Tod nachdenken; außerdem fürchtet er, impotent zu werden. Während der Zeit seiner Krankheit hat ihn seine Tochter Clarissa betreut; zu seinem Sohn Paul hat er ein eher gespanntes Verhältnis – die beiden scheinen sich nicht recht zu verstehen. Und um die private Verwirrung komplett zu machen, macht ihm nicht nur seine Ex-Frau Ann einen überraschenden Heiratsantrag, sondern er erhält auch einen Brief von Sally, die ihm mitteilt, dass ihr Ex-Mann inzwischen tatsächlich verstorben ist. Geschäftlich geht es Frank aber gut: Er hat sich als Makler selbstständig gemacht, hat sogar einen Angestellten, der aber gerade Ambitionen entwickelt, sich ebenfalls auf eigene Beine zu stellen. Außerdem ist er von Haddam nach Sea-Clift, direkt am Atlantik, umgezogen, wo er in Sallys altem Haus lebt.

Insgesamt ähnelt das Buch sehr stark den beiden Vorläufer-Bänden. Wieder beherrscht das breite, aber nicht sehr tiefgehende Raisonnement Franks den Text. Wieder ist seine individuelle Vergangenheit der Anker dieses Sinnierens über Gott und die Welt. Wieder geht es um Amerika, Toleranz, die politische und wirtschaftliche Zukunft, aber eben zugleich auch um die persönliche Lage, die Ängste, die Hoffnungen, Sehnsüchte und Schwächen des Protagonisten. Die sich schon in Unabhängigkeitstag andeutende Zunahme von Gewalt wird in dieser Fortsetzung noch einmal verschärft; ganz nebenbei wird auch das Thema des Terrorismus angeschnitten und durchgespielt. Und die das Buch beschließende Pointe kommt so unerwartet, dass sie hier verschwiegen werden muss.

Ich habe diesmal die Übersetzung mit dem Original abgeglichen, da der deutsche Text von Frank Heibert weniger glatt erscheint als der der beiden anderen Bände. Alle auffälligen Stellen hielten einem Vergleich aber ohne weiteres stand; allerdings sollte erwähnt werden, dass die deutsche Übersetzung mit etwa 1.500.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) 20 % mehr Text enthält als das englische Original. Das ist eine recht hohe Quote für eine Übersetzung und macht das Buch wohl behäbiger, als es sein müsste. Ich kann aber keine konkreten Vorschläge machen, was man wie hätte anders und kürzer fassen können.

Eine gelungene und runde Fortsetzung. Ob es den Abschluss der Bascombe-Reihe darstellt, bleibt offen. Vielleicht ist es aber nicht gut, die drei Bände so rasch hintereinander zu lesen, wie ich das getan habe, denn besonders zu Anfang des dritten Bandes ist mir Frank Bascombe ein wenig auf die Nerven gegangen, was er sicherlich bei persönlicher Bekanntschaft auch tun würde. Aber das kann man dem Autor kaum vorwerfen, da er sich für die Trilogie immerhin 20 Jahre Zeit gelassen hat.

Richard Ford: Die Lage des Landes. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin: Berlin Verlag, 2007. Pappband, 681 Seiten. 24,90 €.

Zum Tod von Gert Jonke

Höhepunkt und Abschluß des Programmes bildete der sogenannte »Seiltanz«. Die tüchtigen zwei Gehilfen hatten schon vor Beginn der Veranstaltung ein Seil von der Spitze eines Baumes über den Dorfplatz zur Spitze des gegenüberstehenden Baumes gespannt, etwa acht Meter (!) über dem Boden. Der Künstler stieg auf den Baum, erreichte die Höhe des Seiles, stellte sich regelrecht auf das Seil und begann, langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, am Seil in der Luft (!) den Dorfplatz zu überqueren. Der Ast des einen Baumes, an dessen Spitze das Seil angebunden war, wurde durch das Gewicht des Künstlers so stark belastet, daß er brach, und das Seil mit ihm zu Boden sauste.

Der Künstler hatte sich zu diesem Zeitpunkt in der Luft über dem Brunnen befunden, und unser Meister fiel auf solche Art und Weise vom Himmel, daß – keiner hätte es auch nur im entferntesten für möglidi gehalten – sein Rücken genau auf der Stange der Brunnenwinde aufkam, und dadurch seine Wirbelsäule genau in der Mitte (!) entzweibrach, so daß sein Körper vollkommen abgeknickt über dem Brunnen baumelte. Die Leute waren begeistert, bedankten sich mit enthusiastischem Applaus und brachen in frenetische Beifallskundgebungen aus. Allgemein bewundert und auf lebhafteste Weise diskutiert und kommentiert wurde auch die stille Bescheidenheit und Zurückhaltung des Künstlers. Endlich wieder einmal einer, der es kraft seiner edlen Herzensbildung, seiner ergreifenden Lebensweisheit und seines trefflichen und hintergründigen Humors nicht nötig hat, jenen linksfreundlichen, negativen, modernistischen Tendenzen zu huldigen, mit Hilfe derer gewisse subversive Elemente unter dem verhängnisvollen und falschen Deckmantel »Kunst« die natürliche Ordnung, die gesunde Disziplin und das einfache Empfinden der Bevölkerung untergraben möchten; aber es wird nicht gelingen, denn, wie wir sehen, es gibt noch Leute mit Rückgrat und Charakter, die dem Publikum aus tiefster Seele sprechen, das Herz auf dem rechten Fleck haben und wissen, wo der Pfeffer wächst, und wo man die Kirschen holt. Es muß unbedingt auch noch erwähnt werden, daß der Künstler sein Programm vollkommen frei aus dem Kopf (!), auswendig und ohne die Verwendung einer Vorlage bewältigte, was einmalig dastehend auf einsamer Höhe eine kolossale und geradezu phänomenale Gedächtnisleistung darstellt.

Gert Jonke
Geometrischer Heimatroman