Spieglein, Spieglein …

Im Prisma der Rubrik Wissenschaft/Technik des SPIEGEL 41/2010 (S. 164) findet sich die folgende Kurzrezension:

PHILOSOPHIE

Weise Reise

Sind weise Menschen glücklicher als andere? Was ist eigentlich Weisheit? Und wie wird man selbst weise? In ihrem Buch „Oma Hilde, Sokrates und der Dalai Lama“ begibt sich die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe auf die Spuren weiser Menschen, um grundsätzliche Fragen des Lebens zu ergründen. Der Autorin gelingt es, dem altmodisch anmutenden Begriff Weisheit mit frischem Leben zu füllen. Weise wird man durch die Lektüre sicher nicht. Spaß macht sie trotzdem.

Als hätte er diese Meldung vorausgeahnt, hat Georg Christoph Lichtenberg vor über 200 Jahren folgendes über den Spiegel und seine Beziehung zur Weisheit geschrieben:

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen. Wir haben keine Worte mit dem Dummen von Weisheit zu sprechen. Der ist schon weise der den Weisen versteht.

Dennis Lehane: Shutter Island

978-3-548-26194-2An den Haaren herbeigezogener Psychothriller mit einem unzuverlässigen personalen Erzähler. Die erzählte Fabel ist bis ins Detail zu unwahrscheinlich und unausgegoren, um sie hier nacherzählen zu müssen. Ich hatte überhaupt nur zu dem Buch gegriffen, da von Lehane die Romanvorlage zum Film »Mystic River« stammt, der mir gut gefallen hat. Ich hätte eben auf meine Instinkte hören und zurückzucken sollen, als ich auf der Rückseite des Buches geschrieben fand, das Buch sei »für jeden anspruchsvollen Thriller-Fan ein Muss« und das Wort »genial« gleich noch dahinter angehängt. Wenn dies tatsächlich die Lektüre anspruchsvoller Thriller-Fans darstellt, was müssen sich dann wohl die armen ohne Anspruch zu Gemüte führen?

Dennis Lehane: Shutter Island. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. Ullstein Tb. 26194. Berlin: Ullstein, 2005. 365 Seiten. 8,95 €.

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung

978-3-492-25220-1Eine bildungspolitische Polemik gegen die Strukturreformen der Universitäten, der in sehr weiten Teilen zugestimmt werden kann. Liessmann zeigt die Schwächen der Hochschulreformen der letzten Jahre gründlich auf, kritisiert mit guten Gründen den Quantifizierungswahn bei der Beurteilung von Forschung und Lehre, der sich in völlig nichtssagenden Ranglisten manifestiert, die dann der Vergabe von Geldern zugrunde gelegt werden. Das Buch nimmt je länger, desto mehr an Fahrt auf und ist besonders im letzten Teil höchst vergnüglich zu lesen. Dass Liessmann selbst Universitätsprofessor ist und daher in weiten Teilen pro domo argumentiert, braucht einen nicht zu stören.

Mangelhaft bleibt das Buch im Wesentlichen aufgrund folgender Umstände:

1. Jedem Akademiker – gleich ob ehemalig oder aktiv – ist klar, dass sich eine ähnlich schmissige Kritik auch gegen jegliche andere Verfasstheit von Universitäten führen lässt. Wenn Liessmann etwa die heutigen Universitäten dadurch vorführt, dass er sie an den Blaupause des Humboldtschen Universitätsideals misst, so ist dagegen natürlich nur zu sagen, dass es niemals und zu keiner Zeit tatsächlich eine Universität gegeben hat, die diesem Ideal genügt hätte. Auch hat nie und nirgends je eine Studentenschaft existiert, die der Humboldtschen Vorstellung auch nur annähernd nahe gekommen wäre. In diesem Sinn bleibt Liessmanns Polemik beliebig.

2. Es ist immer billig, eine Polemik gegen bestehende Missstände zu schreiben, da die Polemik sich der wesentlichen Aufgabe konstruktiver Kritik entzieht. Die Polemik versucht nicht zu begreifen, warum sich die Dinge in einem Prozess befinden, sondern sie tut so, als sei das Überwundene erhaltenswert gewesen und als müssten wir nur dorthin zurück, damit alles in Ordnung ist. Liessmann weiß es als Universitätsprofessor, noch dazu einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, besser, sagt das aber nicht. Natürlich versuchen die Reformen, etwas zu leisten, was das alte System nicht leisten konnte. Und wie immer ist dieser Versuch als Teil des historischen Prozesses fehlbar. Aber auf exakt die gleiche Weise ist der durch die Reform überwundene Zustand entstanden und exakt deshalb wird er zurückgelassen. Es mag sogar so sein, dass der jetzige Zustand dem davor in wesentlichen Punkten unterlegen ist, er ist ihm aber in anderen auch überlegen, sonst würde er nicht existieren. Kritik – im Gegensatz zur Polemik – macht es sich zur Aufgabe, zuerst einmal zu begreifen, warum das Faktische entstanden ist, und macht dann Vorschläge, wie es sich verbessern lässt. Liessmann teilt nur aus, ohne eine andere Alternative anzubieten, als eine idealistische Berufung auf eine sehr vage Vorstellung von Aufklärung, die er noch dazu durch einen Nietzscheanischen Fleischwolf dreht. Das ist zwar witzig, bleibt aber substanzlos.

Wer etwa feststellt,

Fraglos könnte man für dieses zentrale Bestimmungsstück der Humboldtschen Universität, die Einheit von Lehre und Forschung, zeitgemäße Realisationsformen finden, die dem komplexen Organisationsgrad moderner Wissenschaften und den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen angemessen wären.

es dann aber bei diesem Satz belässt und auch nicht eine Silbe darüber zu sagen weiß, wie denn eine solch »zeitgemäße Realisationsform« aussehen könnte, bleibt bei aller intellektuellen Finesse letztlich am Stammtisch sitzen.

Unter den genannten Einschränkungen eine flotte und vergnügliche Lektüre für all jene Unglücklichen, die sich mit der akademischen Welt herumzuschlagen haben.

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Piper Taschenbuch 5220. München: Piper, 42010. 175 Seiten. 8,95 €.

Sophie von La Roche: Fräulein von Sternheim

Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim ist eines der Muster für die in Deutschland eher dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit. Es handelt sich um einen Briefroman, der nur hier und da von einem erzählerischen Rahmen durchbrochen wird. Allerdings ist die erzählerische Fiktion, der Roman biete Abschriften der Briefe der Protagonisten, nur wenig tragfähig, so dass der Leser rasch das Gefühl bekommt, die Autorin hätte auf diesen Rahmen besser ganz verzichtet.

Der Inhalt ist rasch skizziert: Die schöne, überaus tugendhafte und in bürgerlichem Geiste erzogene Sophie von Sternheim gerät nach dem Tode ihres Vaters in höfische Zirkel, wo sich nahezu augenblicklich mehrere Intrigen um sie herum entspinnen, die alle letztlich auf die Zerstörung ihrer Tugend und Ehre hinauslaufen. Natürlich verfällt Sophie einer der Intrigen, indem sie versucht, eine andere zu meiden. Sie wird in eine vorgetäuschte Ehe verstrickt, die sie letztendlich zwingt, Deutschland zu verlassen, findet am Ende aber doch zu jenem Mann, der sie aufrichtig liebt und glücklich macht.

So weit, so unerheblich. Das Buch ist für den heutigen Leser nur insoweit interessant, als es ein weiteres Dokument dafür ist, wie der Gegensatz von höfischer und bürgerlicher Sphäre zu Ende des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Dazu kann die Lektüre allerdings nach der angeblichen Hochzeit Sophies abgebrochen werden. Man glaube mir einfach, dass alles gut endet, der Böse bestraft wird und sich die bekommen, die von Anfang an füreinander bestimmt waren.

Soweit ich sehe, ist das Buch derzeit nicht im Druck, kann aber problemlos im Internet gefunden werden (z. B. bei zeno.org).

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (27)

I plainly tell all my readers, except half a dozen, this treatise was not at first intended for them; and therefore they need not be at the trouble to be of that number. But yet if any one thinks fit to be angry and rail at it, he may do it securely; for I shall find some better way of spending my time than in such kind of conversation.

John Locke

Jhumpa Lahiri: The Namesake

978-0-618-48522-2 Geschichte eines aus Calcutta stammenden, in die USA ausgewanderten bengalischen Ehepaars und seiner Kinder, in der Hauptsache des Sohnes Gogol, auf dessen Namen sich der Titel bezieht. Nachdem Gogol als erstes Kind der Gangulis geboren wurde, warten die Eltern auf einen Brief aus Kalkutta, in dem seine Urgroßmutter den Namen für das Kind mitteilt. Doch der Brief geht auf dem Postweg verloren, und da das Kind einen Namen braucht, damit es aus dem Krankenhaus entlassen werden kann, entschließen sich Ashima und Ashoke ihr Kind vorläufig Gogol zu nennen. Da Bengalen sowieso gewöhnlich zwei Namen haben, einen familiären Kosenamen und einen »ordentlichen«, machen sich die Eltern vorerst keine weiteren Gedanken.

Auf Gogol ist Vater Ashoke verfallen, da er selbst ein großer Verehrer Nikolai Gogols ist. An einer Stelle zitiert er den berühmten Ausspruch Dostojewskis: »We all came out of Gogol’s overcoat«, was für The Namesake auf ganz witzige Weise zutrifft, denn auch Der Mantel beginnt bekanntlich mit den Schwierigkeiten, einen Namen für den gerade geborenen Protagonisten zu finden.

Doch ansonsten ist Nikolai Gogol ein Nebenthema. In der Hauptsache dreht sich das Buch um das Nebeneinanderbestehen zweier Kulturen: Während Gogols Eltern versuchen, soweit wie möglich an ihrer bengalischen Kultur festzuhalten, wächst Gogol mehr und mehr in die US-amerikanische hinein. Seine Eltern, deren Freunde, die regelmäßig stattfindenden Reisen nach Kalkutta, das Essen, die Feste – von all dem entfremdet sich Gogol mehr und mehr. Aber der unverhoffte Tod des Vaters wird zu einem wichtigen Wendepunkt in Gogols Lebens.

The Namesake ist ein Entwicklungsroman, dessen Reiz nicht nur aus dem zugrundeliegenden Konflikt zweier Kulturen erwächst, sondern auch aus Lahiris ruhiger und distanzierter Erzählhaltung. Für einen Erstling ist der Roman erstaunlich abgeklärt und ausgewogen. Einzig Gogols Schwester Sonia bleibt als Figur ein wenig blass. Ansonsten eine rundum angenehme und intelligent unterhaltende Lektüre.

Jhumpa Lahiri: The Namesake. Boston, New York: Houghton Mifflin, 2004. Paperback, 291 Seiten. Ca. 10,– €.

Katja Lange-Müller: Böse Schafe

lange-mueller_schafe Ein weiteres Buch von Katja Lange-Müller mit einem Tiertitel. Diesmal bin ich nicht bis zu der Stelle gekommen, an der der Titel aufgelöst wird. Nachdem ich bislang nur kürzere Erzählungen der Autorin gelesen habe, die immer wenigstens das Epitheton »nett« verdient hatten, habe ich mich für diesen sogenannten Roman nicht erwärmen können: Die Ich-Erzählerin war mir aus den früheren Büchern nur zu bekannt und ihr Geliebter ist nicht nur maulfaul, sondern sobald er ihn aufmacht, bemerkt der Leser, dass es eine kluge Entscheidung der Autorin war, ihn zuvor den Mund halten zu lassen. Nachdem mich nach 55 Seiten – immerhin ein gutes Viertel des Buches – keine einzige Figur auch nur eine Spur interessierte und ich feststellte, dass es mir gänzlich gleichgültig geblieben war, wie die beiden Liebenden zu ihrem vorausgesagten Ende kommen, habe ich die Lektüre abgebrochen.

Katja Lange-Müller: Böse Schafe. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2007. Pappband, Lesebändchen, 205 Seiten. 16,90 €.

Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.

Hartmut Lange: Der Therapeut

lange_therapeut Im Rahmen der Vorbereitung für einen Vortrag über Geschichte und Begriff der Novelle habe ich zum ersten Mal auch Hartmut Lange gelesen, der sich von den lebenden deutschsprachigen Autor wahrscheinlich am intensivsten mit der Form auseinandersetzt. Der Therapeut enthält drei Texte, die alle in Berlin spielen und in deren Zentrum jeweils ein alleinstehender, älterer Mann steht. In allen drei Texten bleibt ein wesentliches Element vom direkten Erzählen ausgespart und lässt sich nur vage aus dem Erzählten erschließen.

So erzählt Der Hundekehlesee vom Berliner Kunstprofessor Wernigerode und seiner arabischen Lebensgefährtin Alima, die allerdings zu Beginn der Erzählung verschwindet oder bereits verschwunden ist. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto unklarer wird die Geschichte um Alima, so dass am Ende bezweifelt werden kann, ob es eine Beziehung zwischen Wernigerode und Alima überhaupt je gegeben oder Wernigerode sie sich nur eingebildet hat, ob Alima Selbstmord am Hundekehlesee begangen oder zu ihrer Familie nach Tunesien zurückgekehrt ist, oder ob Wernigerode sie gar umgebracht und die Tat mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hat.

Der von Der Hundekehlesee angeschlagene Ton setzt sich auch in den Erzählungen Der Therapeut und Die Kränkung fort, wenn diese beiden Erzählungen auch thematisch deutlich anderes gelagert sind. Insgesamt steht dieser Novellen-Band Langes klar in der Erzähltradition, deren hervorragende Protagonisten Heinrich von Kleist, dessen Erzählungen sich dadurch auszeichnen, dass sie umso unklarer werden, je genauer man sie anschaut, oder Franz Kafka sind. Alle drei Novellen Langes lohnen die Lektüre, nur darf man als Leser eben keine glatten und abgeschlossenen Texte erwarten.

Hartmut Lange: Der Therapeut. Drei Novellen. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 148 Seiten. 18,90 €.