Ron Powers: Mark Twain

Powers-Mark-TwainRelativ neue, umfangreiche Biographie Mark Twains, die von der Kritik zu Recht hoch gelobt wurde. Powers versteht es in den meisten Fällen, ein gutes Gleichgewicht zwischen detailverliebter Darstellung einzelner Ereignisse und dem Blick auf das große Ganze zu wahren. Er scheut sich nicht, Samuel L. Clemens auch mit seinen Schwächen und menschlichen Unzulänglichkeiten darzustellen (bewegend etwa die Stelle, an der Twain mit Schrecken begreift, dass seine Frau und seine Töchter immer in einer gewissen Furcht vor seiner Launenhaftigkeit gelebt haben), und stellt den Erfolg des Schriftstellers ebenso wie das Scheitern des Geschäftsmannes gleichrangig nebeneinander.

Clemens große Stärke als Schriftsteller war es, seine Person und seine Ansichten immer für mindestens ebenso wichtig zu halten wie die aller anderen und dabei zugleich – und dies ist der entscheidende Zusatz – weder sich noch die anderen zu ernst zu nehmen. Alles in allem ist Clemens wohl immer ein glücklicher Dilettant gewesen, der klug genug war, seinen Instinkten und, im richtigen Moment, einigen wenigen, guten Freunden zu vertrauen. Seine Geradlinigkeit und unverbildete Moralität – deren Grundlage, wie William Dean Howells so richtig bemerkte, eine unterschwellig Wut über den Zustand der Welt im Allgemeinen und der USA im Besonderen war – haben ihn zurecht zu einem umstrittenen US-amerikanischen Idol werden lassen. Mark Twain ist der Held des einfachen Mannes, ein Herkules des US-amerikanischen „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“

Es ist schade, dass diese kenntnisreiche und sehr gut lesbare Biographie bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

Ron Powers: Mark Twain. A Life. New York u.a.: Free Press, 2005. Kindle-Edition, 2163 KB, 737 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,40 €.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt

MacGregor-Shakespeares-WeltNeil MacGregor ist der Direktor des Britischen Museums und hat im Jahr 2011 mit seiner Kulturgeschichte „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ einen internationalen Bestseller geschrieben, die die Entwicklung der Zivilisation anhand ausgesuchter Artefakte aus dem Bestand des Museums nacherzählte. In ähnlicher Weise aufgebaut folgt nun ein Buch zur Zeit und der Welt Shakespeares, also der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Der Band ist reich illustriert und zeichnet in 20 Kapiteln anhand von Alltagsgegenständen und Druckwerken der Zeit ein durchaus weit gespanntes Panorama der englischen Kultur, Gesellschaft und Politik der Elisabethanischen und ersten Jahre der Jakobinischen Ära. Das ein oder andere Thema spielt bei Shakespeare nur indirekt eine Rolle, wobei MacGregor es versteht, auch die Blindstellen in Shakespeares Widerspiegelung seiner Lebenswelt in den Stücken interessant zu machen.

Das Buch versucht nicht, eine Shakespeare-Biographie zu liefern oder Shakespeares Stücke in irgendeinem erschöpfenden Sinne zu interpretieren (Interpretationen zitiert MacGregor klugerweise von Experten), es will nur die reichhaltige Verwebung der Stücke Shakespeares und der ihre Zuschauer (und ihren Autor) umgebenden Kultur an prominenten Einzelbeispielen aufscheinen lassen. Dies gelingt ihm ausgezeichnet. Das Buch ist als Einführung in die Welt Shakespeares und den Reichtum und die Offenheit seines Theaters bestens geeignet. Es macht Lust, sich mit der spannungsreichen und widersprüchlichen Kultur und Geschichte dieser Zeit, zu der Shakespeares Stücke nur ein Segment einer ganzen Reihe liefern, intensiver auseinanderzusetzen.

Erwähnt werden sollte auch, dass der Band nicht nur in sehr guter Qualität auf schwerem Papier gedruckt wurde, sondern bei einem Preis von knapp 30,– Euro auch mit einer Fadenheftung glänzt. Hätte man auch noch einige Druckfehler ausgemerzt (einer macht – in einer Bildunterschrift – aus dem gerade wieder einmal populären Gun-Powder-Plotter Guy Fawkes einen Guy Hawkes), wäre der Band ein Musterstück geworden.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: C.H. Beck, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 29,95 €.

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot

Merveille_HulotIch bin mir nicht sicher, wie bekannt in Deutschland Monsieur Hulot heute noch ist. In der Generation meiner Eltern gehörten Jacques Tatis Filme »Die Ferien des Monsieur Hulot« und »Mein Onkel« (der nach dem Gewinn des Sonderpreises der Jury in Cannes 1958 und des Oscars für den besten fremdsprachigen Film im Jahr 1959 immerhin als der am höchsten premierte Film aller Zeiten beworben wurde) zum allgemeinen kulturellen Unterfutter, so dass die meisten aus meiner Genration diese Filme noch kennen und schätzen gelernt haben. Wenn ich allerdings jungen Leuten von M. Hulot erzähle, ernte ich oft nicht mehr als verwunderte Blicke, dass es zu den Zeiten, als ich jung gewesen bin, überhaupt schon bunte Filme gegeben haben soll. Ich nehme an, das liegt daran, dass Tatis Filme vom Fernsehen nicht mehr wiederholt werden oder wenn, dann auf Arte oder wo.

In Frankreich scheint die Lage noch etwas günstiger zu sein, denn David Merveille legte 2010 mit Erfolg ein Bilderbuch vor, dessen ganzer Zauber sich nur dem eröffnet, der Tatis Filme und ihren Humor kennt, der in beinahe allen  Fällen übrigens ganz ohne Sprache auskommt und deshalb für ein reines Bilderbuch ideal geeignet ist. Der NordSüd Verlag hat nun eine Ausgabe für den deutschsprachigen Markt herausgebracht, die allen, die M. Hulot bereits kennen, ans Herz gelegt sei (jeder braucht mindestens zwei Exemplare: eins für sich selbst und eines zum Verschenken), und allen anderen ein Anlass sein soll, die ganz und gar wundervolle Welt Jacques Tatis zu entdecken!

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot. Zürich: NordSüd, 2013. Bedruckter Pappband (28,5 cm × 22 cm), Fadenheftung, 50 Seiten (unpaginiert). 14,95 €.

Thomas Fuchs: »Ein Mann von Welt«

Fuchs-Mark-TwainEine kleine, flott geschriebene, journalistische Mark-Twain-Biographie, die zum Einstieg gut geeignet ist. Fuchs kennt sich aus, belastet den Leser nicht mit allzuviel konkreten Daten und vermittelt alles in allem ein stimmiges Zeit- und Lebensbild. Ob es tatsächlich notwendig ist, dass Fuchs einen ebenso kurzen wie schiefen Abriss der Ursachen des Amerikanischen Bürgerkriegs liefert, darf bezweifelt werden, aber solche Ausreißer sind zum Glück die Ausnahme. Auch dass ein Autor nicht richtig Deutsch kann und kein Lektorat dem aufhilft – so sind zum Beispiel im Deutschen Schiff und Boot nicht synonym, und Prosa bedeutet auch nicht das, was Herr Fuchs damit meint –, muss heutzutage als der Normalfall angesehen werden. Abgesehen von diesen kleinen Schwächen kann das Büchlein zur Orientierung durchaus empfohlen werden.

Thomas Fuchs: »Ein Mann von Welt«. Eine Mark Twain Biografie. Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 221 Seiten. 14,95 €.

David Markson: Wittgensteins Mätresse

Weswegen vielleicht jetzt alles leicht in die Länge gezogen erscheint, oder sogar astigmatisch.

Markson_MätresseEin in vielerlei Hinsicht seltsames Buch: Es beginnt vielleicht damit, dass es, obwohl bereits 1988 in den USA erschienen und dort rasch als eines der Muster postmoderner Literatur gehandelt, erst jetzt auf Deutsch erscheint und das wohl auch nur, weil sich die Übersetzerin aus echter Begeisterung ohne Auftrag ans Übersetzen und sich persönlich für sein Erscheinen stark gemacht hat. David Marksons frühere Bücher (Krimis und Western) waren wohl auf Deutsch erschienen, aber in dem Moment, in dem Markson damit begann, Literatur ohne klares Genre zu schreiben, schien das Interesse auf deutscher Seite eingeschlafen zu sein.

Das Buch ist eine Variation der Endzeit-Robinsonade: Die Erzählerin Kate scheint der letzte Mensch auf Erden zu sein. Wie und weshalb es zum Aussterben der Menschheit, ja wahrscheinlich allen tierischen Lebens auf Erden gekommen ist, wird vernünftiger Weise verschwiegen. Kate hat von den USA aus, die Beringstraße querend, sich durch Asien nach Europa durchgeschlagen und ist auf demselben Weg auch wieder dorthin zurückgekehrt. Sie glaubt, vielleicht ein einziges Mal einen anderen Menschen, einmal eine Katze gesehen zu haben, bezweifelt aber wenigstens zeitweilig, dass ihrer Wahrnehmung auch eine Realität entsprach. Sie lebt nun an der Pazifikküste der USA in einem Strandhaus. Sie war einst Malerin (und hat deshalb in den großen Städten Europas in den berühmten Museen gelebt), verbringt aber ihre Tage nun offensichtlich hauptsächlich vor der Schreibmaschine, in die sie den vorliegenden Text tippt. Kate selbst geht davon aus, dass sie während ihrer Zeit in Europa eine Phase des Wahnsinns durchlebt hat, die sie aber jetzt hinter sich glaubt.

Es hat offenbar wenig Zweck, nach der Wahrscheinlichkeit einer solchen Konstruktion zu fragen. Ein Verschwinden allen tierischen Lebens auf Erden, zumindest an Land, würde auch den Untergang wenigstens der Blütenpflanzen unmittelbar nach sich ziehen. Da aber die Erzählerin auch weiterhin Rosen schneidet und Gemüse erntet, müssen wenigstens Insekten überlebt haben, die aber ohne ihre Fressfeinde unter den Wirbeltieren in wenigen Generationen zu einer solchen Plage geworden sein müssten, dass die Erzählerin sicherlich davon zu berichten wüsste. Die Realität der Fiktion ist also schon am Ursprungspunkt ihrer Erfindung äußerst brüchig. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass der Verlag im Waschzettel suggeriert, dass es sich bei der beschriebenen Wirklichkeit auch um ein Wahngebilde der Erzählerin handeln könnte. Eine solche Deutung scheint mir der Text aber eher nicht zu stützen.

Der gesamte Roman lebt einzig von dem einen Grundeinfall, eine Erzählerin zu erfinden, die niemanden mehr hat, dem sie erzählt, ja, die nicht einmal mehr selbst die von ihr erzeugte Erzählung nachliest, sondern ausschließlich noch erzählt, um die Zeit zu füllen. Es handelt sich um die letzte Zuspitzung des literaturtheoretischen Konzepts vom Erzählen als Mittel zum Überleben. Da die Essenz der Erzählung aber vollständig auf den Akt des Erzählens reduziert ist, gerät alles andere weitgehend beliebig: Formal könnte der Text statt 300 auch ebenso gut 3.000 oder 30 Seiten umfassen, inhaltlich ergibt sich aus dem ehemaligen Beruf der Erzählerin gerade noch ein Schwerpunkt bei Künstler-Anekdoten, aber ansonsten kreist das Buch ausschließlich um sich selbst. Da niemandem mehr erzählt wird, ist es auch völlig gleichgültig, ob das Erzählte irgend einer Realität entspricht, und da das Gedächtnis der Erzählerin nicht das beste zu sein scheint, geht alles wild durcheinander: Personennamen und Anekdoten werden frei miteinander kombiniert, Ereignisse aus dem Leben der Erzählerin immer wieder neu variiert, Tatsachen nach Laune erfunden, korrigiert, erneut verändert und widerrufen. Der Text ist nur noch Text und verfügt über keinerlei objektivierende Referenz mehr. Er ist daher auch gänzlich inhaltslos, reine Fiktion ohne jede weitere Funktion.

Da das Fundament dieses selbstverliebten Karussells alles in allem und trotz dem exzessiven Namedropping doch recht dünn ist, hat sich zumindest bei mir nach 100 Seiten zunehmend Langeweile eingestellt: Hat man einmal das Prinzip des erzählerischen Fleischwolfs durchschaut, wird es rasch fade, da es immer und immer wieder dasselbe Fleisch ist, das durchgedreht wird. Nicht besser wird es dadurch, dass der Autor eine recht eigentümliche Art akademischen Humors pflegt:

Was ich weiß, ist, dass Martin Heidegger einmal ein Paar Schuhe besaß, die in Wirklichkeit Vincent van Gogh gehört hatten, und die er anzuziehen pflegte, wenn er im Wald spazieren ging.

Ich habe übrigens keinen Zweifel, dass auch das eine Tatsache ist.

Da lacht der Philosophieprofessor!

Das Buch wäre in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Europa unter das Schlagwort »experimentelle Literatur« gefallen, und es bleibt ebenso äußerlich und weitgehend beliebig wie ein Großteil der damaligen Produkte. Wie meinte Arno Schmidt so richtig:

Wer ein Buch schreiben will, muß viel zu sagen haben: meistens mehr, als er hat.

In diesem Sinne.

David Markson: Wittgensteins Mätresse. Aus dem Englischen von Sissi Tax. Berlin: Berlin Verlag, 2013. Pappband, Lesebändchen, 336 Seiten. 22,99 €.

Jahresrückblick 2012

Wie bereits Ende letzten Jahres ein Rückblick auf die drei besten und die drei schlechtesten Lektüren des Jahres.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2012:

Echte Höhepunkte fehlten in diesem Jahr, insbesondere im Bereich der Neuerscheinungen, die ich gelesen habe. Vieles Gute, manches Ordentliche, aber nichts Außerordentliches war dabei. Daher fällt die Auswahl ein bisschen klassikerlastig aus:

  1. Herman Melville: Moby-Dick – auch nach vielen Durchgängen immer wieder ein Abenteuer.
  2. William Faulkner: Als ich im Sterben lag – da ich seit Jahren gern mehr Faulkner lesen würde, bin ich für die Neuübersetzungen bei Rowohlt sehr dankbar.
  3. Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde – eine beeindruckend dichte Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher im Peru der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2012:

  1. Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern – gänzlich überflüssige und unglaublich naive Gutmenschenfabel.
  2. Émile Zola: Der Traum – religiöse Schmonzette, stilistischer und inhaltlicher Ausreißer des Zyklus.
  3. Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!« – schlecht edierte und motivierte Sammlung vorgeblich jüdischer Witze.

 

Elizabeth Maguire: Fenimore

Daß auch Harry nur ein ganz normaler Mensch war, der es sich erlaubte, seinem Begehren nachzugeben, erfüllte mich mit einer Art erfürchtigem Respekt.

Maguire_FenimoreKleiner, etwas kitschig geratener Roman, der eine fiktive Autobiographie der US-amerikanischen Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson liefert, die man, obwohl zu Lebzeiten durchaus erfolgreich, heute wahrscheinlich kaum mehr kennen würde, wenn ihre Beziehung zu Henry James nicht Anlass zu ausgiebigem Klatsch bieten würde. Elizabeth Maguire liefert, wohl als Akt ausgleichender Ungerechtigkeit, eine Version aus der Sicht Woolsons.

Das Buch überzeugt nicht: Zwar fußt es auf einer offensichtlich gründlichen Kenntnis des Lebens und Werks Woolsons, doch wirkt es stilistisch bemüht und liefert eine erhebliche Menge von Plattitüden, die als Lebensweisheiten verstanden sein wollen. Literarische Peinlichkeiten wie die folgende sind nicht selten genug:

Die Füße gegen den Wind fest in die Erde gestemmt, betrachtete ich die uralten Steine von Stonehenge und bat sie, ihr Geheimnis preiszugeben. Doch es antwortete nur der Wind.

Aufgrund der Tatsache, dass ich weder das Original noch den anderen Roman der Autorin und auch nichts von Woolson kenne, kann ich nicht beurteilen, ob all dies Maguire zuzuschreiben ist oder es sich um einen Versuch stilistischer Imitation handelt. Dass auch das Deutsch der Übersetzerin nicht das beste ist, kann man oben am Motto ablesen. Wie es auch sein mag, schlecht bleibt es allemal.

Elizabeth Maguire: Fenimore. Aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen. dtv 13957. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Broschur, 256 Seiten. 9,90 €.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden

An den Haaren herbeigezogene Schauergeschichte von einem englischen Pärchen, das in Venedig (dessen Name an keiner Stelle fällt) einem psychopathischen Ehepaar in die Hände fällt. Wie für das Genre wohl üblich, passiert lange Zeit nichts, wohl um Spannung zu erzeugen (huuuuu). Antrieb für den ganzen Unfug ist natürlich Sex (oooooh), McEwan bleibt mit diesem dünnen Fähnchen aber so weit hinter etwa Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« zurück, dass zumindest ich mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören konnte. Wenigstens ist der Text kurz.

Von hier aus müsste man jetzt wahrscheinlich noch einmal »Am Strand« anschauen, um zu prüfen, ob die dort thematisierte Verklemmtheit tatsächlich die der Zeit und nicht die des Autors ist.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden. Aus dem Englischen von Michael Walter. detebe 21266. Zürich: Diogenes, 1985. Broschur, 189 Seiten. 8,90 €.

Herman Melville: Moby-Dick

Gott bewahre mich davor, jemals etwas zu vollenden. Dieses ganze Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Oh, Zeit, Kraft, Geld und Geduld!

Ein Buch, bei dem sich ein Rezensent bestenfalls blamieren kann! »Moby-Dick« ist zu unterschiedlichen Zeiten so unterschiedlich bewertet worden, dass zu vermuten ist, dass zukünftige Generationen sich köstlich über unsere Unfähigkeit amüsieren werden, diesen Roman einzuordnen. Und wahrscheinlich werden sie auch damit Unrecht behalten.

Dieses Buch, von dem sich Melville merkwürdigerweise einiges erhofft hatte, war ein grandioser Misserfolg und das vorläufige Ende seiner Karriere als Schriftsteller. Es wurde wenig gekauft, durchweg schlecht besprochen und schließlich zum Abenteuer- und Jugendbuch umgeschrieben. Erst nachdem die Moderne die erzählerische Tradition des 19. Jahrhunderts kräftig durchmischt hatte, konnte »Moby-Dick« entdeckt werden als das literarische Wagnis, das es gewesen war: die Geschichte von einem, der auszog in einem Meer von Wörtern ein literarisches Monstrum zu erlegen.

Erzählt, das dürfte wenigstens aus dem Fernsehen bekannt sein, wird die Geschichte des Kapitäns Ahab, der versucht, Rache an einem Wal zu nehmen, der ihm auf der letzten Walfang-Fahrt einen Unterschenkel amputiert hat. Der Erzähler Ishmael lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Ahab um einen Wahnsinnigen handelt, der die Gemeinschaft an Bord des Walfängers Pequod auf einen irrationalen Rachefeldzug einschwört und sie auf diese Weise schließlich ins Verderben führt. Moby Dick (merkwürdigerweise schreibt Melville den Namen im Titel mit Bindestrich, im Text dann durchgehend ohne; auch dies ein ungehobenes Rätsel des Buches) wird nicht nur Ahab töten, er versenkt mit einem Rammstoß auch die Pequod mit Mann und Maus, und nur der Erzähler überlebt, auf einem Sarg treibend, die Katastrophe. Soweit im Groben die Abenteuergeschichte.

Für Melville und seinen Erzähler aber geht die Reise der Pequod weit über dieses Abenteuer hinaus: Nicht nur liefert Melville die erste panoramatische Darstellung der Walfangindustrie des 19. Jahrhunderts, nicht nur erhebt er den Anspruch, die cetologische Literatur seiner Zeit zu einer klärenden Gesamtschau zusammenzufassen, nicht nur will er aus seinem Walfänger die Bühne Shakespeares machen, die die Welt bedeutet, die Fahrt der Pequod in den Untergang ist ohne Zweifel auch eine spirituelle Reise zu den Abgründen des Menschen und seiner verzweifelten Stellung in der Welt. Und damit ist noch gar nicht von der Ebene der politischen Allegorie die Rede oder von der praktizierten Toleranz in Glaubens- und Rassefragen, die Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war.

Das Buch ist sprachlich chaotisch und formal so unförmig, wie ein an Land gespülter Wal:

Den lebenden Wal in seiner ganzen Majestät und Bedeutung kriegt man nur auf See in unergründlich tiefen Gewässern zu Gesicht; und in schwimmendem Zustand ist der Großteil von ihm der Sicht vorenthalten wie bei einem vom Stapel gelassenen Linienschiff; und es ist eine Sache, die für den sterblichen Menschen auf ewig unmöglich bleibt, ihn aus jenem Element mit ganzem Leib in die Luft emporzuhieven und solchermaßen all seine mächtigen Ausbauchungen und wallenden Erhebungen festzuhalten.

Melville war sich im Klaren darüber, dass er ein Risiko lief, dass »Moby-Dick« ein Buch sein würde, wie es die Welt zwischen zwei Buchdeckeln noch nicht erblickt hatte. Er hoffte, dass wenigstens die fortschrittlicheren seiner Zeitgenossen ihm auf diesem Weg würden ein weniges folgen können. Doch er war ihnen in seiner Jagd nach dem, was der Literatur möglich sein könnte, zu weit voraus.

So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte welche ich Euch erzählt, Gentleman, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkt wahr. Ich weiß, daß sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich betrat das Schiff; ich kannte die Mannschaft […].

Es müssen noch ein paar Sätze zur Übersetzung gesagt werden: Bis vor acht Jahren lagen im Deutschen nur mehr oder weniger mangelhafte Übersetzungen des Buches vor, selbst wenn man einmal von den »für die heranreifende Jugend bearbeiteten« Ausgaben absieht. Die Übersetzer wussten es entweder besser als Melville, wie dieser Roman hätte geschrieben werden sollen, und griffen massiv in den Text ein, oder sie opferten zumindest auf dem Altar der Lesbarkeit und verflachten Melvilles vulkanische Sprache zu einer zumutbaren Einheitssauce, die sie zum halb verrotteten Wal servierten. Im Jahr 2004 erschienen dann gleich zwei Neu-Übersetzungen: die von Friedhelm Rathjen bei 2001 und die von Matthias Jendis bei Hanser (als Eröffnung einer Werkauswahl, die inzwischen ins Stocken geraten zu sein scheint). Der Text von Jendis verheimlichte nicht, dass es sich bei ihm um eine Bearbeitung der Rathjenschen Übersetzung handelte. Rathjen hatte seine Übersetzung nämlich im Auftrag des Hanser Verlages erstellt, doch der schließlich gefundene Herausgeber Daniel Göske war mit ihrer Radikalität nicht einverstanden. Nach langem Hin und Her einigten sich Übersetzer, Herausgeber und Verlag schließlich darauf, dass Friedhelm Rathjen die Rechte an seiner Fassung zurückerhalten und bei Hanser eine Bearbeitung dieser Übersetzung unter dem Namen des Bearbeiters erscheinen würde.

Im Endeffekt hat dies für den Leser den Vorteil, dass er sich seinen »Moby-Dick« heute aussuchen kann: Wer den ganzen Genuss des sprachlichen Abenteuers und der Gefahren und Stürme des Erzählens erleben will, greift zu Rathjens Text, wer seichtere und ruhigere Gewässer vorzieht, kauft die öligere Variante von Jendis. Wie sagte Friedhelm Rathjen jüngst bei anderer Gelegenheit so richtig: »Es gibt Bücher, von denen es gar nicht zu viele Übersetzungen geben kann.«

Herman Melville: Moby-Dick. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Fischer Tb. 90195. Frankfurt/M.: Fischer, 42012. Broschur, 927 Seiten. 12,50 €.

Neue Rundschau 2/2012: Moby-Dick

NR_2012-2_Moby-DickPünktlich zu meiner Wiederbeschäftigung mit »Moby-Dick« bringt die »Neue Rundschau« ein passendes Themenheft. Es präsentiert 12 Kommentare unterschiedlicher Autoren zu einzelnen Kapiteln des Romans als Auftakt zu einer ständigen Kolumne, die in den nächsten Jahren Kommentare zu allen 135 Kapiteln versammeln soll. Ein solches Kommentar-Projekt erscheint auf den ersten Blick wunderlich, aber natürlich bietet sich gerade »Moby-Dick« als Objekt für einen solchen Kommentar an, da für Melville die Kapitel offensichtlich ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Ordnungssystem des Romans darstellten. Die Einleitung bezeichnet das Projekt als einen »historisch-spekulativen Kommentar«. Nach der Lektüre der ersten Beispiele neige ich dazu, die gelieferten Texte nur bedingt als Kommentare, sondern vielmehr als Interpretationen aufzufassen. Selbstverständlich sind die Grenzen fließend, aber die Texte sind insgesamt deutlich mehr deutend als erläuternd. Doch dazu später noch ein paar Sätze.

Außer den sich sowieso aus dem hermeneutischen Zirkel ergebenden, hat ein solches Projekt offensichtlich mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Die erste resultiert aus der unterschiedlichen Länge der Kapitel, die zwischen 1 und 27 Seiten schwankt. Es besteht daher die Gefahr, dass der Interpret bei kurzen Kapitel zur Überinterpretation neigt, um eine angemessene Menge an Kommentar liefern zu können. Eine andere Gefahr besteht offenbar darin, dass übergreifende Motive oder weit von einander entfernte Stellen, die einander erhellen oder konterkarieren, unterbewertet oder übersehen werden könnten, wenn das die Interpretation hauptsächlich leitende Ordnungssystem die Kapitelstruktur ist. Auch ist die Kapiteleinteilung durch den Roman hindurch durchaus nicht gleichmäßig: Während manche Kapitel offensichtlich als für sich allein stehend konzipiert wurden, bilden andere ebenso offensichtlich Gruppen oder nähern sich dem Erzählfluss traditionellen Erzählens an. Aber nehmen wird zugunsten der Interpreten an, dass sie sich all der Schwierigkeiten im Großen und Ganzen ausreichend bewusst sind. Mildernde Umstände ergeben sich natürlich auch daraus, dass keine Interpretation der Weisheit letzten Schluss darstellen muss, sondern immer nur einen Versuch liefert, den Widerstand, den ein Text unserem Begreifen und Durchdringen entgegenstellt, zu überwinden oder wenigstens abzuschwächen.

Wie schon angedeutet, handelt es sich bei den Texten weniger um erläuternde Kommentare, sondern mehr um deutende Interpretationen. Dabei herrschen zwei methodische Zugriffe vor:

1. Der Interpret nimmt zu Melvilles »Moby-Dick« einen anderen Text oder Autor hinzu, den er auch gelesen hat, und schaut, was Melville und was der andere Autor so ungefähr gesagt haben und vergleicht dann miteinander. Bereits 1804 hat Jean Paul zu diesem Verfahren eine methodologische Einschätzung geliefert:

Ich berufe mich auf ihre zwei verschiedene Wege, nichts zu sagen. Der erste ist der des Parallelismus, auf welchem Reinhold, Schiller und andere ebensooft auch Systeme darstellen; man hält nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu konstruieren, an irgendeinen zweiten (in unserm Falle Dichtkunst etwa an Philosophie, oder an bildende und zeichnende Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z. B. sein würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die andere mehr die Arme, jene sich nur mehr in krummen, diese mehr in geraden Linien, jene für, diese gegen einen Menschen etc. Ins Unendliche reichen diese Vergleichungen, und am Ende ist man nicht einmal beim Anfange. (Vorschule der Ästhetik)

Seitdem hat die Methode unter dem Schlagwort Intertextualität extrem an Prominenz gewonnen.

2. Der Interpret sucht sich aus der Menge der im Kapitel vorhandenen strukturellen Merkmale ein oder zwei heraus, zu denen ihm ein Gedanke einfällt. Nun entwickelt er diesen Einfall über einige Seiten hinweg und zieht dabei alles heran, was in dem verhandelten Kapitel seinen Einfall irgendwie stützen könnte, und lässt alles fort, was darauf hinweisen könnte, dass sein Einfall zur Erhellung des Kapitels eher weniger beiträgt. Auch diese Methode begreift man besser am konkreten Beispiel.

So beschäftigt sich Ethel Matala de Mazza mit dem Kapitel 15 »Chowder« (Chowder ist eine Art Fischsuppe): Ishmael und Queequeg kehren, gerade in Nantucket angekommen, im Hotel »Trankessel« ein, das ihnen ihr Wirt in New Bedford empfohlen hat. Bereits das Wirtshaus-Schild weist auf eine Besonderheit dieser Herberge hin:

Zwei gewaltige hölzerne Kessel, schwarzgestrichen und aufgehängt an Eselsohren, schwangen von den Quersalings einer alten Bramstege, aufgepflanzt vor einem alten Torweg. (Übersetzt von Friedhelm Rathjen.)

Die beiden Kessel bilden fast so etwas wie die Speisekarte des Hotels, denn offenbar finden sich ihre metallenen Pendants in der Küche, so dass der Gast bei jeder Mahlzeit die Auswahl zwischen zwei Gerichten hat; im Fall von Ishmael und Queequeg heißt die Alternative »Miesmuschel oder Kabeljau?« Nun fällt der Interpretin bei der Lektüre folgendes auf: Der ganze erste Teil des »Moby-Dick« erzählt eine Abfolge von Entscheidungen Ishmaels, die unter immer enger werdenden Bedingungen schließlich dazu führen, dass er sich in eine Lage begibt, in der nicht mehr er selbst, sondern ein anderer, Ahab, für ihn die Entscheidungen trifft. Während ihm zu Anfang die ganze Welt offen zu stehen scheint, ist er mit dem Ablegen der Pequod einem Schicksal ausgeliefert, über das er nicht einmal mehr illusionär Herr ist. Frau Matala de Mazza möchte nun das Kapitel »Chowder« zu einem entscheidenden Gelenk in dieser Entwicklung machen, indem sie erklärt, hier habe Ishmael zum letzten Mal eine freie, wenn auch wenig relevante Wahl, während sein weiteres Vorgehen vom Schicksal, seinem Unbewussten oder was auch immer (die Interpretin mag sich da verständlicherweise nicht konkret festlegen) schon wesentlich beschränkt sei.

Nun ist natürlich die grundlegende Idee der Interpretin richtig und weist auf eine wichtige Struktur des Buches hin. Nur erzwingt der Einfall, dies gerade am Kapitel »Chowder« zeigen zu wollen, eine Missachtung des Textes, so wie Melville ihn geschrieben hat: Denn nachdem sich Ishmael im »Trankessel« zwischen zwei Gerichten entscheiden muss, stehen ihm nachher drei Schiffe für die Ausfahrt zum Walfang zur Auswahl. Melville hatte offensichtlich nicht den Einfall einer konsequent immer kleiner werdenden Anzahl von Möglichkeiten für Ishmael, sondern ihm genügte die allgemeinere Struktur. Frau Matala de Mazza dagegen muss die explizit auf zwei reduzierte Anzahl der Töpfe in der Küche des »Trankessels« ignorieren und von einer Vielzahl möglicher Fischgerichte faseln, um ihren Einfall zur Kommentierung des Kapitels 15 durchzusetzen. Ein solches Ignorieren vorhandener, aber im Gang der Interpretation störender Textstrukturen ist nahezu durchgängig zu beobachten.

Von dem Kollegen, der durch die Lektüre des »Moby-Dick« zu der Erkenntnis gekommen sein will, dass sich Pottwale von Krill ernähren und ähnlichem Unfug, der weder den Herausgebern noch den Redakteuren des Heftes hätte entgehen dürfen, will ich ganz schweigen.

Insgesamt eine Enttäuschung, die sich aber nahtlos in meinen allgemeinen Eindruck der deutschen Literaturwissenschaft einfügt. Ich werde das Projekt wenigstens in nächster Zeit weiter beobachten, denn man weiß ja nie …

Neue Rundschau, Jahrgang 123 (2012), Heft 2: Moby-Dick. Frankfurt/M.: Fischer, 2012. Broschur, 206 Seiten. 12,– €.