Bill Bryson: Sommer 1927

Charles Lindberghs Tournee war immer noch nicht beendet.

Bryson-1927Nachdem nun schon eine Zeitlang Jahreszahlen-Bücher beliebt zu sein scheinen, legt der erfolgreiche Sachbuchautor Bill Bryson mit „Sommer 1927“ ein erstes Jahreszeiten-Buch vor, wenn er auch dabei etwas mogelt und seinen Sommer auf fünf Monate streckt. Ich erwarte nun binnen Jahresfrist einen Tausendseiter von Peter Ackroyd, etwa über den 23. April 1616, also circa 500 Seiten für jeden der beiden Tage.

Nach den beiden materialreichen Bänden zur Wissenschafts- bzw. zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts – „Eine kurze Geschichte von fast allem“ und „At Home“ –  liefert Bryson mit „Sommer 1927“ eine US-amerikanische Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Der Sommer 1927 bildet dabei in der Hauptsache aus zwei Gründen den Schwerpunkt: zum einen dem Lindbergh-Flug über den Atlantik, zum anderen dem bis heute bestehenden Rekord des Baseball-Spielers Babe Ruth.

Ich muss gestehen, dass ich an diesem sehr auf ein US-Publikum zugeschnittenen Buch nur mäßig interessiert war, was aber gut an mir und nicht am Buch liegen kann. Weder interessiert mich eine aus­führ­li­che Darstellung der Geschichte des Baseballs, noch habe ich mein kind­li­ches Interesse an der Fliegerei über mehr als dreißig Jahre hinweg konservieren können. Auch der Boxsport, die Vita Al Capones oder Henry Fords konnten mich nicht gefangennehmen. Hinzukommt, dass die Übersetzung des Buches offenbar unter großem Zeitdruck ent­stan­den und stilistisch nicht immer rund geraten ist. Auch das un­durch­schau­ba­re Nebeneinander von metrischen und nichtmetrischen Längenangaben, die häufig nicht oder nur schlecht erklärten Be­grif­fe aus der Welt des Baseballs und nicht zuletzt die, auch was den Zeitrahmen angeht, umfangreichen Abschweifungen haben meine Unzufriedenheit wohl noch erhöht.

Alles in allem kein wirklich schlechtes Buch, aber verglichen mit seinen beiden Vorgängern für mich eine Enttäuschung.

Bill Bryson: Sommer 1927. Übersetzt von Thomas Bauer. München: Goldmann, 2014. Pappband, Lesebändchen, 639 Seiten. 24,99 €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung

O ja, ich war der reine Künstler aus der Romandichtung.

nabokov_werke_03Der letzte der von den Gesammelten Werken so­ge­nann­ten frühen Romanen Nabokovs, 1932 noch in Berlin auf Russisch verfasst, dann vom Autor selbst ins Englische übersetzt und 1965 für eine Neuausgabe noch einmal überarbeitet. Die Fabel bildet ein Kri­mi­nal­ro­man, der nach dem Vorbild eines tatsächlichen Falls von Versicherungsbetrug erfunden ist: Der rus­sisch­stäm­mi­ge Berliner Schokoladenfabrikant Hermann begegnet bei einer Geschäftsreise in Prag zufällig dem Landstreicher Felix, den er für seinen perfekten Doppelgänger hält. Diese – wie sich später erweist – wohl nur von ihm so empfundene Ähnlichkeit bringt ihn auf den Gedanken, er könne den Landstreicher umbringen, dessen Leiche für die seine ausgeben, seine Frau eine Versicherungsprämie kassieren lassen und sie später in Frankreich erneut unter der Identität seines Opfers heiraten.

Der Plan scheitert mustergültig: Nicht nur wird die aufgefundene Leiche nicht für einen Moment für die des Täters gehalten, Hermann ist auch sofort der Hauptverdächtige und hat sich zudem bei der Aus­füh­rung der Tat so dämlich angestellt, dass die Identität des Opfers und damit Hermanns Deck-Identität festgestellt werden und Hermann binnen kurzem in Frankreich festgenommen werden kann.

Diese im Grunde recht banale Handlung wird vom Ich-Erzähler Hermann nicht nur stark literarisch überhöht – der Text ist nicht nur penetrant mit Spiegel-, Traum- und Doppelungsmotiven durchsetzt, sondern weist auch zahlreiche, durchaus witzige poetologische Pas­sa­gen auf, in denen sich der Möchtegernautor Hermann etwa über seine Kollegen Dostojewskij und Turgenjew lustig macht und umfangreiche Überlegungen zum literarischen Schreiben anstellt.

Nabokov selbst macht in seinem Vorwort zur Neuausgabe von 1965 auf die Ver­wandt­schaft Hermanns mit Humbert Humbert aufmerksam: Auch er ist ein Täter, der über seine vergangene Tat schreibt, auch er tut dies aus der nachträglichen Perspektive desjenigen, dessen Tä­ter­schaft entdeckt worden ist, auch er erweist sich als ein unzuverlässiger Erzähler, der den Leser zuerst für sich einnimmt, so dass dem erst peu à peu klar wird, wem er sich eigentlich gegenübersieht. In „Lolita“ ist dies alles allerdings um mehrere Stufen subtiler gemacht; „Ver­zweif­lung“ wirkt für den späteren Leser daher wie ein satirischer Vor­ent­wurf, was es natürlich nicht sein kann, da Nabokov 1932 im besten Falle eine vollständig unbestimmte Ahnung von diesem späteren Meisterstück gehabt haben kann.

Insgesamt ein hübsch gemachter, gut lesbarer Roman, der schon viel vom späteren Meister erahnen lässt.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 273 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Es gibt keinen Weg, der uns aus diesem trostlosen Labyrinth herausführt.

Hawthorne_BuchstabeHanser legt einen der ersten nordamerikanischen Klassiker in einer neuen Übersetzung vor. Hawthornes romantische Erzählung war nicht nur beim Publikum ein kontrovers diskutierter Erfolg, sondern wurde auch von Schriftsteller-Kollegen gelobt. Für ein romantisches Schaustück war das Buch 1850 etwas spät erschienen; um den Text literarhistorisch richtig einzuordnen, muss man sich klar machen, dass nur sieben Jahre später Flauberts „Madame Bovary“ erscheint.

Erzählt wird die Geschichte Hester Prynnes, die ursprünglich mit einem älteren Gelehrten in England verheiratet war und von diesem in die jungen Staaten Nordamerikas vorausgeschickt wurde. Nachdem ihr Ehemann als auf See verschollen gilt, lässt sich Hester auf eine außereheliche Beziehung ein, aus der eine Tochter hervorgeht. Die Erzählung setzt damit ein, dass Hester mit ihrer Neugeborenen an den Bostoner Pranger gestellt wird; sie weigert sich aber auch dort, den Vater ihres Kindes zu benennen. Wie der Zufall und die Forderungen der romantischen Dramatik es wollen, trifft an jenem Tag, als Hester als Sünderin öffentlich zur Schau gestellt wird, auch ihr tot geglaubter Ehemann in Boston ein. Die Eheleute erkennen einander, doch der Ehemann sagt sich von Hester los und verpflichtet sie, sein Inkognito – er nennt sich jetzt Roger Chillingworth – als Geheimnis zu bewahren.

In den kommenden Jahren lebt Hester, die zur Kennzeichnung ihres Status als Sünderin ein rotes A auf ihrem Kleid tragen muss, ein Leben am Rand der Bostoner Gesellschaft und beschäftigt sich in der Hauptsache mit Näharbeiten und dem Aufziehen ihrer Tochter Pearl, die als ein etwas wundersames, wildes und naturnahes Kind dargestellt wird. Roger Chillingworth dagegen praktiziert als Arzt und befreundet sich mit dem kränklichen Priester Arthur Dimmesdale, von dem er auf nicht näher erklärte Weise weiß, dass dieser der Vater Pearls ist. Chillingworth, der in der Zeit, in der er verschollen war, bei den Indianern die Geheimnisse der Naturmedizin erlernt hat, hegt einen verborgenen Hass auf Dimmesdale und verlängert und verschlimmert dessen Krankheit, während er vorgibt, ihn zu behandeln.

Erst nach sieben Jahren entschließt sich Hester, dieser Quälerei ein Ende zu machen, indem sie Dimmesdale die Identität Chillingsworth’ verrät. Dimmesdale und Hester entschließen sich daraufhin, Amerika gemeinsam zu verlassen und in Europa ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Kurz vor der Abfahrt muss Hester allerdings erfahren, dass auch Chillingworth auf dem selben Schiff eine Passage gebucht hat, das Martyrium der beiden Liebenden sich also fortzusetzen droht. Doch am Tag vor der Abreise, am Tag der Gouverneurswahl, bekennt sich Dimmesdale vor der versammelten Bevölkerung Bostons zu seiner Vaterschaft und Sünde, bevor er in den Armen Hesters stirbt.

Man könnte nun meinen, dass diese Zusammenfassung der Fabel wesentliche Teile auslässt, aber ganz im Gegenteil ist es so, dass bis auf zwei, drei Episoden die Handlung des Buches damit vollständig beschrieben ist. Um aber die immerhin gut 320 Seiten zu füllen, scheint das etwas wenig zu sein, und so ist es auch. Hawthorne setzt zum einen eine mit der Erzählung nur sehr locker verbundene Einleitung von 60 Seiten vor die eigentliche Fabel, die aus der autobiographischen Skizze „Das Zollhaus“ besteht und Hawthornes Tätigkeit im Zollhaus von Salem und seine Entlassung aus diesem Dienst thematisiert. Nebenbei liefert diese Einleitung eine typisch romantische Herausgeberfiktion: Hawthorne behauptet, auf dem Dachboden des Zollhauses auf alte Notizen gestoßen zu sein, die die Geschichte Hesters erzählen und die Grundlage seines Buches liefern. Zum anderen kann man Hawthorne den Vorwurf der Geschwätzigkeit nicht ersparen. Dieser Eindruck verdichtet sich soweit, dass es als unfreiwillige Ironisierung des eigenen Stils erscheint, wenn er an einer Stelle einen seiner Ergüsse mit der Wendung „mit einem Wort“ zusammenzufassen sucht.

Wirklich genießen kann man das Buch wahrscheinlich nur in historischer Perspektive: Der romantische Ton, der das Buch prägt, ist offenbar eine bewusst gewählte Stilposition des Autors, wie besonders die vorgeschaltete Einleitung klar macht, in der die unverstellte Stimme des Autors zu hören ist. Das europäischen Mittelalters der romantische Ritterromane muss auf dem neuen Kontinent durch die frühe Neuzeit ersetzt werden, der aber ausreichend Züge des Dunklen Zeitalters beigegeben werden, um das romantische Bild zu vervollständigen. Ansonsten machen außer der schon erwähnten Geschwätzigkeit Hawthornes weitere manieristische Entscheidungen einen unmittelbares Genuss des Buches schwer: die Reduktion auf praktisch nur vier handelnde Figuren, die zudem kaum zum Handeln kommen, aber in jedem Moment exaltiert und unnatürlich erscheinen. Am schrecklichsten zeigt sich diese kontinuierlich überspannte Grundstimmung in der direkten Rede:

»Na, was ist das, Mutter?« rief sie. »Warum ließen die Leute ihre Arbeit heute liegen? Ist das ein Spieltag für die ganze Welt? Schau, dort ist der Hufschmied! Er hat sein rußiges Gesicht gewaschen und zieht sich Sabbatkleider an und sieht aus, als wäre er gerne fröhlich, wenn einer nur so nett wäre, es ihm beizubringen! Und da ist Herr Brackett, der alte Kerkermeister, der mir zunickt und mich anlächelt. Warum tut er das, Mutter?« (S. 283)

Auch Hawthorne wird bewusst gewesen sein, dass keine Siebenjährige im Lauf der Erdgeschichte jemals so geredet hat oder jemals so reden wird.

Was die neue Übersetzung angeht, so stellt man bereits durch einen ersten Vergleich mit dem Original fest, dass Übersetzer Jürgen Brôcat, der für seine Übersetzung von Walt Whitmans „Grasblätter“ 2009 sehr gelobt wurde, an grammatikalischen Strukturen kaum interessiert zu sein scheint. Er greift durchweg massiv in Wortstellung und Satzstruktur ein, ohne dass dabei ein Prinzip erkennbar wäre. Auch sonst fallen einige merkwürdige übersetzerische Entscheidungen auf: Hawthornes Gattungsbezeichnung für den Roman „A Romance“ (etwa „eine romantische Erzählung“) übersetzt Brôcan mit „Eine Phantasie“ (was vielleicht an E.T.A. Hoffmann erinnern soll, meiner unmaßgeblichen Meinung nach aber wenig passt); die Beschreibung Pearls als „elf-child“ wird bei ihm zu einen „Koboldkind“, was zu der nicht minder seltsamen Entscheidung führt, das später im Text tatsächlich vorkommende englische „imp“ (Kobold) mit „Wicht“ zu übersetzen, was im Deutschen doch sehr etwas anderes ist als der „Wichtel“, was das englische „elf“ durchaus auch bedeuten könnte. Als im Haus des Gouverneurs Pearls christliche Erziehung geprüft und sie dabei nach ihrem Schöpfer gefragt wird, antwortet sie, ihre Mutter habe sie von einem wilden Rosenbusch gepflückt, ein Einfall, den Hawthorne gleich im nächsten Satz mit der sehr merkwürdigen Wendung begründet, „Pearl stood outside of the window“, was im Kontext wohl bedeuten soll, Pearl stehe direkt neben dem Fenster; Brôcat entschließt sich dazu, das mit „da Pearl draußen vor dem Fenster stand“ zu übersetzen, was zwar semantisch richtig, ansonsten aber weitgehend sinnfrei erscheint. Und „a row of venerable figures, sitting in old-fashioned chairs, which were tipped on their hind legs back against the wall“ mit „eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen“ zu übersetzen, kann nur als mittlerer Unfall bezeichnet werden. Dies und viele weitere Kleinigkeiten haben wenigstens mir das Vergnügen an der Übersetzung verdorben; hier wäre ein schlichterer Zugriff auf den ohnehin stilistisch exaltierten Text wahrscheinlich glücklicher gewesen.

Alles in allem eine sehr anspruchsvolle Lektüre, die vom Leser einiges an historischem Einfühlungsvermögen und stilistischer Toleranz verlangt. Davon, dass sich wohl nur den wenigstens deutschen Lesern der tatsächlich geschichtliche Gehalt des Textes, der wesentlich zu seinem Status als Klassiker beiträgt, erschließen wird, muss dabei ganz abgesehen werden.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcat. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 480 Seiten. 27,90 €.

Iwan Gontscharow: Oblomow

»Er war nicht dümmer als andere, und seine Seele war rein und klar wie Glas; er war großmütig, zartfühlend und ist zugrunde gegangen!«

Gontscharow-Oblomow„Oblomow“, 1859 nach zehnjähriger, immer wieder unterbrochener Arbeit  erschienen, ist der einzige Roman Iwan Gontscharows, der in der europäischen Tradition Klassikerstatus erlangen konnte. Dass er nicht vergessen ist, liegt wohl in der Hauptsache an dem radikalen Charakter der Titelfigur und der beinahe modernen Liebesgeschichte, in die Gontscharow ihn verwickelt. Am Ende verdirbt der Autor das Buch ein wenig, als er seiner eigenen Radikalität misstraut und die Erzählung in ein sehr konventionelles, dem Publikumsgeschmack geschuldeten Ende rettet. Aber der Reihe nach:

Ilja Iljitsch Oblomow verschläft im Petersburg der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein ereignisarmes und untätiges Leben. Er ist Erbe eines Landgutes mit 300 Seelen, hat studiert und war auch einige Zeit in der Petersburger Verwaltung tätig. Doch seit dem Tod der Eltern lässt er sich gehen, überlässt sein Gut einem korrupten Verwalter, der ihm jedes Jahr unter immer neuen Ausreden immer weniger Geld schickt, und vertrödelt sein Leben. Er hat nur wenige Bekanntschaften, unter denen die zu Michej Andrejewitsch Tarantjew heraussticht, der Oblomows Trägheit und Gutmütigkeit ausnutzt, um ihn regelmäßig um kleinere Geldbeträge zu erleichtern. Der einzige wirkliche Freund, den Oblomow noch aus Kindheitstagen besitzt, ist Andrej Iwanowitsch Stolz, ein deutschstämmiger Russe, der mit seinem stets tätigen und erfolgreichen Wesen als idealisiertes Gegenbild zu Oblomow entworfen ist.

Der Roman setzt zu einem Zeitpunkt ein, als Oblomows Leben einer kleineren Krise ausgesetzt ist: Sein Wirt hat ihm die Wohnung gekündigt, und er müsste sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Und auch finanziell befindet er sich in einer etwas bedrängten Lage, da die Zahlung vom Gut auch in diesem Jahr wieder knapper ausgefallen ist als im Vorjahr. Stolz drängt Oblomow deshalb, sich auf sein Gut zu begeben und dort nach dem Rechten zu schauen, den Verwalter davon zu jagen und sich seiner Angelegenheiten selbst anzunehmen. Anschließend soll er Stolz nach Westeuropa nachreisen und sich dort Weltläufigkeit und Kultur aneignen.

Doch vorerst zieht Oblomow in die Sommerfrische vor die Tore Petersburgs, wo er durch Stolz mit Olga Sergejewna Iljinskaja und deren Tante bekannt gemacht wird. Nach Stolzens Abreise verbringen Olga und Oblomow viel Zeit miteinander und Oblomow weiß sich der Vorzüge der jungen Frau nicht anders zu erwehren, als sich in sie zu verlieben. Ungeschickt und naiv, wie er ist, plaudert er dieses Gefühl denn auch sogleich der Geliebten gegenüber aus, die sich, von diesem unkonventionellen Verehrer und seiner Empfindsamkeit überrumpelt, ebenfalls in ihn verliebt. Nach einigen idyllischen, wenn auch nicht unproblematischen Wochen auf dem Land kehren beide nach Petersburg zurück, wo sich der intensive Umgang der beiden nur aufrecht erhalten ließe, wenn sie sich auch offiziell verloben würden. Doch Oblomow zögert: Er misstraut seinem und ihrem Gefühl, fürchtet, dass sie sich künftig in einem anderen, attraktiveren Mann verlieben werde, kann sich auch nicht entschließen, endlich die Probleme auf seinem Gut selbst in die Hand zu nehmen etc. pp. Von Oblomows Zögern und Zweifeln enttäuscht, löst Olga die Verbindung zu ihm und Oblomow verfällt einer tiefen Depression.

An dieser Stelle müsste der Roman eigentlich zu Ende sein. Doch Gontscharow lässt den ersten drei Teilen des Romans noch einen vierten folgen, der den Stoff auf sehr konventionelle Weise zum Abschluss bringt: Stolz kehrt aus Westeuropa zurück, findet alles über die Liebe Olgas zu Oblomow heraus, heilt ihren Liebeskummer mittels vernünftigem Zureden, heiratet sie und rettet dann Oblomow aus den Fängen Tarantjews und eines Komplizen, die ihn beinahe komplett ruiniert haben. Schließlich wird Oblomows weiterhin träges, untätiges Leben bis zu seinem frühen Tod durch mehrere Schlaganfälle erzählt. Das alles ist nicht schlecht, aber so routiniert und gewöhnlich, wie man es auch in jedem anderen zweit- oder drittklassigen Roman des 19. Jahrhunderts finden kann. Die eigentliche Radikalität des Buches aber liegt in Gontscharows Kritik der romantischen Liebe zwischen Olga und Oblomow, die als Konzept ohne Ziel, als reines Gefühl ohne Lebenspraxis nur kurz in der Isolation der sommerlichen Zweisamkeit existieren kann, über die Länge der Zeit und unter den Anforderungen der Gesellschaft an das Paar aber zum Scheitern verurteilt ist.

Die Neuübersetzung von Vera Bischitzky scheint auch ohne Vergleich mit dem Original wesentlich detaillierter und differenzierter zu sein als etwa die von Clara Brauner aus den 1910er Jahren, die ich bislang kannte. Bischitzky verzichtet wohltuend auf jeglichen Versuch einer sprachlichen Modernisierung des Romans und ihre Anmerkungen beschränken sich auf das Wesentliche. Ein weiterer gelungener Band der Hanser-Klassiker.

Iwan Gontscharow: Oblomow. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 840 Seiten. 34,90 €.

David Foster Wallace: Der bleiche König

Das ist wie diese Kiste in der Physik: Wenn du das Experiment beobachtest, wird das Ergebnis vermasselt.

Wallace-Koenig„Der bleiche König“ ist der Roman, an dem David Forster Wallace bereits seit einigen Jahren gearbeitet hatte, als er sich umbrachte. Wallaces Agentin und sein Lektor haben aus dem umfangreichen Nachlassmaterial einen fragmentarischen Roman zusammengestellt, dessen im Original gut 530 Seiten einen unbekannten, aber kaum zu großen Bruchteil des Umfangs darstellen, den das Buch nach dem Willen des Autors hätte schließlich haben sollen. Das Fragment erschien 2011, drei Jahre nach dem Tod Wallaces; es wurde in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch vorgelegt, übersetzt von Ulrich Blumenbach, der auch schon Wallaces „Infinite Jest“ übersetzt hat.

Das Thema des Romans ist so ungewöhnlich, wie man es von Wallace erwarten darf: Der Hauptteil der Handlung spielt Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Prüfzentrum der US-amerikanischen Steuerbehörde IRS in Peoria, Illinois. Zahlreiche Figuren, darunter auch ein Alter ego des Autors, werden jeweils mit ihren Vorgeschichten vorgeführt und interagieren miteinander. Anders kann man die rudimentäre Handlung kaum beschreiben, denn eine Fabel im klassischen Sinne hat der Roman nur sehr hintergründig: Man kann als Leser den Verdacht entwickeln, dass der treibende Konflikt einer eventuell beabsichtigten oder noch geplanten Handlung der zunehmende Einsatz elektronischer Datenverarbeitung – in der Hauptsache unter Verwendung von Lochkarten – bei Vorbereitung und Durchführung von Steuerprüfungen ist. Doch liefert diese Fabel kaum eine Struktur für den vorliegenden Text.

Das eigentliche Thema des Buches scheint aber Langeweile zu sein: Wallace ist fasziniert von der tagtäglichen Existenz des normalen Steuerprüfers, die darin besteht, sich acht Stunden lang mit der trockensten, langweiligsten Materie der Welt, sprich: Steuererklärungen zu befassen. Er scheint zu glauben, dass die Voraussetzung für das Ausüben einer so eintönigen Tätigkeit in bestimmten Charaktereigenschaften liegt, die wiederum in den Vorgeschichten der Figuren entwickelt werden sollen. Das alles kann man schön und gut finden; auch dem artistisch durchaus anspruchsvollen Plan, Langeweile erzählen zu wollen, kann man Sympathie entgegenbringen. Das Problem aber ist die konkrete Umsetzung des Projekts: Zwar sind die skurrilen Vorgeschichten der meisten Figuren gerade noch interessant, doch das aus ihnen resultierende, einander ununterbrochen totquatschende Personal des Prüfzentrums hat immer nur für wenige Seiten meine Aufmerksamkeit fesseln können. Eine Ausnahme bildet vielleicht der nur in einem späten Kapitel eine Rolle spielende Shane Drinion, eine blasse Kopie des Vulkaniers Spock, der mit seiner emotionalen Isolation und seinem umfassenden Desinteresse die einzige positive Identifikationsfigur des Romans darstellt. Er ist es denn auch, der den Lektüreeindruck in einem Satz zusammenfasst:

»Hört sich anstrengend an«, sagt Drinion.

David Foster Wallace: Der bleiche König. Ein unvollendeter Roman. Aus dem amerikansichen Englisch von Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013. Kindle-Edition, 1702 KB, 640 Seiten (gedruckte Ausgabe). 23,99 €.

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt

MacGregor-Shakespeares-WeltNeil MacGregor ist der Direktor des Britischen Museums und hat im Jahr 2011 mit seiner Kulturgeschichte „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ einen internationalen Bestseller geschrieben, die die Entwicklung der Zivilisation anhand ausgesuchter Artefakte aus dem Bestand des Museums nacherzählte. In ähnlicher Weise aufgebaut folgt nun ein Buch zur Zeit und der Welt Shakespeares, also der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Der Band ist reich illustriert und zeichnet in 20 Kapiteln anhand von Alltagsgegenständen und Druckwerken der Zeit ein durchaus weit gespanntes Panorama der englischen Kultur, Gesellschaft und Politik der Elisabethanischen und ersten Jahre der Jakobinischen Ära. Das ein oder andere Thema spielt bei Shakespeare nur indirekt eine Rolle, wobei MacGregor es versteht, auch die Blindstellen in Shakespeares Widerspiegelung seiner Lebenswelt in den Stücken interessant zu machen.

Das Buch versucht nicht, eine Shakespeare-Biographie zu liefern oder Shakespeares Stücke in irgendeinem erschöpfenden Sinne zu interpretieren (Interpretationen zitiert MacGregor klugerweise von Experten), es will nur die reichhaltige Verwebung der Stücke Shakespeares und der ihre Zuschauer (und ihren Autor) umgebenden Kultur an prominenten Einzelbeispielen aufscheinen lassen. Dies gelingt ihm ausgezeichnet. Das Buch ist als Einführung in die Welt Shakespeares und den Reichtum und die Offenheit seines Theaters bestens geeignet. Es macht Lust, sich mit der spannungsreichen und widersprüchlichen Kultur und Geschichte dieser Zeit, zu der Shakespeares Stücke nur ein Segment einer ganzen Reihe liefern, intensiver auseinanderzusetzen.

Erwähnt werden sollte auch, dass der Band nicht nur in sehr guter Qualität auf schwerem Papier gedruckt wurde, sondern bei einem Preis von knapp 30,– Euro auch mit einer Fadenheftung glänzt. Hätte man auch noch einige Druckfehler ausgemerzt (einer macht – in einer Bildunterschrift – aus dem gerade wieder einmal populären Gun-Powder-Plotter Guy Fawkes einen Guy Hawkes), wäre der Band ein Musterstück geworden.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: C.H. Beck, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 29,95 €.

Vladimir Nabokov: Maschenka

Morgen kam seine ganze Jugend, kam sein Rußland wieder zu ihm zurück.

nabokov_werke_01Nachdem ich in den letzten Tagen nebenher das Hörbuch von Nabokovs »Pnin« noch einmal angehört habe, bekam ich Lust, auch wieder etwas von ihm zu lesen. Seit einiger Zeit kaufe ich peu à peu die deutsche Werkausgabe Nabokovs zusammen und habe vor, sie in den nächsten Jahren systematisch durchzulesen. Es bot sich also an, mit seinem ersten Roman »Maschenka« anzufangen.

»Maschenka« ist im Jahr 1925 auf Russisch entstanden und im Jahr darauf in einem Berliner Exilverlag für russische Literatur erschienen, der zu Ullstein gehörte. Durch diese Verbindung erschien bereits 1928 auch eine erste deutsche Übersetzung im Mutterverlag, was für den Erstling eines russischen Exilautors kein kleiner Erfolg gewesen sein dürfte. Der Roman spielt an einigen wenigen Tagen im Jahr 1924 in Berlin und erzählt die Geschichte Lew Glebowitsch Ganins (Ganin ist allerdings nur sein nom de guerre, den er sich im Widerstand gegen die Bolschewisten zugelegt hat; seinen echten Namen erfährt der Leser nicht), der zusammen mit einer kleinen Gruppe von russischen Exilanten in einer russischen Pension lebt. Ganin schlägt sich wie viele seiner Schicksalsgenossen mit Gelegenheitsarbeiten – etwa als Filmstatist – durch. Ihn treibt es fort aus Berlin, aber er kann sich nicht entschließen abzureisen, da er eine erotische Affäre mit einer jungen Frau, Ljudmila, hat und sich nicht durchringen kann, diese zu beenden.

Erzählanlass ist, dass Ganins Zimmernachbar Alexej Iwanowitsch Alfjorow ihm erzählt, dass am Ende der Woche seine Frau aus Russland nach Berlin kommen wird, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Als Alfjorow Ganin ein Bild seiner Gattin zeigt, erkennt der in ihr seine erste Jugendliebe Maschenka wieder. Augenblicklich fasst er den lange aufgeschobenen Entschluss: Schon am nächsten Tag trennt er sich von Ljudmila und bereitet seine Abreise aus Berlin vor. Er will Maschenka bereits am Bahnhof abfangen und umgehend mit ihr nach Süden abreisen, bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, ihren Ehemann wiederzusehen.

Die wenigen Tage bis zu Maschenkas Ankunft verbringt Ganin hauptsächlich damit, sich an seine Liebe zu ihr zu erinnern. Es handelt sich zuerst um eine Sommerverliebtheit, die im folgenden Jahr noch einmal kurz auflebt, aber erst nach der erneuten Trennung der beiden unerwartet ernst wird. Ganin befindet sich bereits beim Militär, als er von Maschenka Briefe erhält, in denen sie ihm ihre immer noch bestehende Liebe und ihre Sehnsucht nach ihm gesteht. Ganin aber wird als Kriegsverwundeter eher zufällig aus Russland herausgespült, landet zuerst in Istanbul und reiht sich in den Strom der Exilrussen ein, der vor der bolschewistischen Revolution nach Westeuropa flieht. Und nun findet er aus purem Zufall seine Geliebte als Ehefrau seines Zimmernachbarn wieder.

Am Samstagmorgen wird Maschenka ankommen, und Ganin macht sich eine kleine Feier in der Pension am Vorabend zunutze, um den Alfjorow betrunken zu machen, sorgt dann dafür, dass er verschlafen wird, und verlässt mit seinen gepackten Koffern das Haus, um Maschenka am Bahnhof abzufangen. Ich werde hier nicht verraten, wie der Roman endet, denn ein wesentlicher Teil seiner Wirkung beruht auf der Spannung, wie der Autor seinen Protagonisten wohl aus dieser Zwickmühle der eigenen Phantasie wieder herauszuführen gedenkt.

Vieles an diesem Roman ist konventionell und nicht weiter erwähnenswert, und es ist gut, dass er nur ungefähr 180 Seiten lang ist. Dabei wirkt vieles nur resümiert, und es zeugt von einiger Disziplin des jungen Autors, dass er nicht in selbstverliebtes Schwärmen verfallen ist, sondern eine schlanke, adrette Erzählung abgeliefert hat. An einer einzigen Stelle aber kann man schon den späteren Meister herausspüren: Am Tag, bevor Maschenka eintreffen wird, begleitet Ganin den alten Dichter Podtjagin, der ebenfalls in der Pension lebt und seit Wochen verzweifelt versucht, eine behördliche Ausreisegenehmigung nach Frankreich zu erhalten, aufs Amt und erreicht es tatsächlich, dass der Alte den ersehnten Stempel in seinen Pass bekommt. Anschließend fahren die beiden auf dem offenen Oberdeck eines Busses zum französischen Konsulat, und Podtjagin legt, um den Fahrschein zu lösen, seinen Pass für einen Moment auf die Sitzbank. Und dann schreibt Nabokov nur noch diesen einen Satz:

Podtjagin rollte erstaunt mit den Augen, und plötzlich griff er nach seinem Hut – es wehte ein heftiger Wind.

Das ist alles, was es braucht, um eine Katastrophe eintreten zu lassen – der Hergang der Katastrophe selbst bleibt ungeschildert!

Die vorliegende deutsche Übersetzung benutzt als Vorlage die von Nabokov begleitete englische Übersetzung aus dem Jahr 1970. Sie weicht nur in wenigen Einzelheiten vom alten russischen Original ab. Was bei mir ein wenig Irritation ausgelöst hat, ist, dass der erste Band der deutschen Werkausgabe, der die ersten beiden Romane Nabokovs enthält, kein Inhaltsverzeichnis hat und die Nachworte von Autor und Herausgeber nicht am Ende des Bandes zusammengefasst sind, sondern unmittelbar auf die Texte folgen. Ansonsten ist der Band sorgfältig gemacht und bringt mit einem Leineneinband und Fadenheftung eine für diesen Preis sehr ordentliche Ausstattung mit.

Vladimir Nabokov: Maschenka. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke I. Frühe Romane 1. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 21999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 183 (von 591) Seiten. 27,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.