Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie

Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Einführungen in die Philosophie, besonders solche, die für den allerersten Einstieg des Laien geschrieben wurden, ist nur sehr schwierig gerecht zu werden: Diejenigen, für die sie geschrieben sind, können sie offensichtlich nicht beurteilen, und diejenigen, die sie beurteilen können, gehören offensichtlich nicht zur Zielgruppe. Hinzukommt, dass selbst unter Fachleuten nicht nur in den Feinheiten der Interpretation Uneinigkeit herrscht, sondern solche Verwerfungen – die auch für den Einsteiger nicht unbedeutend sind – bereits in ganz grundsätzlichen Auffassungen bestehen können. Von daher dürften solche Einführungen immer in der Kritik stehen, je mehr, je spezifischer das Verständnis der verhandelten Sache beim Rezensenten ist.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Philosophiegeschichte und arbeitet in der Hauptsache mit Graphiken, die durch eine Reihe von kurzen , schlicht gehaltenen Erläuterungen begleitet werden.

© Aufbau Verlag
© Aufbau Verlag

Was macht man nun mit sowas? Einerseits sind wesentliche Elemente des Höhlengleichnisses getroffen: Die in der Höhle Gefangenen, deren Welt die an die Höhlenwand geworfenen Schatten sind, der Höhlenausgang, durch den man zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen kann, sogar ein Rudiment des Sonnengleichnisses ist vorhanden. Andererseits werden bei Platon die schattenwerfenden Gegenstände von hinter einer Mauer verborgenen Trägern (welchen ontologischen Status mögen diese Träger haben?) vor einem Feuer vorbeigetragen, und natürlich kommt in Platons Höhle kein Teufel vor, der den unbedarften Leser vermuten lassen muss, dass es sich bei dieser Einrichtung um eine Art von transzendenter Verschwörung gegen die Menschheit handelt. Nach Betrachtung der beiden Seiten weiß der Leser ungefähr – und wirklich nur so ungefähr – so viel wie nach der Lektüre der ersten Absätze des Siebten Buchs von Platons Der Staat:

»Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten Sie durch ein Feuer, dass hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Maueraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.«
»Ich sehe es vor mir«, sagte er.
»Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und allen möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es natürlich ist, teils reden, teils schweigen.«
»Ein seltsames Gleichnis und seltsame Gefesselte, von denen du da sprichst«, sagte er.

Platon: Der Staat, 514a ff.
(Trad. Gernot Krapinger)

Sprich: Er weiß, dass es bei Platon ein Höhlengleichnis gibt. Zusätzlich verfügt er über eine Reihe falscher Vorstellungen und hat keine Ahnung, wozu dieses Gleichnis überhaupt dienen soll. Denn wie häufig zeigt das Gleichnis allein nicht, was es eigentlich bedeuten soll.

Leider ist das auf den anderen Seiten auch nicht viel besser. Dort wo traditionelle Einführungen in die Philosophie notwendig oberflächlich sein müssen, ist hier auch diese Oberflächlichkeit noch oberflächlich geraten. In der Sache ist dieses Buch ein feuchter Teller, der sich als Vorspeise ausgibt. Nützlich könnte das Buch allein in einem didaktischen Umfeld sein, also für einen Lehrer der Philosophie, der sich hier Anregungen für eine graphische Unterstützung seines Unterrichts holen könnte.

Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie. Berlin: Blumenbar, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 352 Seiten. 26,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 5

Der Dummkopf war zur Norm geworden; es fehlte nicht mehr viel, dann wurde er zum Ideal, und die Doktoren der Philosophie tanzten begeistert Ringelreihen um ihn.

Auch dies die Fortsetzung eines Leseprojektes, das im Jahr 2012 begonnen wurde. Als Heyne dann im Jahr darauf den 5. Band der Gesammelten Werke herausbrachte, waren die Strugatzkis schon wieder aus meinem Blick geraten. Doch nun bin ich zufällig auf die beiden anscheinend letzten Bände dieser Werkauswahl gestoßen. Das Marketing zum fünften Band behauptet, dass er sieben Romane zu enthalte, was bei einem Umfang von knapp unter 800 Druckseiten etwas schwierig sein dürfte; drei der abgedruckten Romane umfassen denn auch deutlich unter fünfzig Seiten und nur drei dürften nach den heutigen Konventionen des Marketings mit mehr als 150 Seiten als Romane bezeichnet werden. Tatsächlich enthält der Band keinen einzigen Roman, sondern eine Sammlung von Erzählungen, die alle im Zeitraum zwischen 1958 und 1965 entstanden sind. Sie hängen sehr locker über wiederkehrende Figuren und Motive zusammen und machen deutlich, dass die Brüder Strugatzki mit zahlreichen Texten versucht haben, ein geschlossenes Universum des 22. Jahrhunderts zu entwerfen. In diesem Universum ist es den Menschen gelungen, in den interstellaren Raum vorzudringen und andere Planeten zu erforschen und besiedeln. Einige der kürzeren Erzählungen dienen dabei dem Zweck, die Überwindung konkreter physikalischer bzw. technischer Hindernisse für solche Kolonisations- und Forschungsreisen zu erfinden. Dabei bewegen sich die Brüder interessanterweise immer nah an spekulativen naturwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit. Überhaupt muss drauf hingewiesen werden, dass der im Anhang zu findende Kommentar aus der Feder von Boris Strugatzki in einigen Fällen interessanter ist als die entsprechenden Erzählungen.

  • Der Weg zur Amalthea (1960) – eine schlichte Aben­teu­er­er­zäh­lung, die vorgibt, ein realistisches Bild von der interplanetaren Zukunft der Menschheit zu zeichnen. Es werden zwei Erzählstränge parallel erzählt: Zum einen von einer Forschungsstation auf dem Jupitermond Amalthea, auf der der kleinen Besatzung von Wissenschaftlern eine Hungersnot droht. Zum anderen die Geschichte von der Havarie und Rettung des „Photonenfrachters“ Tachmasib, der auf dem Weg ist, die Station auf der Amalthea zu versorgen. Das Raumschiff gerät überraschend in einen Meteoritenschauer, der den Antrieb schwer beschädigt, und sinkt langsam in die Atmosphäre des Jupiter hinab. Aufgrund des heldenhaften Einsatzes des Kommandanten Bykow, der bereits in Atomvulkan Golkonda (1959) eine prominente Rolle gespielt hatte, kann sich das Raumschiff aus dieser Lage befreien und glücklich auf der Almathea landen.
  • Die gierigen Dinge des Jahrhunderts (1965) – erzählt vom Agenten Iwan Shilin, der einen Kurort auf der Erde (wohl in Europa) mit einem für den Leser lange Zeit undurchsichtigen Auftrag besucht. Es stellt sich heraus, dass er auf der Spur eines Drogenkartells ist, von deren neuartiger Droge ein bedeutender Teil der Bevölkerung abhängig ist. Die Ich-Erzählung soll Shilins mangelnde Vertrautheit mit der Kultur, in die er sich hineinfinden muss, vermitteln und enthält so den Lesern zentrale Informationen vor, aber leider eben auch diejenigen, die Shilins Auftrag betreffen. Das ist eine Weile ganz lustig, zieht sich aber dann. Ein nicht wirklich gelungener Kriminal-Science-Fiction. Viel interessanter als der Text selbst ist der Kampf um seine Veröffentlichung, der im Anhang des Bandes dokumentiert ist.
  • Die Erprobung des SKYBEK (1959) – kurze Erzählung um die Erprobung eines Systems eigenständiger Erkundungsroboter, die mit einer künstlichen Intelligenz verbunden sind. Offensichtlich nur eine Handübung zu einem weitaus größeren Thema, hier mit einer Liebesschnulze aufgepeppt, um überhaupt etwas zu haben, was man veröffentlichen kann.
  • Das vergessene Experiment (1959) – Science-Fiction-Erzählung im eigentlichen Sinne des Wortes: Zwei Wissenschaftler dringen zusammen mit einem Fahrer in einem gepanzerten Fahrzeug in eine Zone vor, die von ungeklärten Explosionen erschüttert wird. Im Zentrum der Zone steht ein alter Laborkomplex, der nach einem radioaktiven Unfall aufgegeben werden musste. Im selben Komplex lief ein physikalisches Experiment mit einem sogenannten Zeitmotor, das sich als Quelle der Explosionen und anderer Veränderungen der Zone erweist. Anlass dieser Erzählung war eine tatsächlich existierende physikalische Theorie, die Zeit als einen energetischen Prozess zu interpretieren und entsprechend technologisch zu nutzen versuchte, die sich aber im Gang der Forschung nicht erhärten ließ.
  • Spezielle Voraussetzungen (≈ 1959) – kurze Erzählung um die Theorie, dass bei einem Raumflug unter konstant hoher Beschleunigung die Zeit im Raumschiff rascher vergeht, nicht langsamer, wie von der speziellen Relativitätstheorie vorausgesagt. Auch hier wird die etwas dünne Idee durch eine Liebesgeschichte aufpoliert. Der Kommentar hebt hervor, dass in diesem Text ein Abschnitt aus weiblicher Perspektive erzählt wird, was sonst in den Texten der Strugatzkis nicht vorkommt. Nun ja …
  • Mittag, 22. Jahrhundert (1962, erweitert 1967) – eine Sammlung locker miteinander verbundener Einzelerzählungen, die sich alle um die Erforschung anderer Welten und Zivilisationen – auch auf der Erde – drehen. Leider liefert der vorliegende Band nur eine Auswahl, ohne deutlich zu machen, welchen Umfang das Original hatte, das selbst wiederum unterschiedliche Stadien durchlaufen hat. Auch hier findet sich im Anhang ein breiter historischer Kommentar zur Entstehung des Buches, der mindestens so interessant ist wie die Erzählungen. Wohl mit der gelungenste Teil dieses Bandes.
  • Der ferne Regenbogen (1963) – ein Katastrophenroman, der auf dem Planeten Regenbogen spielt, der hauptsächlich von Physikern und einigen anderen Wissenschaftlern bewohnt wird. Die Physiker arbeiten dort am Problem des Null-Transportes (in Star-Trek: Beamen), der aber eine ungewollte, in den meisten Fällen harmlose Nebenwirkung zeitigt: die Welle. Trotz Warnungen aus der Gruppe der Null-Physiker kommt es zu einer katastrophalen Entwicklung, die dazu zwingt, den Planeten aufzugeben. Allerdings reicht der verfügbare Platz auf dem zufällig anwesenden Transportschiff nur für die Kinder des Planeten. Der erste Teil des Romans ist ein wenig beliebig, aber die zweite Hälfte und der Schluss müssen wohl zum Besten gerechnet werden, das die Strugatzkis geschrieben haben. Unbedingt lesenswert!

Der Band liefert eine gelungene Fortsetzung der Werkausgabe; auch hier findet sich eine lockere thematische Verbindung der Texte, die deutlich macht, wie das Mittags-Universum in seiner Entstehung langsam Form gewinnt und wie die Autoren bemüht sind, die offensichtlichen Schwierigkeiten ihrer Fiktion in den Griff zu bekommen. Manche der Erzählungen bleiben skizzenhaft, fügen sich aber in das Gesamtgefüge des Mittags-Universums gut ein. Wer am Genre interessiert ist, dem sei der Band insgesamt empfohlen; den anderen sei wenigstens Der ferne Regenbogen ans Herz gelegt.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 5. Aus dem Russischen von Traute und Günther Stein (Der Weg zur Amalthea), Heinz Kübart (Die gierigen Dinge des Jahrhunderts), David Drevs (Die Erprobung des SKYBEK), Aljonna Möckel (Das vergessene Experiment; Spezielle Voraussetzungen; Mittag, 22. Jahrhundert; Der ferne Regenbogen) und Erik Simon (Anhang). München: Heyne, Kindle-Edition, 2013. 865 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Bernard Shaw: Pygmalion

Ich habe mich bislang nicht sehr um Shaw gekümmert über das Anekdotische hinaus, das einem nahezu  zwangsläufig über den Weg läuft, wenn man sich intensiver mit Literatur beschäftigt. Nun hat es sich in der Nachfolge der Wilde-Lektüre der letzten Zeit ergeben, dass ich auch zu Shaw gekommen bin. Pygmalion war und ist eines seiner erfolgreichsten Stücke, besonders auch weil es durch die Musical-Adaption My Fair Lady am Leben gehalten wird.

Der Inhalt dürfte weitgehend bekannt sein: Der Sprachwissenschaftler Professor Henry Higgins geht eine Wette ein, aus dem ungebildeten Blumenmädchen Eliza Doolittle durch eine sprachliche Ausbildung innerhalb von sechs Monaten eine gesellschaftsfähige „Herzogin“ zu machen. Das Stück präsentiert zwar eine Zwischenstufe der Ausbildung, die noch etwas grobschlächtig ausfällt, lässt Higgins am Ende aber triumphieren, womit der eigentliche Konflikt des Stücks erst ausgelöst wird. Mit der Vollendung des Experiments verliert Higgins das Interesse an Eliza; die frühe Warnung seiner Mutter, er zerstöre gedankenlos Elizas Zukunft, bewahrheitet sich jetzt. Die falsche Herzogin Eliza kann nicht zurück in ihre gesellschaftliche Klasse (welche das auch immer gewesen sein soll), noch hat sie eine Zukunft in der Oberschicht, der Higgins angehört. Eliza flieht aus Higgins’ Haus zu dessen Mutter, in deren Salon es zum eigentlichen Schaustück des Dramas kommt: einem Streitgespräch zwischen Eliza und Higgins.

In diesem Streitgespräch dreht es sich hauptsächlich um die Frage der Unabhängigkeit Elizas und warum Higgins sich weigert, sich in seine eigene Schöpfung zu verlieben. Higgins besteht darauf, Eliza rücksichtslos behandeln zu dürfen, da er alle seine Mitmenschen rücksichtslos behandele. Durch das Streitgespräch, in dem – je nach Perspektive des Zuschauers – beide oder keiner von beiden Recht behält, wird Eliza allerdings klar, dass sie durch das Erziehungsprogramm, das sie durchlaufen hat, tatsächlich eine neue Art der Unabhängigkeit gewonnen hat, dass sie nun über ihren Lebensweg entscheiden kann. Diese Einsicht in ihre gesellschaftliche Freiheit – die wenigstens das Stück behauptet – ermöglicht es ihr, Higgins auf Augenhöhe zu begegnen und nun nicht mehr vor ihm fliehen zu müssen.

Das Happy End – die Hochzeit Elizas mit irgendeinem der Trottel, die durchs Stück laufen – verweigert Shaw seinem Publikum; allerdings war er dumm genug, ein Nachwort zum Stück zu schreiben, das diesen Vorteil zunichte macht. Dramaturgisch ist das Stück nicht uninteressant, da es den Konflikt, den es in seinem Verlauf aufzulösen gilt, nicht schon zu Anfang des Stückes voraussetzt, sondern erst im Gang der Handlung erzeugt. Handlung liefert sein Grundeinfall allerdings zu wenig, weswegen Shaw ihm mit einer Nebenhandlung (der Karriere von Elizas Vater) aufhelfen muss. Auch die Eingangsszene, die die wichtigen Figuren einführt, ist mit Blick auf den Rest des Stücks weitgehend beliebig. Alles in allem eine ganz nette Komödie, aber alles andere als ein Meisterstück. Über die deutsche Übersetzung deckt man am besten den Mantel des Schweigens.

Bernard Shaw: Pygmalion. Aus dem Englischen von Harald Müller. st 1859. Broschur, 127 Seiten. Berlin: Suhrkamp, 122017. 7,– €.

Henry James: Daisy Miller

»Sie tat, was sie wollte!«

James Daisy Miller„Daisy Miller“ ist eine der frühen Erzählungen Henry James’, erstmals veröffentlicht im Jahr 1878. Das Original trägt den etwas differenzierteren Titel “Daisy Miller: A Study”, was in dieser Neuausgabe bei dtv auf die schlichte Gattungsbezeichnung „Eine Erzählung“ reduziert wird. Der Geschichte seiner Titelheldin stand James im Alter eher reserviert gegenüber, musste aber hinnehmen, dass sie zu seinen bekanntesten und beliebtesten gehörte.

Interessanterweise ist der eigentliche Protagonist aber der junge US-Amerikaner Frederick Winterbourne, der bereits als Kind nach Europa gekommen ist. Zur Zeit der Erzählung lebt er in Genf, wo er vorgeblich studiert, tatsächlich aber eine Beziehung zu einer älteren Frau pflegt. Daisy Miller lernt er zufällig kennen, als er seine Tante im Kurort Vevey besucht. Sie fällt ihm sofort nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres sehr freien und selbstbewussten Verhaltens auf. Sie lässt sich schon nach kurzer Bekanntschaft mit Winterbourne darauf ein, zusammen mit ihm – und nur mit ihm – das nahegelegene Schloss Chillon zu besichtigen.

Winterbournes Tante reagiert auf seinen Bekanntschaft mit Daisy etwas reserviert, da sie von den Millers gesellschaftlich nicht viel hält. Daisy, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem viel jüngeren Bruder in Europa unterwegs ist, stammt aus einer Industriellenfamilie, die aber nicht zur High Society der USA zu rechnen ist. Für Winterbournes Tante machen sich diese Leute allein schon deshalb unmöglich, weil sie mit ihrem europäischen Cicerone zusammen essen und überhaupt einen vertrauten Umgang mit ihm pflegen. Daisy lebt in Europa offenbar ein außergewöhnlich freies Leben, da ihre Mutter sich als gänzlich unfähig erweist, der Selbstständigkeit ihrer Tochter irgendwelche Grenzen zu setzen.

Als Winterbourne seinen Besuch in Vevey bereits nach wenigen Tagen beendet, lässt Daisy für einen einzigen Moment durchblicken, dass ihr ironisches und distanziertes Spiel mit Frederick nur eine Farce ist, und sie an dem jungen Mann doch ernsthafter interessiert sein könnte. Sie nötigt ihm jedenfalls das Versprechen ab, sie im Winter in Rom aufzusuchen, was in Fredericks Pläne passt, da auch seine Tante sich dann in Rom aufhalten wird.

Winterbourne trifft etwa acht Monate später erwartungsvoll in Rom ein und hofft eine Daisy vorzufinden, die ihn sehnsüchtig erwartet. Stattdessen amüsiert sich die junge Frau prächtig in der römischen Gesellschaft, pflegt Freundschaften mit italienischen Junggesellen und kümmert sich wenig darum, was die amerikanische Gemeinde in Rom von ihr denkt. Diese Spannung kommt zur Entladung, kurz nachdem Frederick in Rom eingetroffen ist: Daisy wird von einer der Grande Dames der Amerikaner dazu aufgefordert, einen Spaziergang mit ihrem italienischen Freund Giovanelli abzubrechen und zu ihr in die Kutsche zu steigen; als Daisy sich weigert, das zu tun, wird sie bei nächster Gelegenheit öffentlich abgekanzelt und aus der guten Gesellschaft ausgestoßen.

Winterbourne reagiert in einer Mischung aus Enttäuschung, Eifersucht und Unsicherheit ebenfalls abweisend; er versucht zwar noch, Daisy auf den rechten Weg zu führen, gibt sie dann aber letztlich ebenfalls auf. James bringt die Erzählung zu einem recht abrupten Ende, indem er Daisy an der Malaria erkranken und kurz darauf sterben lässt. Am Grab kommt Frederick zur Einsicht, die junge Frau und ihre Handlungen falsch be- und sie daher verurteilt zu haben. Doch allzu tief scheint es ihn nicht getroffen zu haben, denn letztlich kehrt er zu seinem eigenen unmoralische Verhältnis in Genf zurück.

Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, wovon James in diesem Text eigentlich erzählt; es könnte sogar der Verdacht aufkommen, dass er das selbst nicht so ganz genau gewusst hat. Der für James typische Gegensatz zwischen nordamerikanischen und europäischen Sitten bildet nur die Folie für eine Geschichte, in der einen junge Frau von der sie umgebenden Gesellschaft dafür verurteilt und abgestraft wird, dass sie sich Freiheiten herausnimmt, die bei einem US-amerikanischen Mann in Europa selbstverständlich toleriert werden. Dass James das Thema nicht vollständig durchführen konnte, zeigt sich an dem hilfsweisen Tod Daisys, für den zum Teil ihr eigener Starrsinn, zum Teil die Leichtfertigkeit Giovanellis verantwortlich gemacht werden. Daisy scheitert an der Gefährlichkeit der Natur, der sie sich aussetzt, nicht an der Gesellschaft, von der sie verurteilt wurde. Das ermöglicht eine Tragik, für die am Ende keiner wirklich verantwortlich zeichnet, ohne dass das kritische Potenzial der Erzählung damit aufgehoben würde. Wahrscheinlich ist es diese eigentümliche Konstruktion, die zu ihrem dauerhaften Erfolg wesentlich beigetragen hat.

Die Neuübersetzung von Britta Mümmler liest sich gut und ist, soweit ich sie geprüft habe, in der Sache korrekt, nimmt sich für meinen Geschmack aber stilistisch ein wenig zu viele Freiheiten heraus – fehlende oder hinzugefügte Worte, Verwechslung von Subjekt und Objekt und andere Änderung von Satzstrukturen habe ich allein auf den ersten Seiten gefunden; den kastrierten Titel muss man wahrscheinlich dem Verlag und nicht der Übersetzerin anlasten. Wer den englischen Text nicht kennt, wird aber mit dieser deutschen Ausgabe ganz zufrieden sein; die Erläuterungen im Anhang sind gut gesetzt und hilfreich. Alles in allem eine gute deutsche Leseausgabe.

Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen von Britta Mümmler. Kindle-Edition. München: dtv, 2015. (Druckausgabe: 128 Seiten.) 9,99 €.

Philip Hoare: Leviathan oder Der Wal

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen
Goethe

Hoare-LeviathanEin recht merkwürdiges Buch, von dem gar nicht einfach anzugeben ist, wovon es handelt. Sicherlich: Das meiste, was es enthält, hat mehr oder weniger direkt mit Walen zu tun, aber sein Aufbau ist in weiten Teilen so assoziativ, dass die Kapitelstruktur nur wie übergestülpt erscheint. Manchmal scheint es, als seien die Kapitel jedes für sich und in Unkenntnis der anderen verfasst, dann wieder findet man einen logischen Aufbau, dem man für 30 oder 40 Seiten folgt, bevor dem Autor wieder etwas völlig anderes einfällt. An manchen Stellen liefert das Buch eine hohe Informationsdichte (etwa bei den Zahlen zum Walfang nach dem Zweiten Weltkrieg), an anderen erschöpft es sich in einer eher be­lie­bi­gen Aufzählung von Ereignissen (so etwa bei der Aneinanderreihung von Walstrandungen), dann wird einem englischen Cetologen ein kurzes Denkmal gesetzt und schon geht es wieder zu etwas anderem. Dann folgt völlig unverhofft und unvermittelt eine Passage, in der der Autor vom Sterben seiner Mutter erzählt, was mit gar nichts anderem außer ihm selbst etwas zu tun hat. Hier und da finden sich auch gedanklich eher wirre Passagen wie zum Beispiel diese:

Als man entdeckte, dass die Unterwasserwelt, die alle sich als stumm vorgestellt hatten, von Geräuschen erfüllt war, kam man auf die Idee, dass U-Boote Waltöne aussenden und sich auf diese Weise als Wale tarnen konnten. Ein Jahrhundert zuvor hatten sich Sklavenschiffe als Walfänger getarnt; jetzt bedienten sich Atom-U-Boote eines ähnlichen Tricks. So missbrauchte der Mensch die Mittel der Wale, um in ihre Welt einzudringen, und erzeugte dabei Geräusche, die für sie tödlich waren. (S. 378)

Insgesamt gewinnt man nur bedingt den Eindruck, ein Buch zu lesen, vielmehr ist es, als höre man einem Redefluss zu, der all das an einem vorbeischwemmt, ohne dass hinter dem Ganzen mehr stecken würde als die zufällige Abfolge der Gedanken des Autors.

Das alles soll aber nicht bedeuten, dass ich das Buch ungern gelesen hätte. Nachdem ich mich an seine Unförmigkeit gewöhnt hatte, ging es recht gut, und vieles, was der Autor erzählt ist interessant und manch anderes nimmt man en passant zur Kenntnis und vergisst es gleich wieder. Wer sich auf die assoziative Geschwätzigkeit des Autors ein­las­sen kann, findet sich von der Lektüre durchaus belohnt. Das Buch lie­fert ein reichhaltiges Panoptikum zum Thema Wal, Walfang, -strandungen, -forschung, -Watching und -darstellung; es bietet eine Kurzbiographie Herman Melvilles, Reflektionen über „Moby-Dick“ in Wort und Bild, Gedanken über Sklaverei, einen Bericht vom Tauchen mit Pottwalen vor den Azoren, eine kleine Geschichte der Azoren und nicht zuletzt die Information, was der Urgroßvater des Autors beruflich gemacht hat.

Philip Hoare: Leviathan oder Der Wal. Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Hamburg: Mareverlag, 2013. Pappband, Lesebändchen, 522 Seiten. 26,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 4

Von Zeit zu Zeit, so scheint es, entlässt die historische Evolution Hechte in die stillen Wasser der Gesellschaft, damit die fetten Karauschen, die sich am Grund von Plankton nähren, aufgestört werden.

Strugatzki_Werke_4Der vierte Band der Gesammelten Werke schließt thematisch an den ersten Band an und bringt fünf Texte, die fast alle um Probleme der menschlichen, zivilisatorischen Entwicklungshilfe auf anderen Planeten kreisen. Wie zuvor schon erwähnt, entspricht die Kindle-Edition dieses Buches nicht dem Standard, da sie über kein Inhaltsverzeichnis verfügt.

»Fluchtversuch« (1962) stellt die Erfindung des Themas dar: Die Freunde Wadim und Anton planen im Jahr 2250 einen Jagdausflug zum Planeten Pandora, als kurz vor dem Abflug der ihnen unbekannte, vorgebliche Historiker Saul zu ihnen stößt und sie kurzerhand überredet, ihn auf irgend einen unbesiedelten, erdähnlichen Planeten zu bringen. Der von Wadim anscheinend zufällig ausgewählte Planet erweist sich dann aber als durchaus besiedelt, und die drei Kosmonauten finden dort eine sehr merkwürdige Lage vor: Der Planet wird offenbar von einer hochstehenden, nichtmenschlichen Zivilisation als eine Art Umschlagbahnhof für ihre Technologie benutzt. Dies hat die einheimische humanoide Zivilisation, die sich auf dem Niveau eines kriegerisch geprägten Mittelalters befindet, in eine tiefe Krise gestoßen. Einer der lokalen Herrscher versucht, sich die fremde Technologie zunutze zu machen. Obwohl die drei Erdenmenschen selbst mehr oder weniger Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns haben, versuchen sie sich in die Geschehnisse auf dem Planeten einzumischen, müssen am Ende aber die Zwecklosigkeit all ihrer Versuche einsehen und kehren unverrichteter Dinge zur Erde zurück.

»Es ist schwer, ein Gott zu sein« (1964) ist einer der bekanntesten Romane der Brüder Strugatzki und 1989 auch mit einigem Aufwand und Erfolg verfilmt worden. Im Mittelpunkt steht der Adelige Rumata, der in Wirklichkeit der irdische Agent Anton ist, der auf einem Planeten in einer humanoiden, spätmittelalterlichen Zivilisation als historischer Beobachter eingesetzt ist. Rumata befürchtet das Entstehen einer faschistischen Diktatur und versucht seine Kollegen dazu zu überreden, dagegen aktiv Widerstand zu leisten. Doch sind seine Mithistoriker weder von der drohenden Gefahr überzeugt, noch davon, dass sie berechtigt sind, in den Lauf der lokalen Geschichtsentwicklung einzugreifen. Aus diesem Konflikt heraus entwickelt sich eine ordentliche Mantel- und Degen-Klamotte mit Faust- und Florettkämpfen, Liebesgeschichte, Kerkerbefreiung und allem, was sonst noch dazu gehört. Man muss zugeben, dass dieser Teil des Textes von den beiden Autoren mit großer Lust am Genre geschrieben wurde und offenbar für seine Popularität verantwortlich ist. Es gibt sonst nicht viele Passagen bei den Brüdern Strugatzki, die vergleichbar unbeschwert daherkommen.

»Unruhe« (entstanden Mitte der 60er Jahre, veröffentlicht erst 1990) ist eine frühe, laut dem Herausgeber stark abweichende Fassung von »Die Schnecke am Hang«. Da ich aber wenig Lust hatte, weite Teile dieses Textes noch einmal zu lesen, habe ich vorerst auf eine Lektüre verzichtet.

»Die dritte Zivilisation« (1971) erzählt die Geschichte einer kleinen Gruppe von Kosmonauten, die einen scheinbar weitgehend leblosen Planeten für die Übersiedlung einer von einer Katastrophe bedrohten Spezies vorzubereiten versucht. Ich-Erzähler ist der Kybertechniker Stas Popow, dessen erster Einsatz im All es ist und der in der Hauptsache für die Wartung und den Betrieb der mitgeführten Roboter zuständig ist. Die erste Überraschung für die Gruppe ist der Fund eines abgestürzten irdischen Raumschiffs, dessen beide Kosmonauten beim Absturz ums Leben gekommen sind. Kurz darauf erweist es sich aber, dass offenbar noch ein dritter Mensch an Bord war, ein kleines Kind, das entgegen aller Wahrscheinlichkeit auf dem Planeten nicht nur überlebt hat, sondern sowohl anatomisch als auch psychisch an den unwirtlichen Gastplaneten angepasst wurde. Die Kosmonauten entwickeln die Theorie, dass der Planet von einer introvertierten Spezies bewohnt wird, die in Höhlen unter der Planetenoberfläche existiert und das kleine Kind, so gut sie konnte, gerettet hat, das auf diese Weise zum einzigen Vertreter einer dritten Zivilisation auf dem Planeten geworden ist. Am Ende bleibt auch hier den Menschen nichts, als sich tatenlos zurückzuziehen und auf eine spätere Gelegenheit zum Kontakt zu hoffen.

»Der Junge aus der Hölle« (1974) schildert den Prozess und die Folgen der zivilisatorischen Entwicklungshilfe aus der Perspektive eines der Wilden. Der junge Gagh stammt aus einer militaristischen Zivilisation und ist im soldatischen Sinne erzogen worden. Er wird aber von Menschen vor dem Tod gerettet und zur Heilung auf die Erde gebracht. Dort wird er zwar freundlich behandelt, aber weitgehend sich selbst überlassen, so dass er sich gegenüber der ihm fremden irdischen Kultur abkapselt und versucht, auf seinen Heimatplaneten zurückzukehren, was er schließlich auch mit einer selbstgebauten Waffe erzwingt. Die Geschichte wird kapitelweise abwechselnd in personaler und Ich-Perspektive erzählt, was sie aber nur mäßig interessanter macht. Sie leidet wohl am deutlichsten darunter, dass hier die Wahrscheinlichkeit der Fabel der Absicht der Autoren geopfert werden muss, darzustellen, dass es nicht genügt, Angehörige einer fremden Kultur mit den Segnungen der eigenen, fortgeschrittenen Zivilisation zu überschütten, sondern dass eine prinzipielle Umerziehung stattfinden muss, wenn ein kultureller Fortschritt erreicht werden soll. – »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 4. Deutsch von Dieter Pommerenke (Fluchtversuch), Arno Specht (Es ist schwer, ein Gott zu sein), David Drevs (Unruhe), Aljonna Möckel (Die dritte Zivilisation) und Erika Pietraß (Der Junge aus der Hölle). Die beiden ersten Texte nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. München: Heyne, Kindle-Edition, 2012. 880 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2

Die größte Heldentat der Menschheit besteht darin, dass sie überlebt hat und gewillt ist, das auch weiterhin zu tun …

Strugatzki_Werke_2Der zweite Band der Strugatzki-Werkausgabe enthält zwei kürzere und einen längeren Roman (das Deutsche hat keine richtige Entsprechung zu der russischen Form der Noveletta, der längeren Novelle, die zwischen Erzählung und Roman angesiedelt ist; auch Arno Schmidts Begriff »Kurzroman« passt aufgrund der in Schmidts Poetik damit verknüpften Implikationen nicht gut), die sich mit einigem guten Willen als Variationen eines gemeinsamen Themas lesen lassen: Der Konfrontation der Menschheit mit einem ihr prinzipiell unbegreiflichen Universum. Allgemeines zur Werkausgabe ist bereits anlässlich von Band 1 gesagt worden, deshalb gleich zu den Texten:

»Picknick am Wegesrand« (1972) ist, wie früher schon einmal angemerkt, aufgrund der Verfilmung von Andrei Tarkowskis einer der bekanntesten Texte der Brüder Strugatzki, auch wenn sich der Film auf eine einzelne Sequenz des Textes konzentriert. Die Handlung des Romans ist in der damals näheren Zukunft angesiedelt und spielt im nordamerikanischen Ort Hammond, in dem eine von weltweit sechs Zonen liegt, in der offenbar Außerirdische gelandet waren. Sie haben die Zonen aber nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen, ohne mit der Menschheit irgend einen Kontakt aufzunehmen, und haben bei ihrer Abreise eine erhebliche Menge Zivilisationsmüll und extraterrestrische Flora hinterlassen. Alle Zonen sind aufgrund ihrer Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit abgesperrt und werden unter Überwachung von UN-Truppen von entsprechenden Regierungsorganisationen untersucht. Neben dieser offiziellen Auswertung der Zonen gibt es aber auch ihre illegale Ausplünderung durch sogenannte Stalker.

Beim Protagonist des Text handelt es sich um den Anfangs 23-jährigen Stalker Roderic Schuchart, der bereits einmal wegen seines Eindringend in die Zone verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Nach einer kurzen Episode legaler Arbeit für die Regierungsseite beginnt er wieder mit der illegalen Beschaffung von Artefakten aus der Zone für zwielichtige Abnehmer, die sie entweder an Sammler oder auch die Industrie weiterverkaufen. Mit den meisten der Artefakte weiß man zwar nichts anzufangen, da man weder ihren Aufbau noch ihre (auf den ersten Blick oft zu den bekannten Naturgesetzen im Widerspruch stehende) Funktion versteht, doch hegen offenbar viele Interessenten die Hoffnung auf umwälzende technische Entdeckungen, die die Geschäfte der Stalker am Leben erhält. Dies alles liefert das Rückgrat der Fabel des Romans.

Wesentlich für den Erfolg des Textes ist aber wohl die philosophische Ebene: Die Zonen konfrontieren die Menschheit offen mit der Beschränktheit ihres wissenschaftlichen Verständnisses des Universums. Zentrale Metapher für dieses mangelnde Verständnis ist die titelgebende Vorstellung, die von einem der mit der Zone befassten Wissenschaftler ganz nebenbei entwickelt wird: Die Zonen seien die Folge eines Picknicks am Wegesrand. Eine der Menschheit weit überlegene Zivilisation habe auf der Erde kurz Station gemacht, ohne sich für sie oder die Menschheit überhaupt zu interessieren. Ihre Hinterlassenschaft sei für die Menschen ebenso rätselhaft, unbegreiflich und gefährlich, wie es die Überreste eines menschlichen Picknicks für die Insekten auf einer Waldlichtung sind. Ein solches Konzept der Begegnung der Menschheit mit Außerirdischen, in der die Menschen nicht die Rolle einer zwar technologisch unterlegenen, dafür aber geistig mindestens gleichrangigen Zivilisation spielen, sondern von den Besuchern nicht einmal als Wesen gleicher Art wahrgenommen werden, bricht radikal mit den allenthalben gebräuchlichen Klischees des Genres und macht den eigentlichen Reiz dieser Utopie aus. Eine vergleichbar ironische Behandlung der Zukunftsträume der Science-Fiction findet sich wohl sonst nur noch bei Stanislaw Lem.

»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang« (1976) variiert das Thema des unbegreiflichen Universums: Auch in dieser längeren Erzählung wird die Menschheit angesichts des Universums marginalisiert. Im Zentrum steht eine kleine Gruppe miteinander befreundeter Moskauer Wissenschaftler verschiedener Disziplinen um den Astronomen Maljanow, deren Mitglieder zufällig alle vor einem entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch zu stehen scheinen, aber durch diverse äußere Umstände und störende Zufälle an der Vollendung ihrer Arbeit gehindert werden. Nachdem sie sich gegenseitig ihre skurrilen Erlebnisse, die offensichtlich von Bulgakows »Der Meister und Margarita« inspiriert sind, erzählt haben, entwickeln sie diverse Verschwörungstheorien, die in der Theorie des mathematischen Genies der Gruppe gipfeln, dass es wahrscheinlich die Struktur des Universums selbst ist, die der Menschheit Widerstand entgegensetzt, um sie daran zu hindern, Erkenntnisse zu entwickeln, die zur Zerstörung des Universums selbst führen könnten. Dies wiederum führt ihn zu einer Haltung des Trotzdem, die als sowjetische Version des existenzialistischen »Mythos vom Sisyphos« gelesen werden kann:

Euer Bestreben, die Ursachen zu ergründen, ist nichts als eitle Neugier. Ihr braucht aber gar nicht herauszufinden, wer womit Druck auf euch ausübt, sondern wie ihr Euch unter Druck verhalten sollt. Und das wird bedeutend schwerer, […] denn von jetzt an ist jeder von euch auf sich allein gestellt.

»Das Experiment« (entstanden zwischen 1969 und 1975, veröffentlicht 1987; auch unter dem Titel »Stadt der Verdammten« eingedeutscht) wurde von den Brüdern Strugatzki bewusst für die Schublade geschrieben. Es war ihnen während der Niederschrift bereits klar, dass dieser Roman, der mit etwa 475 Seiten mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt, unter den politischen Bedingungen der Sowjetunion undruckbar sein würde. Sie hielten ihn sogar für so gefährlich, dass sie ihn nicht einmal als Samizdat oder auch nur als Typoskript unter Freunden kursieren ließen. Insgesamt gab es nur drei Sicherheitskopien des fertigen Romans, die an unterschiedlichen Orten eingelagert waren, um eine vollständige Vernichtung des Textes nach Möglichkeit zu verhindern.

Erzählt wird von einer Gesellschaft im Reagenzglas: Offenbar wirbt eine außerirdische Zivilisation auf der Erde Freiwillige an, die in eine künstliche Welt versetzt werden. Es handelt sich um Menschen aller Nationen und verschiedener Zeitalter, die einander allerdings auf wundersame Weise gegenseitig verstehen könne, weil sie alle glauben, jeder andere spreche ihre Muttersprache. Sie alle wissen, dass sie an einem Experiment teilnehmen, von dem sie allerdings Sinn und Zweck nicht kennen. Im Zentrum steht der jungen Andrej Woronin, seiner Ausbildung nach Astronom und – wenigstens anfänglich – glühender Anhänger einer kommunistischen Gesellschaftsordnung. Zu Beginn der Handlung arbeitet er als Müllmann, da die Gesellschaft des Experiments unter anderem durch regelmäßigen Berufswechsel ihrer Mitglieder in Bewegung gehalten wird. Die Bewohner vermuten, dass das Experiment schon längere Zeit andauert, da sich im Norden der Stadt, in der sie leben, verlassene Ruinen finden; noch weiter nördlich vermutet man eine Eiswüste. Im Süden der Stadt sind Farmer angesiedelt, die für die Ernährung der Stadtbevölkerung sorgen; noch weiter südlich finden sich unpassierbare Sümpfe. Im Osten und Westen ist der Lebensraum durch einen Abgrund bzw. eine steil aufragende Wand begrenzt, die beide nicht besteigbar sind.

Woronin durchläuft, ähnlich wie Maxim Kammerer in »Die bewohnte Insel«, eine Reihe äußerlicher Veränderungen, die ihn langsam, aber sicher zu einer distanzierteren Sicht auf das Experiment führen: Als Kriminalkommissar durchlebt er eine traumhafte phantastische Episode in einem wandernden Haus; nach dem gewaltsamen Umsturz eines ehemaligen faschistischen Offiziers wird er Minister des neuen Diktators und in dieser Funktion mit einer Expedition in den Norden beauftragt. Die Erzählung endet, nachdem beinahe alle Expeditionsmitglieder gewaltsam zu Tode gekommen sind, mit einer visionären Wanderung zum Rand dieser künstlichen Welt, von der unklar bleibt, inwieweit sie sich in der Wirklichkeit oder nur noch in der Phantasie des Protagonisten abspielt.

»Das Experiment« ist sicherlich einer der ambitioniertesten und vielschichtigsten Texte der Brüder Strugatzki; gleichzeitig ist er einer der langatmigsten, ohne dass einfach erkennbar wäre, dass seine Länge und erzählerische Umständlichkeit tatsächlich notwendig sind. Dann und wann hatte ich den Verdacht, dass es nicht allen Schriftstellern gut bekommt, zu wissen, dass der Text, den sie schreiben, wahrscheinlich nie dem kritischen Blick einer breiten Öffentlichkeit ausgesetzt sein wird. Als Allegorie der menschlichen Existenz oder auch spezieller der sowjetischen Gesellschaft gelesen, dürfte sich der Roman aber als überaus ergiebig erweisen. Nur muss der Leser akzeptieren, dass auch die Autoren in dem Experiment, an dem wir alle teilnehmen, keinen Sinn und Zweck zu entdecken vermochten.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 2. 3 Romane in einem Band. Deutsch von Aljonna Möckel (»Picknick am Wegesrand«), Welta Ehlert (»Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang«) und Reinhard Fischer (»Das Experiment«). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2010. 912 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz

978-3-596-18074-5Roman um einen jungen, jüdischen Tausendsassa, der in den Nachkriegsjahren in Montreal eine fieberhafte geschäftliche Tätigkeit entwickelt, um in den Besitz eines Sees zu gelangen, an dem er Hotels und ein Ferienlager errichten möchte. Er gründet zu diesem Zweck eine Filmproduktion, die Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern dokumentiert. Da Duddy jedoch einen in Hollywood durchgefallenen, avantgardistischen Regisseur anheuert, muss er all seine Überredungskünste aufbringen, um seinen ersten Film als Kunstwerk verkaufen zu können. Nebenbei holt er seinen weggelaufenen Bruder Lennie wieder zurück und rettet dessen Medizinstudium, fährt, wenn das Geld mal wieder knapp wird, zusätzliche Schichten im Taxi seines Vaters, vereinigt seinen totktranken Onkel wieder mit dessen Frau, vermittelt hier und da einige kleinere Geschäfte, wird unfreiwillig als Drogenkurier eingesetzt und erleidet, wie nicht anders zu erwarten, einen ordentlichen Nervenzusammenbruch. Und natürlich kommt auch die Liebe vor:

»Ich kapier’s nicht«, sagte Duddy nachher. »Stell dir mal vor, Kerle heiraten und hängen sich für ihr ganzes Leben an ein einziges Weib, dabei laufen so viele herum.«
»Menschen verlieben sich«, sagte Yvette. »Das kommt vor.«
»Es stürzen auch Flugzeuge ab«, sagte Duddy.

Erzählt wird all dies in einem hohen Tempo und mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Sowohl die Milieuschilderungen als auch die Charaktere sind durchweg überzeugend. Nur das Ende des Romans fällt ein klein wenig ab; hier scheint Richler der entscheidende Einfall gefehlt zu haben.

Erstaunlich ist, dass dieser Roman bereits 1959 erscheinen ist – er war Richlers Durchbruch –, seine Verfilmung 1975 sogar für einen Oscar nominiert war, er aber erst 2007 auf Deutsch erschienen ist. Das scheint dafür, dass Richler als einer der bedeutendsten Autor Kanadas gilt, eine ungewöhnlich lange Zeitspanne zu sein. Wollen wir hoffen, dass Richler auch spät noch die Leser findet, die er verdient.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Fischer 18074. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. 432 Seiten. 9,95 €.

Charles Dickens: Bleakhaus

Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekantesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summersons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahlreichen Druckfehlern. 14,90 €.