Hazel Hutchison: Henry James

Hutchison-JamesWie an anderer Stelle bereits erwähnt, erfährt Henry James im Vorfeld der 100. Wiederkehr seines Todestages eine kleine Renaissance in Deutschland. Dazu gehört auch die Veröffentlichung einer kurzen, populären Biographie beim Parthas Verlag. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen, und das Elend mit dem Buch beginnt bereits im Impressum, dem nicht zu entnehmen ist, wann und wo das Original einst erschienen ist (London: Hesperus Press, 2012). Die Autorin Hazel Hutchison ist, so der Waschzettel, „spezialisiert auf die Literatur des 19. Jahrhunderts“, eine Behauptung, die ich nicht per se in Zweifel ziehen will, … Für diese kurze Biographie wenigstens hat sie annähernd genug gelesen. Insgesamt kann man unempfindlicheren Lesern das Buch durchaus in die Hand geben, bei sensibleren Naturen würde ich davon abraten.

Das Buch ist eine jener Komplettkatastrophen, die nur selten in dieser Reinheit zutage treten: Die Autorin verfügt entweder nicht über ausreichend Bildung für das, worüber sie schreibt, oder sie hat schlicht schlampig gearbeitet, das Deutsch der Übersetzerin ist schlecht und ihre Übersetzung zumindest an einigen Stellen schlicht falsch und schließlich liegt auch noch ein Totalversagen der Lektorin vor, deren Namen der Verlag – vielleicht zur Strafe? – im Impressum ausdrücklich anführt.

Beginnen wir mit der Autorin: Mag es gerade noch so angehen, William Makepeace Thackeray als „comic novelist“ zu charakterisieren, so ist es ganz sicher falsch, jenes Fort, dessen Beschießung den Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs markiert, Fort Summer zu nennen (das allerdings könnte auch auf die Kappe von Übersetzerin oder Lektorin gehen; ich habe die Originalstelle nicht ansehen können) und es nach North, statt richtig nach South Carolina zu verlegen. Auch die Behauptung, der 14-jährige Henry James habe Gemälde der Präraffaeliten in der Londoner National Gallery gesehen, bezeugt die weitgehende Ahnungslosigkeit der Autorin, was die allgemeine Kultur des 19. Jahrhunderts angeht. (Es mag durchaus sein, dass James bereits um 1857 Bilder der Schule angeschaut hat, aber wenn, dann in der Royal Academy; die Sammlung der National Gallery enthielt zu dieser Zeit noch gar keine zeitgenössischen Werke.) Auch, dass sie zu faul ist nachzuschlagen, wie alt Turgenjew im November 1875 war, als James ihn kennenlernte, und sich mit einem nicht nur ungefähren, sondern einfach falschen „um die fünfzig“ begnügt, wirft kein gutes Licht auf das Buch.

Es ist durch die Übersetzung nicht besser geworden: Bereits die Übersetzung der oben erwähnten Phrase vom „comic novelist“ mit „Komödiendichter“ ließ mich Arges befürchten, aber dies ist nur der Auftakt zu einer ganzen Bonanza von Rechtschreibfehlern, willkürlich gesetzten oder weggelassenen Kommas, fehlenden Apostrophen, adjektivisch gebrauchten Adverbien, grammatikalisch falschen Konstruktionen, falschen „dass“, unglücklichen Übersetzungen Falscher Freunde und gröbsten stilistischen Schnitzern, dass es bald aufhört, ärgerlich zu sein, und sich der Leser köstlich über die schiere Menge an Patzern zu amüsieren beginnt.

All dies hätte durch das Lektorat aufgefangen werden müssen, doch ist dies nicht nur nicht geschehen, die Lektorin hat ihren Beitrag zum Gelingen der vollständigen Katastrophe geleistet: So teilt uns etwa der Text mit, dass sich das Ehepaar Edith und Teddy Wharton 1905 ein Automobil zugelegt hatte, in dem herumkutschiert zu werden, Henry James offenbar großen Spaß bereitete. Auf der gegenüberliegenden Seite wird dies illustriert durch ein Bild, das das Ehepaar Wharton und Henry James angeblich 1904 in dem betreffenden Automobil zeigt. Auf S. 82 bekommen wir ein kleines Porträt-Bild von Constance Fenimore Woolson zu sehen, das sie im Jahre 1887 zeigt; ergänzend bringt S. 101 ein nahezu identisches Bild angeblich aus dem Jahr 1890. Hinzukommen falsche Worttrennungen, und sogar einer der heute so selten gewordenen Zwiebelfische hat es ins Buch geschafft.

Kurz gesagt: Mir ist seit Jahren kein so durch und durch schlampig gemachtes Buch mehr in die Hand gekommen. Mag sein, hier wurde ein neuer Standard begründet!

Hazel Hutchison: Henry James. Übersetzt von Ute Astrid Rall. Berlin: Parthas, 2015. Pappband, 224 Seiten. 24,80 €.

P.S.: Noch ein Detail am Rande: Das Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek unter dem falschen Autorennamen Hutchinson erfasst. Vielleicht wird es ja so gnädigerweise unauffindbar.

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren

James-Tagebuch-50-JahreHenry James hat eine bedeutende Anzahl von Erzählungen geschrieben, die zusammen an die 4.700 Seiten füllen, was gut 40 % seines erzählerischen Gesamtwerks entspricht. Das Phänomen, dass die Erzählung in ihren verschiedenen kürzeren Formen während des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Roman langsam aber sicher an Boden verloren hat und heute jede Erzählung, die es – unter welchen setzerischen Bedingungen auch immer – auf 150 Seiten oder mehr bringt, vom Vertrieb sofort als Roman ausgeschrien wird, ist hier schon an einigen Stellen thematisiert worden. Für James boten kürzere Erzählungen einerseits die Möglichkeit eines relativ stetigen und sicheren literarischen Einkommens, andererseits lieferten sie ihm ein disziplinierendes Gerüst, denn sie entstanden in der Regel unter dem Druck konkreter Erscheinungstermine.

Manesse schöpft schon seit einigen Jahren aus dem reichen Fundus der Jamesschen Erzählungen und bringt immer wieder Sammlungen mit bislang unübersetzten Stücken heraus. Diesmal hat man mit Friedhelm Rathjen einen Übersetzer gefunden, dem es gelingt, die von James mit Sorgfalt ausdifferenzierten unterschiedlichen Ton- und Stillagen der einzelnen Erzähler auch im Deutschen herauszuarbeiten. Der vorgelegte Band ist eine hübsche Gelegenheit, Henry James als Erzähler kennenzulernen. Die sechs versammelten Erzählungen sind:

Louisa Pallandt (1888)

Der Erzähler ist ein alter, amerikanischer Junggeselle, der in Bad Homburg beim Warten auf die Ankunft seines jungen Neffen, den er mit den Sehenswürdigkeiten Europas vertraut machen soll, seine alte Liebe Louisa Pallandt und deren Tochter Linda wiedertrifft. Louisa hat ihn einst für einen reicheren Ehekandidaten sitzen lassen, der sich allerdings als Bankrotteur erwies, bald verstorben ist und Louisa und die gemeinsame Tochter in relativer Armut zurückgelassen hat. Louisa führte seitdem ein unruhiges Wanderleben in Europa, das im 19. Jahrhundert zahlreichen US-Amerikanern ein preiswerteres Leben ermöglichte. Der Erzähler begegnet seiner alten Liebe mit einiger Reserviertheit, doch als schließlich sein Neffe Archie zu der Gruppe stößt, geschieht das stets Unvermeidliche, wenn attraktive junge Leute aufeinandertreffen. Doch wird das junge Glück von der plötzlichen Abreise der Damen unerwartet unterbrochen.

Erst Wochen später teilt Linda Archie in einem Brief mit, dass sie sich inzwischen mit ihrer Mutter am Lago Maggiore aufhält. Von Archies Verliebtheit getrieben, reisen die Herren ebenfalls dorthin, doch gleich bei der ersten Begegnung zeichnet Louisa dem Erzähler ein recht dunkles Bild von ihrer Tochter. Diese sei ein kaltes, herzloses Wesen, von ihr selbst dazu erzogen, um jeden Preis eine hohe gesellschaftliche Stellung und Reichtum zu erlangen. Louisa eröffne ihm dies, um Buße zu tun für ihre eigene ehemalige Grausamkeit, und werde deshalb auch dafür sorgen, dass Archie nicht in den Fängen dieser Sirene ende. Der Erzähler bleibt ebenso verstört zurück wie der Leser, doch sind in dieser ersten Erzählung bereits die zentralen Themen der Sammlung vorgegeben: Liebe, romantische Leidenschaft und bürgerliche Ehe sowie das für James überhaupt wichtige Motiv der Tradierung und Widerspiegelung sozialer und psychologischer Muster in unterschiedlichen Beziehungen beziehungsweise Generationen.

Der Beldonald-Holbein (1901)

ist die einzige Erzählung dieser Sammlung, in der es nicht in irgendeiner Weise um die Schwierigkeiten der Vermittlung von romantischer Liebe und bürgerlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand geht. Erzählt wird vielmehr vom Auftauchen einer älteren Dame mit einem Holbeinschen Charaktergesicht in der Londoner Gesellschaft. Sie soll eigentlich als hässliche Gegenfolie der um ihren Status als Schönheit besorgten Lady Beldonald dienen und ist zu diesem Zweck extra aus Amerika eingeführt worden, wird aber bei ihrem ersten Besuch im Atelier des Malers, der der Erzähler dieser Anekdote ist, als Modell entdeckt. Die Lady, die eigentlich portraitiert werden sollte, verhindert zwar, dass ein Bild ihrer Gefährtin entsteht, erträgt aber ihren Ruhm als Holbein für eine Weile, bevor sie sie zurück nach Amerika verfrachtet. Dort stirbt die vom Ruhm Abgeschnittene nach nur kurzer Zeit an Vereinsamung. Diese späte Erzählung, die sich über den seltsam schiefen Gegensatz von Oberflächlichkeit bei gleichzeitiger hoher Kultiviertheit in London einerseits und der US-amerikanischen Ignoranz gegenüber der europäischen Kulturtradition andererseits lustig macht, ist ein mildes satirisches Kabinettstück, hängt mit den übrigen Erzählungen des Bandes aber nur lose zusammen.

Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren (1879)

erzählt die Geschichte eines älteren englischen Generals, der nach vielen Jahren den Ort seiner ersten großen Liebe wieder aufsucht: Florenz. Dort trifft er auf einen jungen Landsmann, der sich zu der Tochter der ehemaligen Angebeteten des Generals in einer nahezu identischen Beziehung befindet wie der General einstmals zur Mutter. Da der General der Auffassung ist, die Mutter habe ihm seinerzeit übel mitgespielt und sei überhaupt eine unmoralische Kokotte gewesen, macht er es sich zur Aufgabe, den jungen Mann vor demselben Schicksal zu bewahren. Am Ende erweist sich wieder einmal, dass es immer einen Narren mehr gibt, als jeder glaubt.

Der spezielle Fall (1898)

erzählt die Geschichte zweier Affären bzw. ihrer Folgen: Zum einen hatte der junge Barton Reeve eine Affäre mit einer verheirateten Frau, Mrs. Kate Despard, Gattin eines britischen Colonels, von der er nun erwartet, sich scheiden zu lassen, was Mrs. Despard aber trotz ihrer Abneigung gegenüber ihrem Ehemann nicht willig zu tun ist. Zum anderen hatte der mit Barton befreundete Philip Mackern eine Affäre mit der bereits anderweitig verlobten jungen Freundin Mrs. Despards, Margaret Hamer, die sich weigert, sich von ihrem in Indien als Offizier stationierten Verlobten loszusagen. Beide Männer versuchen über die jeweils andere Frau Druck auf ihre Angehimmelte auszuüben. Wie alles tatsächlich ausgeht, interessiert James schon gar nicht mehr; ihm genügt es, die Überschreitungen der gesellschaftlichen Etikette und die daraus resultierenden Hilflosigkeiten der Beteiligten zu schildern, die sich aus der gesellschaftlich nicht sanktionierten Intimität der Affären ergeben.

Die Eindrücke einer Kusine (1884)

ist ebenfalls als Tagebuch geschrieben: Die alte Jungfer Catherine Condit begleitet ihre reiche Kusine Eunice aus Europa nach New York, obwohl es ihr dort gar nicht behagt. Eunice ist noch minderjährig, erwartet aber die Übertragung eines erheblichen Vermögens, das lange Jahre von einem Mr. Caliph als Treuhänder verwaltet wurde. Während sich die Damen in New York etwas langweilen, beginnt der Halbbruder von Mr. Caliph, Adrian Frank, Eunice den Hof zu machen, während Mr. Caliph vorgibt, dass es bei der Übertragung des Vermögens noch einige Schwierigkeiten zu bewältigen gibt. Nach einigem Hin und Her stellt sich natürlich heraus, dass Mr. Caliph Eunices Vermögen veruntreut hat und nun versucht, ihr in Form des Vermögens seines Halbbruders einen Ausgleich zu verschaffen. Eunice aber will nicht Adrian heiraten, sondern ist verliebt in Mr.Caliph, während sich Adrian mittlerweile in Catherine verliebt hat. Auch die Auflösung dieser Verwicklungen kann man sich selbst zurechtlegen, so wie das meiste andere an dieser Erzählung, die für ihren Inhalt zweifellos viel zu lang geraten ist.

Die entscheidende Bedingung (1900)

ist das Schmuckstück dieser Sammlung. Erzählt wird die Geschichte zweier Engländer, Bertram Braddle und Henry Chilver, die bei ihrer Rückreise aus den USA, die sie hauptsächlich bereist haben, um die vielbesprochenen amerikanischen Frauen kennenzulernen, Mrs. Damerel begegnen und sich beide in sie verlieben. Bertram als der ältere und situiertere von beiden ist derjenige, der so etwas wie eine Beziehung mit ihr beginnt, sich nach einiger Zeit in England auch mit ihr verlobt, aber von einem nagenden Zweifel beherrscht wird, ob Mrs. Damerel nicht eine dunkle Vergangenheit habe. Dieser Zweifel wird noch dadurch geschürt, dass ihm seine Verlobte sagt, sie habe ihm durchaus etwas zu gestehen, werde es ihm aber erst sechs Monate nach der Hochzeit verraten, wenn er es dann noch wissen wolle. Anstatt seine Geliebte zu heiraten, verschwindet Bertram wieder in die USA, um dort – vergeblich – Nachforschungen über sie anzustellen.

Seine Abwesenheit nutzt Henry dazu aus, Mrs. Damerel den Hof zu machen, die denn auch die Verlobung mit dem abwesenden Bertram löst und Henry heiratet. Sieben Monate nach der Hochzeit treffen die beiden Freunde einander wieder in London, und Bertram muss zu seinem innerlichen Entsetzen erfahren, dass Henry seine Frau nicht nur unter derselben Bedingung geheiratet hat, sondern von sich aus die Schweigefrist um weitere sechs Monate verlängert hat. Bertram bricht daraufhin den Kontakt zum Ehepaar wieder ab, taucht aber weitere acht Monate später bei Mrs. Chilver auf, um zu versuchen, von ihr das dunkle Geheimnis ihres Vorlebens zu erfahren. Der Schluss dieser Erzählung soll hier selbstverständlich nicht verraten werden.

James muss es großes Vergnügen gemacht haben, die einander umkreisenden Gespräche dieser beiden Gentlemen niederzuschreiben, denen es – und wenn etwas sie auch noch so plagt – niemals erlaubt ist, eine unverstellte Äußerung zu tun, sondern die stets mit großem Geschick um den heißen Brei herumreden. Selbst an der Stelle, wo sie allen Grund hätten, einander zu hassen oder zu verachten, bewahren sie eine bewundernswerte Contenance und soziale Distanz. Und natürlich erweist sich ihnen am Ende die Amerikanerin in jeglicher Hinsicht als überlegen. Wer James kennen und schätzen lernen möchte, beginne mit dieser Erzählung!

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Aus dem Englischen übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2015. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 406 Seiten. 26,95 €.

Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.

Aus gegebenem Anlass (XVII) – Bloomsday

Doch Malachias’ Erzählung begann sie mit kaltem Grausen zu erfüllen. Er beschwor die Szene vor ihnen herauf. Die geheime Tür in der Täfelung neben dem Kamin glitt zurück, und in der Mauerhöhlung erschien … Haines! Wem von uns lief es da nicht eiskalt über den Rücken? Er hatte in der einen Hand ein Portfolio mit keltischer Literatur, in der anderen aber eine Phiole, auf welcher das Wort Gift zu lesen stand. Überraschung, Grausen, Ekel malten sich auf allen Gesichtern, indessen er sie mit einem gräßlichen Grinsen betrachtete. Ich sah einen solchen Empfang voraus, begann er mit schauerlichem Lachen, für welches, so scheint es, der Geschichte die Schuld zu geben ist. Ja, es ist wahr. Ich bin der Mörder von Samuel Childs. Und welche Strafe ist mir geworden! Das Inferno hat keine Schrecken mehr für mich. Davon mag meine Erscheinung wohl künden. Donner und Ewigkeit, wie soll ich überhaupt wohl Ruhe finden, murmelte er dumpf, wo ich die ganze Zeit durch Dublin wandere mit meinen lumpigen paar Liedern und er hinter mir her ist wie ein Gespenst oder ein Nachtmahr? Meine Hölle und die Irlands liegt in diesem Leben. Wie habe ich nicht versucht, das Verbrechen in mir zu tilgen! Zerstreuungen, Saatkrähenschießen, die ersische Sprache (er zitierte ein weniges davon), Laudanum (er hob die Phiole an seine Lippen), Wohnen unter freiem Himmel. Vergebens! Sein Geist umschleicht mich. Nur im Rausch noch finde ich Hoffen … Ah! Vernichtung! Der schwarze Panther! Mit einem Schrei war er jäh wieder verschwunden, und die Täfelung glitt an ihre Stelle zurück. Einen Augenblick später erschien sein Kopf in der Thür gegenüber und sagte: Trefft mich am Bahnhof Westland Row um zehn nach elf. Fort war er!

James Joyce:
Ulysses

Aus gegebenem Anlass (XII) – Bloomsday

So isses, klar. Wat sächste? Inner Flüsterkneipe. Stockvoll. Ick säi di, Jung. Bantam, zwo Tage alkoheilfro. Säuft nischt wie billigen Rotwein. Ab durch die Mitte! Hier, kuckmal, kuck doch mal her. Kruzitürken, ich schlag doch lang hin. Und zum Frisör ist er auch gewesen. Zu voll zum sprechen. Mit ’nem Kerl von der Eisenbahn. Wie kommste da denn zu? Ne Oper, die ihm gleicht? Rose of Castille. Rows of cast. Polizei! Bißchen H2O für ’nen Herrn, dem die Sinne schwinden. Kuck doch mal Bantam seine Blümchen. Ach herrjemineh, der fängt gleich an zu hollern. O Colleen Bawn, mein schickes Miezchen. Mensch, halt doch die Klappe! Hau dem Kerl mal die Schluckluke zu, aber feste. Hatte den Gewinner heute, bis ich dann den todsicheren getippt hab. Der Deubel soll dem Stephen Hand die Rübe abreißen, daß er mir die biestige Mähre angedreht hat. Traf ’n Telegrammjungen, der grad ’n Tele von dem graußen Bass sei’m Sattelplatz zum Polizei-Depot brachte. Steckt ihm ’n Vierpenny und macht das Ding über Dampf auf. stute groß in form sofort setzen. Ne ganze Guinee auf so ne Niete. Toller Kram, das. So wahr wies Evangelium. Grober Unfug? Aber sicher, glaub ich ja auch. Klare Sache. Landet er glatt für im Stock, wenn der Polyp hinter das Spielchen kommt. Madden setzt auf Madden seins ’nen madigen Einsatz. O Wollust, du unsere Zuflucht und unsere Stärke. Aufbruch. Mußt du schon gehn? Ab zu Mama. Auf Abruf bereit. Versteck mir bloß einer die roten Ohren. Wenn er mich sieht, sitz ich drin. Muß in die Heia, unser Bantam. Orrevoah, mong viöh. Vergiß nicht die Bliemchen für sie. Von wem hast du den Tip gehabt eigentlich, für das Füllen? Unter uns Pastorentöchtern. Mal ehrlich. Von Meister Iste, ihrem vertrauten Manne. Kein Schmu, von dem ollen Leo. Also alles was recht ist, so wahr mir Gott. Ich laß mich kielholen, wenn ich das. So ein Dreckskerl von einem scheinheiligen Lügner. Weshalb haste mir nischt jesacht davon? Ja, also, sag ich, wenn das nich die typisch jiddsche mloche is, ja, dann will ich ne missemeschune haben. Und von Schäbigkeit zu Schäbigkeit, Amen.

James Joyce:
Ulysses

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Jahresrückblick 2013

Auch für das vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren des Jahres. Dieses Mal mit einer strengen Teilung von Klassikern und Neuerscheinungen.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2013:

  1. Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund – ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
  2. Theodor Fontane: Effi Briest – ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist.
  3. Uwe Johnson: Jahrestage – einer der großen und bedeutenden deutschen Romane des 20. Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2013:

  1. David Markson: Wittgensteins Mätresse – wahrscheinlich nicht wirklich schlecht, aber eine Enttäuschung gemessen an der Stellung, die dem Buch in der Geschichte der literarischen Postmoderne zugeschrieben wird.
  2. Friedrich von Borries: RLF – triviales, unverbindliches und schlecht erfundenes Gefasel um einen Volldeppen aus der Werbebranche.
  3. Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit – ein weiteres Beispiel dafür, wie abgrundtief dumm hoch intelligente und gebildete Menschen sein können.