William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung

Heiraten oder Hängen bleibt sich gleich.

Shakespeare-Guenther-13Auch eines der Stücke Shakespeares, mit denen sich die moderne Kritik schwer tut, endet es doch ausnahmsweise mit einer so unübersehbaren, platten und chauvinistischen Moral, dass es für den kritischen Menschen von heute das ganze Stück ruiniert. Da ist es doch einmal besser, kein Intellektueller zu sein und es so zu machen, wie das Publikum, das sich an der gut gemachten Komödie erfreut und Kätchens das Stück beschließende Predigt schlicht achselzuckend auf sich beruhen lässt. Denn gut gemacht ist das Stück:

Shakespeare exzelliert hier in der Parallelführung zweier Handlungsstränge. Zum einen geht es um das Liebeswerben Lucentios um Bianca, zum anderen um die Erziehung ihrer eigensinnigen Schwester Katharina durch den ihr frisch angetrauten Petruchio. Lucentio ist ein junger Mann aus Pisa, der nach Padua zum Studium kommt. Gleich und auf Anhieb verliebt er sich aber in Bianca, die Tochter Baptistas, und um sie umschmeicheln zu können, lügt er sich als Lehrer verkleidet in Baptistas Haus. Baptista allerdings hat ein dringenderes Problem, als die liebliche Bianca an den Mann zu bringen: Biancas ältere Schwester Katharina ist als unverträgliche Zanknudel verschrieen. Um sie aus dem Haus zu bekommen, verhängt Baptista das Gebot, dass Bianca erst nach der Vermählung Katharinas an die Reihe komme.

Da trifft es sich gut, dass bei einem der Bewerber um Biancas Hand ein alter Freund eintrifft: Petruchio, gerade Erbe des väterlichen Reichtums geworden, sucht eine Frau zur Ergänzung seines Vermögens und Haushalts. Ihm ist nicht bange vor Katharina und ihren Launen und der Überzeugung, schon Schlimmeres durchgestanden zu haben als ein bisschen Zank. So wirbt er um Katharina bei ihrem Vater, teilt dann seiner Braut in spe in einem kurzen Wortgefecht seine Absichten mit und verabschiedet sich in Geschäften nach Venedig. Am nächsten Sonntag taucht er erst kurz vor der Trauung in einem unmöglichen Aufzug auf, lässt sich unter unmöglichem Benehmen trauen und verschwindet mit seiner Frau umgehend aus Padua.

Während nun in Padua für die Bewerber Biancas der Weg frei ist, wird uns im Hause Petruchios Katharinas Erziehung vorgeführt: Der Ehemann benimmt sich ärger als seine Frau es je könnte und traktiert sie gleichzeitig durch Essens- und Schlafentzug. Dies Spielchen treibt er solange, bis Katharina sich in die Machtverhältnisse fügt, zu allem Ja und Amen sagt und als die Klügere ihrem Ehemann, dem sie nun einmal ausgeliefert wurde, endlich nachgibt. Die letzte Probe liefert dann ein Fest, das zugleich drei Hochzeiten feiert: Die Katharinas und Petruchios, die Biancas und Lucentios und eine weitere, die der Symmetrie wegen benötigt wird. Hier führt Petruchio seinen Sieg über Katharina öffentlich vor, indem er – im Gegensatz zu den anderen Ehemännern – in der Lage ist, seiner Ehefrau geradewegs Befehle zu erteilen, ohne irgendeinen Widerstand bei ihr zu erregen. Das ganze gipfelt in eben jener schon erwähnten Moralpredigt Katahrinas über die Rolle der Ehefrau als gehorsame Untertanin und Dienerin ihres Ehemannes.

Man kann nun versuchen, mit diesem Schluss auf ganz verschiedene Weise fertig zu werden: Man kann ihn ironisieren – was nicht das Schlimmste ist, was die Tradition mit Shakespeares Stücken so getrieben hat –, man kann ihn kritisieren – was etwa auch der Übersetzer Frank Günther tut –, man kann ihn als dramaturgische Notwendigkeit begreifen – schließlich ist es die Aufgabe des Dramas, die Harmonie der Bühnengesellschaft wiederherzustellen – oder man kann ihn schlicht auf sich beruhen lassen – was klugerweise die meisten Zuschauer tun. Und doch ist es bemerkenswert, dass Shakespeare, dessen Stücke in den meisten Fällen von platten moralischen Belehrungen so angenehm frei sind, gerade dort, wo er einmal auf gut einer Seite die offizielle Moral seiner Zeit unverstellt zu Wort kommen lässt, uns gleich ganz und gar unmodern erscheint. Ob er überhaupt berühmt wäre, wenn er geschrieben hätte, was er wirklich dachte?

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 13. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 304 Seiten. 33,– €.

Jane Austen: Verstand und Gefühl

austen-verstand-gefuehlDer erste veröffentlichte Roman Jane Austens, nachdem sie viele Jahre nur für die Schublade geschrieben hatte. Es handelt sich um eine scharfe und intelligente Parodie des zeitgenössischen empfindsamen Romans, nicht ohne Schwächen im moralischen Abschluss, die aber durch das gnadenlos ökonomische Bild der englischen Gesellschaft und einen beißenden Spot der Erzählerin mehr als aufgewogen werden.

Die Handlung sollte auch in Deutschland aufgrund der Verfilmungen im Großen und Ganzen bekannt sein: Die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood werden zusammen mit ihrer Mutter und einer noch jüngeren Schwester durch den unglücklich frühen Tod des Vaters mit einer nur gerade so ausreichenden Versorgung zurückgelassen. Ihr Halbbruder John, der der Haupterbe des väterlichen Vermögens ist, wird von seiner Frau von dem väterlichen letzten Wunsch, er möge sich um seine Schwestern kümmern, abgebracht. So sind die jungen Frauen zwar in bescheidenem Umfang finanziell abgesichert, auf eine Ehe haben sie bei ihrem geringen persönlichen Vermögen aber nur Aussichten, falls sich zufällig ein vermögender Herr in sie verlieben würde. Bald stellen sich zwei potenzielle Bewerber ein, die sich aber beide als anderweitig engagiert erweisen. Der sich für Elinor interessierende Edward, ein Bruder von Johns Frau, ist bereits verlobt, und Willoughby, der Marianne intensiv den Hof macht, verschwindet eines Tages nach London, wo er sich später als der Verlobte eines reichen, adeligen Fräuleins erweisen wird.

Warum und auf welche Weise es dennoch gut ausgeht, braucht hier nicht erzählt zu werden und ist für die Qualität des Romans auch eher unerheblich. Wesentlich ist dagegen der charakterliche Gegensatz der beiden Schwestern, den schon der Titel in zwei Schlagwörtern zusammenfasst: Elinor hat ihre Gefühle weitgehend unter Kontrolle, versucht den Forderungen der guten Gesellschaft nachzukommen, sieht ihre Zukunftsaussichten stets realistisch, wagt wenig zu hoffen etc. Marianne dagegen ist das Muster der empfindsamen Protagonistin: sich ganz ihren Gefühlen überlassend, verächtlich gegenüber der gesellschaftlichen Höflichkeit, ideologisch beschränkt bis zur Dumpfheit (man kann nur einmal lieben, wahre Liebe ist absolute Seelenharmonie und ähnlich hochtrabender Pubertätsunfug), unfähig zu einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Umwelt etc. Beide Schwestern werden durch den Verlauf des Romans in gewisser Weise reformiert, wenn auch die Besserung Mariannes deutlicher ausfällt als die ihrer Schwester.

Diese Wandlungen finden vor dem Hintergrund einer harschen und ironischen Beschreibung der englischen besseren Gesellschaft statt: Hier regiert ausschließlich das Geld, und am erfolgreichsten sind jene Dummköpfe, die genau dieses Teil des menschlichen Miteinanders begreifen und sonst nicht viel mehr. Kaum jemand genügt den Bildungsansprüchen, die insbesondere von Elinor verkörpert werden; hat man nicht Kinder oder Klatsch als Thema, muss man sich ins Kartenspiel flüchten, wenn man einander nicht anöden möchte. Und die meisten Figuren sind von einer zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit, dass man schreien möchte. Natürlich sind dies alles Karikaturen, doch die Variationsbreite und die nonchalante Boshaftigkeit der Erzählerin machen diese Charaktere zu einem reinen Vergnügen. Wie sooft im Roman des 19. Jahrhunderts spielt sich das Wesentliche im Hintergrund ab.

Allen, die Jane Austen noch nicht gelesen haben, sei die präzis und mit viel trockenem Humor übersetzte Ausgabe bei Reclam empfohlen.

Jane Austen: Verstand und Gefühl. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20409. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 466 Seiten. 7,95 €.

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren

James-Tagebuch-50-JahreHenry James hat eine bedeutende Anzahl von Erzählungen geschrieben, die zusammen an die 4.700 Seiten füllen, was gut 40 % seines erzählerischen Gesamtwerks entspricht. Das Phänomen, dass die Erzählung in ihren verschiedenen kürzeren Formen während des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Roman langsam aber sicher an Boden verloren hat und heute jede Erzählung, die es – unter welchen setzerischen Bedingungen auch immer – auf 150 Seiten oder mehr bringt, vom Vertrieb sofort als Roman ausgeschrien wird, ist hier schon an einigen Stellen thematisiert worden. Für James boten kürzere Erzählungen einerseits die Möglichkeit eines relativ stetigen und sicheren literarischen Einkommens, andererseits lieferten sie ihm ein disziplinierendes Gerüst, denn sie entstanden in der Regel unter dem Druck konkreter Erscheinungstermine.

Manesse schöpft schon seit einigen Jahren aus dem reichen Fundus der Jamesschen Erzählungen und bringt immer wieder Sammlungen mit bislang unübersetzten Stücken heraus. Diesmal hat man mit Friedhelm Rathjen einen Übersetzer gefunden, dem es gelingt, die von James mit Sorgfalt ausdifferenzierten unterschiedlichen Ton- und Stillagen der einzelnen Erzähler auch im Deutschen herauszuarbeiten. Der vorgelegte Band ist eine hübsche Gelegenheit, Henry James als Erzähler kennenzulernen. Die sechs versammelten Erzählungen sind:

Louisa Pallandt (1888)

Der Erzähler ist ein alter, amerikanischer Junggeselle, der in Bad Homburg beim Warten auf die Ankunft seines jungen Neffen, den er mit den Sehenswürdigkeiten Europas vertraut machen soll, seine alte Liebe Louisa Pallandt und deren Tochter Linda wiedertrifft. Louisa hat ihn einst für einen reicheren Ehekandidaten sitzen lassen, der sich allerdings als Bankrotteur erwies, bald verstorben ist und Louisa und die gemeinsame Tochter in relativer Armut zurückgelassen hat. Louisa führte seitdem ein unruhiges Wanderleben in Europa, das im 19. Jahrhundert zahlreichen US-Amerikanern ein preiswerteres Leben ermöglichte. Der Erzähler begegnet seiner alten Liebe mit einiger Reserviertheit, doch als schließlich sein Neffe Archie zu der Gruppe stößt, geschieht das stets Unvermeidliche, wenn attraktive junge Leute aufeinandertreffen. Doch wird das junge Glück von der plötzlichen Abreise der Damen unerwartet unterbrochen.

Erst Wochen später teilt Linda Archie in einem Brief mit, dass sie sich inzwischen mit ihrer Mutter am Lago Maggiore aufhält. Von Archies Verliebtheit getrieben, reisen die Herren ebenfalls dorthin, doch gleich bei der ersten Begegnung zeichnet Louisa dem Erzähler ein recht dunkles Bild von ihrer Tochter. Diese sei ein kaltes, herzloses Wesen, von ihr selbst dazu erzogen, um jeden Preis eine hohe gesellschaftliche Stellung und Reichtum zu erlangen. Louisa eröffne ihm dies, um Buße zu tun für ihre eigene ehemalige Grausamkeit, und werde deshalb auch dafür sorgen, dass Archie nicht in den Fängen dieser Sirene ende. Der Erzähler bleibt ebenso verstört zurück wie der Leser, doch sind in dieser ersten Erzählung bereits die zentralen Themen der Sammlung vorgegeben: Liebe, romantische Leidenschaft und bürgerliche Ehe sowie das für James überhaupt wichtige Motiv der Tradierung und Widerspiegelung sozialer und psychologischer Muster in unterschiedlichen Beziehungen beziehungsweise Generationen.

Der Beldonald-Holbein (1901)

ist die einzige Erzählung dieser Sammlung, in der es nicht in irgendeiner Weise um die Schwierigkeiten der Vermittlung von romantischer Liebe und bürgerlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand geht. Erzählt wird vielmehr vom Auftauchen einer älteren Dame mit einem Holbeinschen Charaktergesicht in der Londoner Gesellschaft. Sie soll eigentlich als hässliche Gegenfolie der um ihren Status als Schönheit besorgten Lady Beldonald dienen und ist zu diesem Zweck extra aus Amerika eingeführt worden, wird aber bei ihrem ersten Besuch im Atelier des Malers, der der Erzähler dieser Anekdote ist, als Modell entdeckt. Die Lady, die eigentlich portraitiert werden sollte, verhindert zwar, dass ein Bild ihrer Gefährtin entsteht, erträgt aber ihren Ruhm als Holbein für eine Weile, bevor sie sie zurück nach Amerika verfrachtet. Dort stirbt die vom Ruhm Abgeschnittene nach nur kurzer Zeit an Vereinsamung. Diese späte Erzählung, die sich über den seltsam schiefen Gegensatz von Oberflächlichkeit bei gleichzeitiger hoher Kultiviertheit in London einerseits und der US-amerikanischen Ignoranz gegenüber der europäischen Kulturtradition andererseits lustig macht, ist ein mildes satirisches Kabinettstück, hängt mit den übrigen Erzählungen des Bandes aber nur lose zusammen.

Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren (1879)

erzählt die Geschichte eines älteren englischen Generals, der nach vielen Jahren den Ort seiner ersten großen Liebe wieder aufsucht: Florenz. Dort trifft er auf einen jungen Landsmann, der sich zu der Tochter der ehemaligen Angebeteten des Generals in einer nahezu identischen Beziehung befindet wie der General einstmals zur Mutter. Da der General der Auffassung ist, die Mutter habe ihm seinerzeit übel mitgespielt und sei überhaupt eine unmoralische Kokotte gewesen, macht er es sich zur Aufgabe, den jungen Mann vor demselben Schicksal zu bewahren. Am Ende erweist sich wieder einmal, dass es immer einen Narren mehr gibt, als jeder glaubt.

Der spezielle Fall (1898)

erzählt die Geschichte zweier Affären bzw. ihrer Folgen: Zum einen hatte der junge Barton Reeve eine Affäre mit einer verheirateten Frau, Mrs. Kate Despard, Gattin eines britischen Colonels, von der er nun erwartet, sich scheiden zu lassen, was Mrs. Despard aber trotz ihrer Abneigung gegenüber ihrem Ehemann nicht willig zu tun ist. Zum anderen hatte der mit Barton befreundete Philip Mackern eine Affäre mit der bereits anderweitig verlobten jungen Freundin Mrs. Despards, Margaret Hamer, die sich weigert, sich von ihrem in Indien als Offizier stationierten Verlobten loszusagen. Beide Männer versuchen über die jeweils andere Frau Druck auf ihre Angehimmelte auszuüben. Wie alles tatsächlich ausgeht, interessiert James schon gar nicht mehr; ihm genügt es, die Überschreitungen der gesellschaftlichen Etikette und die daraus resultierenden Hilflosigkeiten der Beteiligten zu schildern, die sich aus der gesellschaftlich nicht sanktionierten Intimität der Affären ergeben.

Die Eindrücke einer Kusine (1884)

ist ebenfalls als Tagebuch geschrieben: Die alte Jungfer Catherine Condit begleitet ihre reiche Kusine Eunice aus Europa nach New York, obwohl es ihr dort gar nicht behagt. Eunice ist noch minderjährig, erwartet aber die Übertragung eines erheblichen Vermögens, das lange Jahre von einem Mr. Caliph als Treuhänder verwaltet wurde. Während sich die Damen in New York etwas langweilen, beginnt der Halbbruder von Mr. Caliph, Adrian Frank, Eunice den Hof zu machen, während Mr. Caliph vorgibt, dass es bei der Übertragung des Vermögens noch einige Schwierigkeiten zu bewältigen gibt. Nach einigem Hin und Her stellt sich natürlich heraus, dass Mr. Caliph Eunices Vermögen veruntreut hat und nun versucht, ihr in Form des Vermögens seines Halbbruders einen Ausgleich zu verschaffen. Eunice aber will nicht Adrian heiraten, sondern ist verliebt in Mr.Caliph, während sich Adrian mittlerweile in Catherine verliebt hat. Auch die Auflösung dieser Verwicklungen kann man sich selbst zurechtlegen, so wie das meiste andere an dieser Erzählung, die für ihren Inhalt zweifellos viel zu lang geraten ist.

Die entscheidende Bedingung (1900)

ist das Schmuckstück dieser Sammlung. Erzählt wird die Geschichte zweier Engländer, Bertram Braddle und Henry Chilver, die bei ihrer Rückreise aus den USA, die sie hauptsächlich bereist haben, um die vielbesprochenen amerikanischen Frauen kennenzulernen, Mrs. Damerel begegnen und sich beide in sie verlieben. Bertram als der ältere und situiertere von beiden ist derjenige, der so etwas wie eine Beziehung mit ihr beginnt, sich nach einiger Zeit in England auch mit ihr verlobt, aber von einem nagenden Zweifel beherrscht wird, ob Mrs. Damerel nicht eine dunkle Vergangenheit habe. Dieser Zweifel wird noch dadurch geschürt, dass ihm seine Verlobte sagt, sie habe ihm durchaus etwas zu gestehen, werde es ihm aber erst sechs Monate nach der Hochzeit verraten, wenn er es dann noch wissen wolle. Anstatt seine Geliebte zu heiraten, verschwindet Bertram wieder in die USA, um dort – vergeblich – Nachforschungen über sie anzustellen.

Seine Abwesenheit nutzt Henry dazu aus, Mrs. Damerel den Hof zu machen, die denn auch die Verlobung mit dem abwesenden Bertram löst und Henry heiratet. Sieben Monate nach der Hochzeit treffen die beiden Freunde einander wieder in London, und Bertram muss zu seinem innerlichen Entsetzen erfahren, dass Henry seine Frau nicht nur unter derselben Bedingung geheiratet hat, sondern von sich aus die Schweigefrist um weitere sechs Monate verlängert hat. Bertram bricht daraufhin den Kontakt zum Ehepaar wieder ab, taucht aber weitere acht Monate später bei Mrs. Chilver auf, um zu versuchen, von ihr das dunkle Geheimnis ihres Vorlebens zu erfahren. Der Schluss dieser Erzählung soll hier selbstverständlich nicht verraten werden.

James muss es großes Vergnügen gemacht haben, die einander umkreisenden Gespräche dieser beiden Gentlemen niederzuschreiben, denen es – und wenn etwas sie auch noch so plagt – niemals erlaubt ist, eine unverstellte Äußerung zu tun, sondern die stets mit großem Geschick um den heißen Brei herumreden. Selbst an der Stelle, wo sie allen Grund hätten, einander zu hassen oder zu verachten, bewahren sie eine bewundernswerte Contenance und soziale Distanz. Und natürlich erweist sich ihnen am Ende die Amerikanerin in jeglicher Hinsicht als überlegen. Wer James kennen und schätzen lernen möchte, beginne mit dieser Erzählung!

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Aus dem Englischen übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2015. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 406 Seiten. 26,95 €.

Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.

Lew Tolstoi: Anna Karenina

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Zum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten.
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Die dritte Wiederlektüre eines Frauen-Romans von Fontane im Rahmen einer kleinen, didaktisch begründeten Reihe. Nach „Mathilde Möhring“, das im Kleinbürgertum spielt, und „Effi Briest“, dem adligen Pendant, nun also das preußische Großbürgertum und die kleine Gelehrtenwelt eines Gymnasialprofessors, der allerdings damals noch etwas galt.

Erzählt wird der Konflikt zwischen der Titelfigur, einer an der Oberfläche schwärmerischen und sentimentalen, in der Substanz aber knochentrockenen Fünfzigerin, die sich aus einfachen Verhältnissen nach oben geheiratet hat, und Corinna Schmidt, der Tochter eines Gymnasialprofessors, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr zukünftiges Wohlleben dadurch zu sichern, dass sie sich von Jennys Sohn Leopold heiraten lässt. Jenny will Corinna gleich aus mehreren Gründen nicht in der Familie haben: Zum einen wäre ihr die ständige Erinnerung an ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zuwider, zum anderen ist Corinna so eigenständig und intellektuell überlegen, dass Jenny kaum hoffen kann, jemals bedeutenden Einfluss auf sie oder ihren Sohn zu nehmen, sollten die beiden heiraten. Wie oft beim grundpessimistischen Fontane, setzen sich die bösen Absichten durch. Man fühlt sich unwillkürlich an die Zusammenfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen durch Doktor Wrschowitz in „Der Stechlin“ erinnert:

Oberklasse gutt, Unterklasse serr gutt, Mittelklasse nicht serr gutt.

Da der alte Meister aber genau wusste, was sein Publikum von ihm erwartete, hat er zum Ausgleich ein Komödienende hinzuerfunden: Der weichliche Leopold bleibt unter der Knute seiner Mutter und kommt zusätzlich unter die einer von allen Familienmitgliedern ungeliebten Ehefrau, Corinna aber heiratet den ihr sowieso immer schon zugedachten Vetter und Junggelehrten Marcell Wedderkopp, der ihr wenigstens einigermaßen wird Paroli bieten können. So weit, so gehöft.

Der Roman ist ein leichte und angenehme Lektüre. Zu bewundern ist aber die höchste Ökonomie, mit der das Buch geschrieben wurde: Exposition, Schürzen des Knotens und Durchführung des Konflikts sind von einer solchen Stringenz, dass das alles mehr der Konzeption eines Theaterstücks ähnelt als einem auf epische Breite angelegten Roman. Sicherlich: Für ein Bühnenstück sind die Nebenfiguren etwas zu zahlreich und ausführlich geraten, auch sind einige Lokalitäten nicht wirklich bühnentauglich, aber was die Konstruktion des ganzen angeht, hat Fontane offenbar bei den Dramatikern einiges gelernt. Die Exposition wird mit der Beschreibung eines einzigen Tages erledigt, eigentlich beinahe nur durch die Beschreibung zweier Abendgesellschaften: Eine im Hause Treibel, die dem gesellschaftlichen Glanz des Hauses und der politischen Karriere des Hausherrn förderlich sein soll, eine in der Wohnung Professor Willibald Schmidts, der mit ein paar Kollegen einen vergnügten Abend bei Oderkrebsen und Schliemannschen Ausgrabungen begeht. Die Beschreibung dieses ersten Tags macht die ersten ⅖ des Romans aus, und alles, was folgt ist nur die konsequente Durchführung der in diesem ersten Teil angelegten Themen.

Wieder einmal durfte ich feststellen, dass ich Fontane umso mehr schätze, je älter ich werde.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 14. Berlin: Aufbau Verlag, 2005. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 374 Seiten. 24,90 €.

Philip Roth: Die Kepesh-Trilogie

Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.

Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.

Roth_LOA_02»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.

Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.

Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:

Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …

Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]

Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:

Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]

Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.

 

Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
(© United Artists 1972)

 

And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.

Roth_LOA_03Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.

In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.

Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.

Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.

Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschluss an diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.

 

Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York

 

People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.

Roth_LOA_08Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.

Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.

Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:

Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«

Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.

Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.

Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?

Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.

  • Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
  • Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
  • Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel

Oft ist der Tod die Pointe im Witz des Lebens.

nabokov_werke_03Dieser eher leichte Unterhaltungsroman mit beinahe tragischem Ausgang entstand unmittelbar im Anschluss an »Die Mutprobe« in der ersten Jahreshälfte 1931. Er hat eine etwas komplexe Entstehungsgeschichte, da er 1936 als erster Roman Nabokovs ins Englische übersetzt wurde. Nabokov war mit der für den britischen Markt erstellten Übersetzung sehr unzufrieden, so dass er sich, als er 1937 eine Anfrage eines US-amerikanischen Verlegers bekam, entschloss, den Text für die nordamerikanische Ausgabe selbst neu zu übersetzen. Er hatte kurz zuvor seinen Roman »Verzweiflung«, der nach »Gelächter im Dunkel« entstanden war, ins Englische übersetzt, wusste also, worauf er sich einließ. Die neue Übersetzung geriet aber – wie das später auch bei der Übersetzung anderer seiner frühen Romane der Fall sein würde – zugleich zu einer gründlichen Überarbeitung. In diesem Fall war die Neugestaltung so weitgehend, dass sich der Herausgeber der deutschen Nabokov-Ausgabe dafür entschieden hat, die deutsche Übersetzung der ursprünglichen Fassung des Romans – »Camera obscura« betitelt – als Variante im Anhang des Buches komplett mitzuliefern. Da ich die spätere Fassung nicht sehr überzeugend fand, habe ich auf die Lektüre der früheren vorerst verzichtet.

Erzählt wird die Geschichte des 30-jährigen Kunsthändlers Albert Albius, der aus seiner ihn  langweilenden bürgerlichen Ehe ausbricht, als er sich in das junge Mädchen Margot, eine Schönheit, die als Platzanweiserin in einem Kino arbeitet, verliebt, die in ihm die Chance zu einer Karriere wittert: Entweder Albert ermöglicht ihr, ihren Traum zu verwirklichen, Filmstar zu werden, oder aber er wird sie heiraten. Margot selbst hat eine frühe Leidenschaft für den Karikaturisten Axel Rex hinter sich, der, wie es der Zufall und der Autor wollen, zum entfernten Bekanntenkreis Alberts gehört und so später an passender Stelle aus der Kulisse heraus auftreten kann.

Albert verfällt Margot weitgehend, finanziert ihren ersten Film, der sich allerdings nur verbrennen lässt, um das Schlimmste zu verhindern, und lebt dann eine ganze Weile neben dem Liebespärchen Margot & Axel her, ohne etwas von ihrer intime Verbindung zu bemerken. Diese emotionale und soziale Blindheit genügt dem Autor aber noch nicht: Als Albert dem Paar endlich auf die Schliche gekommen zu sein scheint, verwickelt ihn Nabokov in einen Autounfall, der ihn auch noch leiblich erblinden lässt, was für einen Kunsthändler und gehörnten Liebhaber vergleichbar ungünstig ist. Margot & Axel treiben ihr Spiel noch eine Weile mit dem Blinden, den sie systematisch finanziell ausnehmen, bis ein weiterer Zufall auch dies auffliegen lässt. Als Abschluss konstruiert Nabokov noch ein tragikomisches Ende, in dem Albert versucht, Margot aus Rache zu erschießen, aber natürlich selbst Opfer der gewissenlosen Megäre wird.

Der Roman ist motivisch nett gestrickt, aber alle Figuren sind denkbar flach und schematisch und selbst dort, wo es Gelegenheit gäbe, ihnen ein wenig Tiefe und Spannung zu verleihen – etwa als Alberts Tochter stirbt –, geht sie vorüber, ohne dass sich etwas Wesentliches ereignet. Die Handlung ist sehr vorhersehbar; alles ist darauf angelegt, die Vorlage für ein Drehbuch zu liefern, in das das Buch viel später denn auch umgegossen worden ist. Bis auf wenige Motive – Menschen ohne Empathie, die zerstörerische Macht der Sexualität, Blindheit für das Offensichtliche – ein weitgehend harm- und folgenloser Roman.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel. Aus dem Englischen von Renate Gerhart und Hans-Heinrich Wellmann; bearb. von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 271 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Gustave Flaubert: Madame Bovary

Heute wäre es keinem von uns mehr möglich, sich auch nur im geringsten an ihn zu erinnern.

Flaubert_Bovary_EdlIn der verdienstvollen Reihe von Kassiker-Neuübersetzungen, die in schöner Folge und hervorragender Ausstattung bei Hanser erscheinen, ist im letzten Jahr auch Flauberts »Madame Bovary« einmal mehr vorgelegt worden. Die Übersetzerin Elisabeth Edl, die zu Recht mit Ihren Übersetzungen Stendhals bekannt geworden ist, legt nach ihrer eigenen Zählung immerhin schon die 28. Übersetzung des Textes ins Deutsche vor. Dabei geht sie mit den Vorläufern hart ins Gericht:

Selbstverständlich finden sich unter diesen 27 Versionen auch solche, die den Roman flüssig und in geläufiger deutscher Sprache wiedergeben; es gibt allerdings auch erstaunlich viele Stellen, die allein sachlich noch niemals richtig übersetzt wurden. Aber auch die besten unter ihnen verfehlen die spezifische Qualität ganz und gar; gerade auch die berühmte und oft gelobte Übersetzung von René Schickele ist eher eine schöne, freie Nacherzählung als eine Übersetzung Flauberts.

Edl kritisiert die mangelnde Sorgfalt bei der Übersetzung von grammatikalischer Struktur und Wortstellung, die Flaubert in mühevollster Arbeit herauskristallisiert habe. Auch an der Wiedergabe der von Flaubert jeweils gewählten sprachlichen Stilebene würden alle bisherigen deutschen Ausgaben wesentlich scheitern. Am verzeihlichsten ist wohl, wenn Doppeldeutigkeiten und Wortspiele unübersetzt bleiben, da sich ein Übersetzer hier immer zwischen der Skylla der wörtlichen Übersetzung und der Charybdis der Ersetzung durch ein zielsprachliches Pendant durchlavieren muss, die sich in den meisten Fällen beide als nur mäßig witziger Ersatz für das Original erweisen.

Nun reicht mein fragmentarisches Französisch, das sich hauptsächlich aus meinem Latein speist, nicht hin, um die Übersetzung Edls daraufhin abzuklopfen, ob sie den theoretischen Ansprüchen der Übersetzerin tatsächlich genügt. Alles, was ich vermag, ist es, einige auffällig Stellen herauszupicken und mit dem Original und der zufälligen Auswahl von Übersetzungen zu vergleichen, die mir vorliegt.

Beginnen wir mit einer der offenbar hässlichen Stellen, an der eine anstößige Wiederholung ein und derselben Formulierung aufstößt:

Madame Bovary nahm die Schüssel. Um sie unter den Tisch zu stellen, bückte sie sich und machte eine Bewegung, bei der ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, gelb, lange Taille, weiter Rock), bei der ihr Kleid sich auf den Fliesen der Stube glockig um sie rundete; … (Edl, S. 173)

Schauen wir zuerst einmal, was die anderen Übersetzer schreiben:

  • Frau Bovary nahm die Schüssel und stellte sie unter den Tisch; bei dieser Bewegung bauschte sich ihr Kleid (es war mit vier Volants besetzt, gelb, mit langer Taille und weit geschnittenem Rock), breitete sich rings um sie auf dem Fußboden aus. (René Schickele (1907), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Manesse von 1952, S. 209 f.)
  • Frau Bovary ergriff die Schüssel und setzte sie unter den Tisch. Bei diesem Bücken bauschte sich ihr Rock (ein weiter gelber Rock mit vier Falbeln) um sie herum und stand wie steif auf der Diele, … (Arthur Schurig (1911), hier zitiert nach einer Ausgabe im Insel Verlag von 1952, S. 161.)
  • Madame Bovary nahm die Schüssel und wollte sie unter den Tisch stellen. Als sie sich bückte, breitete sich ihr Kleid – ein gelbes Sommerkleid mit vier Volants, langer Taille und weitem Rock – rings um sie auf den Fliesen aus. (Walter Widmer (1959), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Artemis & Winkler von 1993, S. 170.)
  • Madame Bovary nahm das Becken, um es unter den Tisch zu stellen. Als sie sich dabei hinunterbeugte, breitete sich ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, von gelber Farbe, mit langer Taille und weitgeschnittetem Rock) um sie herum auf den Fliesen des Wohnzimmers aus; … (Caroline Vollmann, Haffmans, 2001, S. 182.)

Wie man auf den ersten Blick sieht, findet sich in keiner der vorherigen Übersetzungen die Wiederholung der Phrase bei der ihr Kleid, so dass der Verdacht eines Übersetzungsfehler nahe liegt. Schauen wir also ins Original:

Madame Bovary prit la cuvette. Pour la mettre sous la table, dans le mouvement qu’elle fit en s’inclinant, sa robe (c’était une robe d’été à quatre volants, de couleur jaune, longue de taille, large de jupe), sa robe s’évasa autour d’elle sur les carreaux de la salle; …

Tatsächlich findet sich die stilistisch harte Wiederaufnahme des Satzes durch die Wiederholung des sa robe bei Flaubert, und Edls Übersetzung scheint die erste zu sein, die dieser Härte nicht ausweicht und versucht, dem Autor stilistisch aufzuhelfen, sondern sich an Struktur und Wortwahl des Originals hält.

Schauen wir eine andere Stelle an, bei der das Original der Übersetzung einigen Widerstand entgegensetzt: Der Apotheker Homais, eine der wichtigsten Nebenfiguren des Romans, wird mit einer seiner besserwisserischen Tiraden in den Roman eingeführt. Opfer seiner Belehrung ist die Wirtin des Lion d’or, die über die Notwendigkeit unterrichtet wird, sich einen neuen Billardtisch zuzulegen:

Puisque celui-là ne tient plus, madame Lefrançois, je vous le répète, vous vous faites tort! vous vous faites grand tort! Et puis les amateurs, à présent, veulent des blouses étroites et des queues lourdes. On ne joue plus la bille; tout est changé! Il faut marcher avec son siècle!

Hier ist die Bedeutung des kurzen Satzes On ne joue plus la bille durchaus nicht auf Anhieb klar. Dementsprechend unterschiedlich fallen die Übersetzungen aus:

  • … man spielt jetzt eben anders! (Schickele, S. 125)
  • Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. (Schurig, S. 97)
  • Man spielt nicht mehr so gemütlich mit Murmeln, … (Widmer, S. 101)
  • … man spielt die Kugeln nicht mehr direkt; … (Vollmann, S. 109)

Während René Schickele nicht den Satz, sondern sein Unverständnis ins Deutsche übersetzt, reimen sich Schurig und Widmer (dieser auch noch unter Hinzufügung eines nicht im Original zu findenden Adjektivs) etwas zusammen, was der Satz durchaus bedeuten könnte, was er aber eben nicht eindeutig bedeutet. Caroline Vollmann versteht wenigstens die Funktion des Satzes, nämlich dass sich Homais hier mit einer fachmännisch klingenden Phrase gegenüber der Wirtin als Kenner ausweisen möchte, doch gerät ihre Lösung leider zu konkret und sinnvoll. Elisabeth Edl wählt dagegen eine Wendung, die ebenso undeutlich ist wie das Original: Man bespielt die Kugeln nicht mehr; (S. 103) – auch hier weiß der Leser nicht, was eigentlich mit dem Satz gemeint sein soll, denkt aber, besonders wenn er vom Billard so wenig versteht wie die Wirtin, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

Man verzeihe mir ein letztes, kurzes Beispiel: Auf S. 212 der hier besprochenen Übersetzung ragt das Wort Lassreidel aus dem Text heraus:

Sie kamen zu einer breiteren Stelle, wo man Lassreidel gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen umgelegten Baumstamm und Rodolphe sprach nun von seiner Liebe.

Für das Wort Lassreidel findet sich im Original der Ausdruck baliveaux. Beides sind Fachwörter aus der Forstwirtschaft und bezeichnen Bäume eines sogenannten Mittelwalds, die bei einer Fällung vorerst stehen geblieben sind, um erst ein oder mehrere Jahre später gefällt zu werden. Das Wort Lassreidel auch nur zu finden, dürfte keine kleine Mühe gewesen sein. Schauen wir noch einmal, wie es die anderen machen:

  • Sie kamen auf eine Lichtung. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Rodolphe begann von seiner Liebe zu sprechen. (Schickele, S. 258)
  • Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme lagen. Sie setzten sich beide auf einen.
    Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. (Schurig, S. 197)
  • Sie gelangten auf eine kleine Lichtung, wo man junge Stämme gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen der umgelegten Bäume, und Rodolphe fing an von seiner Liebe zu reden. (Widmer, S. 208)
  • Sie kamen auf eine Lichtung, auf der Jungholz geschlagen worden war. Sie setzten sich auf einen gefällten Baumstamm, und Rodolphe begann, von seiner Liebe zu ihr zu sprechen. (Vollmann, S. 223)

Und zum Abgleichen das Original:

Ils arrivèrent à un endroit plus large, où l’on avait abattu des baliveaux. Ils s’assirent sur un tronc d’arbre renversé, et Rodolphe se mit à lui parler de son amour.

Gerade dieses Beispiel ist hübsch, weil keiner der oben zitierten Übersetzer der Falle entgangen ist, un endroit plus large mit Lichtung zu übersetzen. Flauberts Text aber weiß gar nichts von einer Lichtung, sondern nur von einem etwas weiteren Platz, auf dem einige wenige Bäume gefällt worden sind. Während sich Schickele und Schurig (dessen Sie setzten sich beide auf einen das Zeug hat, in der ewigen Bestenliste übersetzerischer Stilblüten einen der vorderen Plätze einzunehmen) um das Problem herumdrücken, baliveaux zu übersetzen, wählt Vollmann mit Jungholz wenigstens einen forstwirtschaftlich klingenden Begriff, nur leider handelt es sich eben gerade nicht um Jungholz, das da gefällt worden ist.

Natürlich ist eine solch zufällige Stichprobe nicht wirklich aussagekräftig, und es gibt Berufenere, ein Urteil über die Qualität dieser Neuübersetzung zu fällen, aber dort, wo ich sie geprüft habe, bewährt sich Edls Übersetzung als präzise und eng am Original geführt.

Abgesehen von der Frage nach der Qualität der Übersetzung, ist dies die erste vollständige deutsche Ausgabe des Romans in dem Sinne, dass sie dem Vorbild der letzten, von Flaubert selbst zum Druck beförderten französischen von 1873 folgt und im Anschluss an den Roman den Prozess von 1857 dokumentiert. Unmittelbar an den Text des Romans angehängt finden sich das Plädoyer des Staatsanwaltes, die Verteidigung von Flauberts Anwalt und der Freispruch des Gerichts, der Flaubert zu einem der erfolgreichsten Sensationsautoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte. Mit der kommentarlosen Wiedergabe dieser Dokumente zelebriert Flaubert natürlich seinen Sieg über die zeitgenössischen Spießer, die seinen Roman aus mehr als einem Grund gerne verboten gesehen hätten.

Zum Inhalt dieser Mutter aller modernen Romane etwas zu sagen oder gar zur Bedeutung des Buches, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Vielleicht nur soviel, dass dies wahrscheinlich meine zehnte Lektüre dieses Buches in mehr als dreißig Jahren war und ich den Roman immer noch als ein Wunderwerk anzustaunen vermag. Es ist ein Buch von erstaunlicher künstlerischer Integrität und von einer solch gelassenen erzählerischen Kühle, wie man sie nur sehr selten in der Literatur findet. Wenn die 29. Übersetzung erscheinen wird, werde ich es sicherlich wieder lesen.

Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 759 Seiten. 34,90 €.

Vladimir Nabokov: König Dame Bube

Jemand hatte am Strand einen kleinen roten Eimer vergessen, und schon stand er bis zum Rand voll mit Regenwasser. Die Photographen bliesen Trübsal; die Gastwirte frohlockten.

nabokov_werke_01Nabokovs zweiter Roman, auf Russisch im Jahr 1928 in Berlin erschienen und 1930 erstmals auf Deutsch bei Ullstein. Die Werkausgabe bei Rowohlt druckt allerdings eine Übersetzung der englischen Ausgabe von 1968, die von Nabokov, anlässlich der Übersetzung des Textes ins Englische durch seinen Sohn, sehr gründlich und umfangreich überarbeitet worden ist, was, wenn man den textvergleichenden Auszügen im Anhang glauben darf, dem Roman sehr gut getan hat.

»König Dame Bube« ist ein für Nabokov eher ungewöhnlicher, leichter Unterhaltungsroman, der die Dreiecksgeschichte des Ehepaars Martha und Kurt Dreyer und des Neffen von Kurt Dreyer, Franz Bubendorf, erzählt. Franz kommt, nach bewährtem Vorbild des 19. Jahrhunderts, als junger Mensch aus der Provinz nach Berlin, um im Kaufhaus seines Onkels zu arbeiten. Der familiäre Umgang im Haus der Dreyers macht die Gelegenheit, dass Martha eine Affäre mit ihm beginnt, die ihr als reicher und von ihrem Ehemann angewiderter Großbürgerin endlich zusteht, wie sie meint. Leider verliebt sie sich dabei in Franz und plant daher, gemeinsam mit ihm ihren Gatten umzubringen und zu beerben, um so ein unbeschwertes Glück leben zu können. Alles weitere ergibt sich mit erzählerischer Notwendigkeit aus dieser Grundkonstellation.

Bis auf das schon recht nabokovsche Ende bleibt alles im Rahmen des für einen humoristischen, leicht parodistischen Roman Erwartbaren. Wenn ich meinem Gefühl trauen darf, ohne die frühe Fassung des Textes zu kennen, so hat Nabokov sich bereits mit diesem Roman im Wesentlichen freigeschrieben und seinem ihm später so ganz eigenen Ton angenähert, der ihn zu dem außergewöhnlichen Autor macht, der er war.

Alles in allem eine sehr angenehme, nicht sehr anspruchsvolle Lektüre.

Vladimir Nabokov: König Dame Bube. Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs. In: Gesammelte Werke I. Frühe Romane 1. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 21999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 407 (von 591) Seiten. 27,– €.