Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Ausgelöst durch die Lektüre von Yann Martels Beatrice and Virgil habe ich mir noch einmal Flauberts Drei Erzählungen aus dem Schrank genommen, diesmal in der relativ neuen Übersetzung des Haffmans-Verlages, Gott habe ihn selig. Die drei Erzählungen repräsentieren jeweils einen Aspekt von Flauberts Romanschaffen: Ein schlichtes Gemüt seine realistischen Romane, in Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen spiegelt sich Die Versuchung des heiligen Antonius wider und Herodias schließlich ist ein Gegenstück zu Salambo, das ich auch wieder einmal lesen müsste.

Ein schlichtes Gemüt ist eine meisterhafte Erzählung, die auf weniger als 50 Seiten ein ganzes Leben umfasst: Félicité wird Hausangestellte bei der verwitweten Madame Aubain, nachdem sie wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte von daheim fortgelaufen ist. Sie geht ganz und gar im Dienst für die Familie ihrer Herrin auf; einzig ihr Neffe Victor liegt ihr noch am Herzen, aber der stirbt jung als Seemann auf einer Fahrt nach Amerika. Tiefer jedoch trifft sie der Tod von Virginie, der Tochter des Hauses, die als Klosterschülerin an einer Lungenentzündung stirbt; Félicité beginnt einen heimlichen Totenkult um die Verstorbene. Doch ihre Liebe erfüllt sich schließlich, als sie von ihrer Herrin einen Papagei geschenkt bekommt, den diese von einer Nachbarin erhalten hatte. Loulou bleibt Félicité auch nach seinem Tod treu, nachdem sie ihn  hat ausstopfen lassen. Mehr und mehr gerät er ihr zu einer Personifizierung des Heiligen Geistes, ja es gelingt ihr schließlich, ihn auf einem von ihr geschmückten Fronleichnamsaltar zu platzieren und ihn auf diese Weise mit Zustimmung des Pfarrers ganz und gar zu einer religiösen Ikone zu machen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe und erzählerischen Ökonomie Flaubert auf den wenigen Seiten der Erzählung ein ganzes Leben umspannt. Jegliche Sentimentalität ist dem Erzähler fremd; er bleibt auch hier ein Gott hinter den Kulissen:

Der Künstler muß in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.

an Mlle Leroyer de Chantepie, 18.3.1857

Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen ist inhaltlich eine traditionelle Heiligenlegende, die angeblich durch die Darstellung der Legende in einem Kirchenfenster von Rouen inspiriert wurde. Julien wird unter Prophezeiungen geboren: Während der Schwangerschaft wird seiner Mutter seine Bestimmung zum Heiligen vorausgesagt, dem Vater am Tag der Geburt seine Karriere als großer Kriegsmann und Angehöriger einer kaiserlichen Familie. Julien wächst auf als ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermessliche Anzahl von Tieren, die er alle tötet, um am Ende vom letzten Hirschen verflucht zu werden, er werde seine beiden Eltern ermorden. Von dieser Prophezeiung verschreckt und im Glauben tatsächlich seine Mutter aus Versehen getötet zu haben, flieht Julien, wird wie vorausgesagt ein gesuchter Krieger und heiratet schließlich in eine kaiserliche Familie ein. Natürlich muss sich auch noch die andere Prophezeiung erfüllen, und Julien tötet in einem Anfall von Eifersucht seine Eltern, die er für seine Frau und einen Liebhaber hält. Wie zu erwarten wendet er sich nun ab vom weltlichen Wohlleben und wird Fährmann an einem Fluss, lebt in Armut und im Dienst an seinem Mitmenschen. Erlöst wird er am Ende durch Jesus selbst, der ihm in Gestalt eines Aussätzigen erscheint und von ihm nicht nur Gastfreundschaft, sondern Dienst und Demut weit darüber hinaus erbittet. Bei der Geschichte handelt es sich offenbar um eine erzählerische Handübung; Flaubert spricht selbst davon, er habe die Drei Erzählungen als »Buch des Ausruhens« geschrieben.

Herodias erzählt in einiger Ausführlichkeit die Fabel vom Tod Johannes des Täufers, wie sie ihn  den Evangelien des Matthäus und des Markus zu finden ist. Die Perspektive ist dabei die des Herodes Antipas, der sich eingezwängt sieht zwischen den Machtansprüchen der Römer, den Drohungen des Araber, den Vorurteilen der Juden und dem Versuch, die Liebe seiner Frau Herodias zurückzugewinnen. Höhepunkte der Erzählung ist sicherlich die große Strafpredigt des Johannes, die unmittelbarer Auslöser seiner Hinrichtung wird, da er in ihr öffentlich sowohl Herodes als auch Herodias bloßstellt, und die Hinrichtung des Johannes, die zwar hinter den Kulissen bleibt, deren Umstände aber ein letztes Mal die Bedeutung Johannes des Täufers bestätigen. Auch in diesem Fall sollte man nur ein artistisches Interesse Flauberts am Stoff voraussetzen und nicht annehmen, dass es ihm um die eine oder andere Botschaft gegangen sei.

Die Drei Erzählungen waren ein bedeutender Erfolg bei Kollegen und Kritikern, brachten aber nicht die von Flaubert erhofften Einkünfte. Zwar hatte er die Erzählungen vorab zu sehr guten Zeilenhonoraren zwei Zeitungen verkaufen können, aber die Buchausgabe blieb hinter seinen Erwartungen zurück. So war das Buch, das eine kleine artistische Werkschau ist, in Flauberts Einschätzung ein Misserfolg.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Französischen von Claus Sprick und Cornelia Hasting. Zürich: Haffmans, 2000. Leinenrücken, Dünndruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 140 Seiten.

Albert Camus: Der Fremde

978-3-499-22189-7Eine weitere Lektüre, die nach beinahe 30 Jahren wiederholt wurde. Die äußerliche Geschichte Meursaults dürfte so bekannt sein, dass ich sie hier nicht noch einmal nacherzählen brauche. Mir sind diesmal besonders zwei Dinge aufgefallen: Die Positionen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung während des Prozesses und die allgemeine Belanglosigkeit, mit der der ermordete Araber behandelt wird. Weder treten im Prozess Zeugen von Seiten des Ermordeten auf, noch verschwendet Meursault, der in seiner Zelle mit großer Sorgfalt und Geduld immer wieder die Ausstattung seiner Wohnung in Gedanken rekapituliert, viel Zeit mit Grübeln über seine Tat, geschweige denn über sein Opfer. Von da aus ergibt sich mir die Frage, welche der Figuren dieses Buch überhaupt Menschen repräsentieren.

Wenn der Fall Meursault mehr sein soll als eine Obskurität, wenn er denn tatsächlich etwas besagen soll, was über die Behauptung zufälliger Ereignisse hinaus geht – und so wird das Buch doch gemeinhin gelesen –, so habe ich den Verdacht, dass es sich am Ende um Banalitäten handelt. Die Justiz sucht weder dem Angeklagten noch dem Fall gerecht zu werden, sondern bestätigt im Akt der Verurteilung die öffentliche Moral. Deshalb stempelt sie Meursault zum »moralischen Ungeheuer«. Selbst die Verteidigung spielt nur eine Rolle in diesem Spiel, um den Anschein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Andererseits kann Camus nichts weniger gebrauchen als Gerechtigkeit für seinen Protagonisten: Ein wegen Totschlags zu Zuchthaus verurteilter Meursault ist gänzlich unnütz für die existentialistische Zuspitzung des Textes. Nur der zum Tode Verurteilte kann sich heroisch vom transzendenten Trost des Anstaltgeistlichen abwenden, nur er kann seine Erfüllung im Hass der Menge gegen ihn finden, nur er kann die Gewissheit des Todes als Befreiung empfinden usw. usf.

Meursault bleibt bis zum Ende des Buchs ein Einzelner, kein »Mensch mit Menschen«. Selbst die Freundschaft Célestes oder die Liebe Maries berühren ihn nur für einen Moment, bevor er wieder in seine Egozentrik versinkt. Meursault ist letztlich nicht viel mehr als ein Soziopath, der nach der Intention des Autors als Exemplum des Menschen schlechthin dienen soll. Tut er aber nicht.

Albert Camus: Der Fremde. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22189. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 612008. 159 Seiten. 6,95 €.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita

978-3-630-62093-0 Der Roman scheint mir, obwohl er als einer der bedeutendsten russischsprachigen des 20. Jahrhunderts gilt und die deutsche Übersetzung seit 1975 konstant im Druck gewesen zu sein scheint, immer noch so etwas wie ein Geheimtipp zu sein. Ich habe ihn vor fast genau 23 Jahren während des Studium zum ersten Mal gelesen, wobei ich jetzt feststellen musste, dass von der Erstlektüre nur eine äußerst vage Erinnerung geblieben war.

Erzählt wird von der Ankunft des Teufels und seines Anhangs von Dienern im atheistischen Moskau der 1930-er Jahre. Was er eigentlich dort will, außer einmalig in einem Varietee auftreten und anschließend einen Teufelsball zu veranstalten, bleibt unklar. Allerdings verursacht er unter den Einwohnern Moskaus ein ziemliches Chaos: Zahlreiche Bürger enden im Irrenhaus, zwei verlieren sogar ihr Leben. Diese Ereignisse scheinen aber nur den Hintergrund zu bilden für die Erzählung, die der Titel des Romans bezeichnet: die Liebesgeschichte zwischen einem Schriftsteller, genannt »Der Meister«, und seiner Geliebten Margarita. Der Meister hat einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben, für den er aber keinen Verleger gefunden und ihn aus Verzweiflung darüber verbrannt hat. Scheinbar nur ein einziges Kapitel hat Margarita aus den Flammen retten können; allerdings ist der Teufel letztlich in der Lage, das komplette Werk aus den Flammen zurückzuholen.

Verknüpft werden die beiden Erzählstränge dadurch, dass Margarita vom Teufel zur Königin seines Balls erwählt wird, zur Hexe wird und am Ende des Balles einen Wunsch frei hat. Sie wünscht sich ihren Meister zurück, den sie verloren glaubt, der aber tatsächlich ebenfalls in der Moskauer Irrenanstalt einsitzt. Der Meister und Margarita finden schließlich gemeinsam Frieden, wenn auch auf eine eher überraschende Art und Weise.

Durchsetzt ist die phantastische Erzählung mit Kapiteln aus dem Pilatus-Roman des Meisters, die die Verurteilung Jesu, seine Hinrichtung und weitere Ereignisse in der Folge seines Todes umfassen. In ihnen erscheint Jesus als ein Mensch mit der Gabe außergewöhnlicher Einfühlung, nicht als Prophet oder Sohn Gottes. Diese Kapitel stehen mit ihrem melancholischen Ton in einem deutlichen stilistischen Kontrast zur humoristisch-phantastischen Rahmenerzählung.

Auch wenn einem als Nichtkenner der russischen Geschichte sicherlich die ganze satirische Schärfe des Romans entgeht, ist die Lektüre allen engagierten Lesern auf jeden Fall uneingeschränkt zu empfehlen.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Sammlung Luchterhand 62093. München: Luchterhand, 2005. 512 Seiten. 10,– €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Auch eines der vielen Bücher, die ich nach langer Zeit noch einmal lese. Es ist bislang das einzige Buch Joseph Roths, das ich gelesen habe, und als ich es vor über 25 Jahren zum ersten Mal las, konnte ich mit seiner statischen und in vielen Teilen voraussehbaren Handlung wenig anfangen. Dafür, dass seine Statik zugleich die Statik des zum Ende kommenden österreichischen Kaiserreichs ist, fehlte mir damals der Sinn.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte dreier Generationen der Familie von Trotta. Der erste von Trotta, Sohn einer Bauernfamilie, rettet durch seine Geistesgegenwart dem jungen Kaiser Franz Josef I. in der Schlacht von Solferino das Leben. Er wird geadelt, zum Hauptmann befördert und gründet eine Familie. Aus Verbitterung über eine historisch falsche Darstellung seiner Tat von Solferino in einem Lesebuch seines Sohnes, nimmt er seinen Abschied und verbietet seinem Sohne eine militärische Karriere. Doch sein Enkel wird wieder Offizier, zuerst bei der Kavallerie, dann bei der Infanterie. Dieser Enkel des Helden von Solferino ist ein typischer Spätling: initiativ- und orientierungslos, moralisch naiv und indifferent, sensibel, doch ohne die Möglichkeit, dieser Empfindsamkeit irgendeinen Ausdruck zu geben.

Natürlich kommt es wie es kommen muss: Der Enkel Carl Joseph von Trotta verwickelt sich in Affären, Spiel und Trunksucht, macht Schulden und muss schließlich von seinem Vater aus einer ausweglos erscheinenden Situation gerettet werden, indem der eine kurzfristige Audienz beim Kaiser erzwingt. Doch damit scheint der Kredit der von Trottas verbraucht zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markiert deutlich den Untergang des Kaiserreiches und zugleich der von Trottas: Carl Joseph fällt, als er sich für seine Männer nutzlos einer tödlichen Situation aussetzt. Mit ihm endet das Geschlecht des Helden von Solferino.

Wie schon angedeutet, ist die Geschichte derer von Trotta zugleich die des Untergang des Kaiserreichs. Nicht umsonst wird der Sohn des Helden von Solferino im Alter seinem Kaiser immer ähnlicher, so dass, als sie sich schließlich gegenüberstehen, wie ein Bruder des Kaisers zu sein scheint. Roths zugleich distanzierte und empathische Darstellung des alten Kaisers und seiner Isolation von der ihn umgebenden Welt gehört sicherlich mit zum besten, was der Roman zu bieten hat.

Bei Diogenes liegt eine vollständige Lesung des Romans durch Michael Heltau vor. Sein leichter österreichischer Akzent bekommt dem Roman sehr gut, allerdings muss man sagen, dass Heltau den Text an einigen Stellen extrem dehnt. Das ist stimmig und passt zu dem Gesamteindruck der Stagnation, die der Roman vermittelt, stellt den Zuhörer aber trotzdem hier und da auf eine Geduldsprobe. Man sollte sich also ein wenig Einhören und nicht zu rasch aufgeben.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. dtv 12477. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998. 416 Seiten. 9,50 €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. Gelesen von Michael Heltau. Zürich: Diogenes Verlag, 2007. 7 Audio-CDs. 49,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten

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Eine Zweitlektüre, diesmal gekontert durch das Buch »Der letzte Mythos der RAF« von Butz Peters. Die entscheidende Schwierigkeit im Umgang mit Heins Text ist damit zugleich markiert: Der Leser ist bei einer unbelehrten Lektüre dazu geneigt, Heins Darstellung des Todes der fiktiven Figur Oliver Zurek für die Wirklichkeit des Todes von Wolfgang Grams zu halten. Ein solcher Zugriff – wie er etwa auch Peters’ Verständnis des Romans zugrunde zu liegen scheint – verstellt wahrscheinlich eher den Blick auf das wesentliche Thema des Buches. Am besten löst man sich bei der Lektüre – so schwer das auch immer fallen mag – gänzlich von der Frage, was in Bad Kleinen »wirklich« geschehen ist.

Hein erzählt in der Hauptsache die Geschichte Dr. Richard Zureks, eines pensionierten Oberstudiendirektors, und seiner Familie, nachdem einer der Söhne bei einem Zugriff von Polizei und GSG 9 ums Leben gekommen ist. Die Umstände seines Todes und die anschließende Behandlung des Falles in dem Medien entsprechen in weiten Teilen denen, die den Tod von Wolfgang Grams in Bad Kleinen im Jahr 1993 begleitet haben. Dabei vermeidet Hein sorgfältig jede Tatsachenfeststellung zu den realen Ereignissen in Bad Kleinen. Allerdings ist der Roman weitgehend in der personalen Perspektive Richard Zureks erzählt, der bis zum Ende des Romans davon überzeugt ist, dass sein Sohn in »Kleinen« von einem GSG-9-Mitglied erschossen worden ist. Diese perspektivische Beschränkung, die für die Intention des Romans wesentlich erscheint, bringt es mit sich, dass es sich leicht als ein Plädoyer für die These von der Ermordung Wolfgang Grams’ mißverstehen lässt – was denn auch in der Vergangenheit ausführlich geschehen ist.

Tatsächlich dürften aber nicht diejenigen Texteile die wesentlichen sein, die mehr oder weniger an der Wirklichkeit entlang geschrieben sind, sondern gerade diejenigen, in die Hein die Arbeit der Fiktion investiert hat. Der Protagonist des Buches ist der Vater des Toten, Richard Zurek, ein staatsgläubiger und demokratietreuer Lehrer und Schulrektor, der an Disziplin und Ordnung glaubt und der seine Schüler mit ihrem Mißtrauen gegen den deutschen Staat und seine Politiker im besten Falle für naiv, im schlimmsten für Idioten hält. Vor dem Tod seines Sohnes stehen für ihn die Gerechtigkeit der staatliche Ordnung und die Aufrichtigkeit ihrer Repräsentanten fraglos fest; nach den – aus seiner Perspektive – »ungeklärten« Ereignissen von Kleinen entwickelt Richard Zurek zunehmend Zweifel an seiner bisheriger Haltung.

Letztlich geht dieser umstürzende Prozess soweit, dass Richard Zurek in einer pathetischen und nicht unkomischen Szene seinen Eid als Beamter öffentlich widerruft. Diese Wandlung Richard Zureks vom Paulus zum Saulus ist gleichbedeutend mit einer religiösen Wandlung: Sein Glaube an den Staat wird abgelöst von seinem unbedingten Glauben an die Unschuld seines Sohns, seine abstrakte Treue zum Staat abgelöst von der konkreten Liebe zu seinem Sohn. Zurek scheint erst am Tod seines Sohnes klar zu werden, welche Macht familiäre Bindungen über den Menschen haben. Diese innere Wandlung Zureks ist zugleich Trauerarbeit: Es ist kein kleiner Augenblick des Romans, wenn Zurek nach dem Ende des letzten Prozesses in der Sache seines Sohnes feststellt: »Ich glaube, ich habe erst heute verstanden, dass er tot ist.« [S. 263]

Die interessanteste Figur des Romans ist aber wahrscheinlich nicht der Protagonist Richard Zurek, sondern seine Frau Rike. Bedingt durch die weitgehend personale Erzählweise des Romans erscheint sie beinahe als eine Randfigur, erweist sich in einigen wenigen starken Szenen als eine praktische und in der Wirklichkeit verwurzelte Person, der es gelungen ist, ihren idealistischen Ehemann mit ihrer Klugheit durchs Leben zu bringen, ohne ihn ändern zu wollen oder zu bevormunden. Man lernt ein wenig bedauern, dass Rike Zureks Geschichte in weiten Teilen des Buches durch die ihres Mannes verdeckt und überschrieben ist. Aber man kann auf 270 Seiten nicht alles haben.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005.) Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2006. Broschur, 270 Seiten. 8,90 €.

George Orwell: 1984

106060847_82990d4948Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwendiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangeheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.