Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik

Im Jahr 2014 erschien zum 100. Geburtstag Arno Schmidts im Bargfelder Boten eine erste Fassung von Friedhelm Rathjens Arno-Schmidt-Chronik, die soeben in erweiterter und korrigierter Neuauflage in Rathjens eigenem Verlag, der Edition Rejoyce, wieder aufgelegt worden ist. Zumindest bis zum Erscheinen der Arno-Schmidt-Biographie von Sven Hanuschek, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus ist dies die zuverlässigste kompakte Quelle für Informationen zum Leben Arno Schmidts. Die Neufassung ist ergänzt um vier Register (Werke Schmidts, Orte, Personen sowie Verlage, Medien, Nachschlagewerke), die es möglich machen, auch thematische Querbezüge herzustellen.

Rathjen verweist im Vorwort darauf, dass Schmidts Werk starke dynamische Veränderungen durch diverse Einflussfaktoren aufweist; Schmidts Lebensumstände waren selbstverständlich einer davon. Von daher liefert eine solche Chronologie eines der Gerüste, an denen entlang die Entwicklung von Schmidts Werk verständlich wird.

Aber das Buch kann nicht nur als Datenquelle benutzt werden, es ist durchaus auch von Anfang bis Ende als dichter biographischer Essay lesbar. Sicherlich werden sich dabei Leser, die Schmidts Werk schon ein wenig kennen, leichter tun als jene, die erst einen Zugang zu Schmidts literarischer Welt suchen.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik. Daten zu Leben & Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2021. Bedruckter Pappband, 186 Seiten. 30,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen

Valeris: Do you not recognize that a turning point has been reached in the affairs of the Federation?
Spock: History is replete with turning points, Lieutenant. You must have faith.

Eine sehr gut geschriebene Geschichte des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika, England, Frankreich und Deutschland. Den Auftakt bildet der Beginn der Amerikanischen Revolution, den Schlussstein Napoleons Erklärung, die Französische Revolution sei beendet. Zwischen diesen beiden Punkten verfolgt Hesse die Biographien von etwa drei Dutzend Personen; eine genaue Grenze zwischen diesen Haupt- und den zahlreichen Nebenfiguren lässt sich kaum ziehen. Auswahl und Gewichtung des Hauptpersonals sind recht traditionell; einzig das prominente Auftreten von Captain William Bligh überrascht vielleicht. Dabei darf betont werden, dass Bligh in erstaunlich fairer und neutraler Weise dargestellt wird; er fungiert durchaus nicht als der Bösewicht seiner eigenen Geschichte. Andererseits hat mir persönlich Johann Gottfried Seume gefehlt, dessen Biographie ein zusätzliches Licht auf die Zwangswerbungen und Verschleppung deutscher Bürger als Soldaten für Amerika hätte werfen können. Aber ein Buch kann natürlich nie alles leisten, was man sich wünscht.

Es ist keine leichte Sache, eine vergangene Epoche so interessant und lebendig zu beschreiben, als sei es die Gegenwart der Leser. Das ist hier durchweg gelungen. Es wird vermittelt, dass und wie sich in dieser Zeit moderne Menschen um die Gestaltung ihrer Welt bemühen oder der Beschreibung eben dieser Welt widmen. Dabei werden die Biographien in nach Jahren eingeteilten Kapiteln parallel erzählt und – wo es sich so ergeben hat – miteinander verflochten. Abgesehen von der sehr typischen geographischen Beschränkung entsteht so ein rundes und durchaus schlüssiges Bild einer Zeit, in der sowohl die politischen als auch die technischen Fundamente unserer heutigen Welt gelegt wurden. Sicherlich könnte man hier und da einwenden, dass der Autor den Fortschritt ein wenig zu optimistisch anschaut, die Vernunft etwas zu sehr für eine überaus tolle Sache hält, aber immerhin gibt er auch der pessimistischen Sicht Georg Forsters Raum:

Die Tyrannei der Vernunft, vielleicht die eisernste von allen, steht der Welt noch bevor. Wenn die Menschen erst die ganze Wirksamkeit dieses Instruments kennen werden, welche Hölle um sich her werden sie dann schaffen! Je edler das Ding und je vortrefflicher, desto teuflischer der Missbrauch.

S. 309 f.

Leider muss bei aller Anerkennung des Gelungenen auch festgestellt werden, dass das Buch im Detail sehr flüchtig und oberflächlich gearbeitet ist. Überall, wo ich mich ein wenig auskenne, finden sich zahlreiche Fehler, die mit etwas mehr Sorgfalt einfach zu vermeiden gewesen wären. Auch scheint die naturwissenschaftliche Bildung des Autors lückenhaft zu sein, und selbst in der Philosophie, einem Fach, dass der Autor studiert hat, finden sich grobe Fehler. In den Details sollte man dem Buch also eher nicht trauen. Mag sein, in einer nächsten Auflage lässt sich das eine oder andere verbessern.

Trotzdem eine sehr lesbare und lesenswerte Darstellung des Auftakts der modernen Welt. Besonders für jene Leser geeignet, die einen leichten, nicht akademischen Zugang zu dieser Zeit suchen und denen die Fehler ohnehin nicht auffallen.

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen. Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 bis 1799. Stuttgart: Reclam, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 431 Seiten. 25,– €.

Juan Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew

Als ich neulich wieder einmal bei Turgenew vorbeikam, fiel mir auch dieses lang eingestaubte Insel-Taschenbuch in die Hand. Diesmal habe ich hineingeschaut; ich hätte es besser gelassen.

Der Text wurde in Deutschland als Biographie verkauft, obwohl ihn sein Autor im Vorwort völlig zu Recht einen Essay nennt, und man darf hier ungeniert an Tucholsky denken: „Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.“ Das Büchlein präsentiert weitgehend nichts als wirres Geschwätz, zusammengesuchte Einsichten, die in lockerer assoziativer Manier aneinandergereiht werden, ohne dass sich aus ihnen mehr ersehen ließe, als dass eben dieser und jener mal dies oder das über Turgenew gesagt habe und was man sonst noch so denken könne.

Von sehr jung an war er sich bewußt, daß er auf Frauen attraktiv wirkte, und in einigen Fällen lässt sich beobachten, wie er diese Macht sogar bei denen ausübt, die reine ›Vermittlerinnen‹ waren, eine Kategorie, in welche die Frau von Traditionen und weltlichem Leben gerne eingereiht wird.

Und solche Sätze sind bei weitem nicht die Schlimmsten.

Das ganze Buch ist ein unlesbares Gewäsche. Dass es überhaupt übersetzt und gedruckt wurde, lässt mich einen internationalen Mangel an soliden Turgenew-Biographien vermuten; wenigstens scheint auf Deutsch derzeit überhaupt nichts Vernünftiges lieferbar zu sein. Hinweise dazu wären sehr willkommen.

Juan Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew. Eine Biographie. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. it 2744. Frankfurt/M.: Insel, 2001. Broschur, 277 Seiten. Zum Glück nur noch antiquarisch greifbar.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen

Aber wozu die vielen Worte?

Giovanni Boccaccio ist durch ein Jugendwerk, das Decamerone, berühmt geworden. Das Buch hat ihm den Weg in das Umfeld Petrarcas eröffnet, den er später nicht müde wurde, seinen Lehrer zu nennen. Er ist dann von der Volkssprache zum Lateinischen übergegangen und hat an­ge­fan­gen, gelehrte Bücher zu verfassen, so eine heute nur wenig bekannte, umfangreiche Genealogie der heidnischen Götter und eben auch eine Anthologie kurzer Bio­gra­phien berühmter Frauen ‒ De mulieribus claris ‒, die gerade bei C. H. Beck in kleiner Auswahl neu übersetzt in der Reihe textura wieder erschienen ist.

Das Büchlein enthält 31 der ursprünglich 106 Kurzportraits, bei denen Boc­cac­cio der Antike ein absolutes Übergewicht einräumt: 100 seiner Texte behandeln Frauengestalten der Antike, wobei er mit der biblischen Ur­mut­ter Eva beginnt, um auch im Weiteren keine Unterschiede zwischen my­tho­lo­gi­schen und historischen Figuren zu machen. Die vom Übersetzer getroffene Auswahl ist amüsant und unterhaltsam und hat gerade die richtige Länge, um den Leser nicht zu strapazieren. Die Übersetzung kommt dem modernen Leser entgegen, ohne dabei die Herkunft des Originals aus dem Lateinischen gänzlich zu verleugnen.

Eine moderne Lektüre dieses spätmittelalterlichen Textes ist nicht ohne Reiz, denn so sehr sich Boccaccio auch bemüht, die berühmten Frauen nicht nur „als Frauen“ zu rühmen, so sehr ist es am Ende immer wieder ihre Tu­gend­haf­tig­keit, auf der ihre Berühmtheit gründet. Dort, wo sich andere Qua­li­tä­ten beim besten Willen nicht verleugnen lassen, setzt sich sein Weltbild letztlich doch durch:

Ich würde meinen, dass die Natur bisweilen Fehler begeht, wenn sie Seelen mit menschlichen Körpern verbindet: wenn sie beispielweise eine Seele in eine weibliche Brust gießt, die sie für eine männliche vor­ge­se­hen hatte. Da jedoch Gott selbst der Schöpfer solcher Menschen ist, wäre es verwerflich zu glauben, er sei bei seiner Schöpfung kurz eingenickt.

Ganz niedlich wird es dort, wo er sich gezwungen sieht, die rezente Königin von Neapel, Johanna von Anjou, als Schlussstück aufzunehmen, und an ihr unter anderem dies zu loben findet:

In den von ihr beherrschten Gebieten sorgte sie dafür, dass nicht nur Arme, sondern auch Reiche Tag und Nacht sicher und furchtlos ihrer Wege gehen können.

Wer es gelingt, dass sogar die Reichen vor Räubern sicher sind, muss über wahre Herrscherinnenqualität verfügen!

Mit ein wenig Ironie gelesen, eine überraschend frische und vergnügliche Lektüre.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen. Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Martin Hallmannsecker. München: C. H. Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 159 Seiten. 18,‒ €.

Brendan Simms: Hitler

Hitler tippte das Manuskript selbst in eine Schreibmaschine, wobei er Mithäftlingen, die sich als verständnisvolles und hingerissenes Publikum erwiesen, große Teile vorlas oder zusammengefasst vortrug. Manchmal war er selbst von seinen Worten zu Tränen gerührt.

Eine weitere Hitler-Biographie, diesmal unter einem klaren ideologischen Ansatz: Simms geht es im Wesentlichen darum, die zentrale Stellung Großbritanniens und der USA im Wahnsystem Hitlers nachzuweisen. Ausgehend davon, dass Hitlers Weltkriegs-Erfahrung an der Westfront vom Kampf gegen britische und us-ame­ri­ka­ni­sche Truppen geprägt worden ist, betont Simms in immer neuen Wendungen, dass die Geg­ner­schaft zur anglo-amerikanischen Welt und zum kapitalistischen Wirtschafts­sy­stem den Kern des frühen Weltbildes Hitlers bilden. Dabei waren ihm nicht nur das Wirt­schaftssystem, dessen Effizienz er bewunderte, dessen Gier nach Geld er aber zugleich verachtete, und das daraus folgende militärische Potenzial wichtig, sondern auch die seit Jahrzehnten andauernde Auswanderung von Deutschen in die USA, die er für die us-amerikanische Überlegenheit mit verantwortlich machte.

Die Sowjetunion habe Hitler dagegen lange Zeit politisch ignoriert und höchstens militärisch für einen relevanten Faktor für seine Pläne gehalten. Auch nach dem Angriff auf die UdSSR wird Simms nicht müde, immer wieder die Gegnerschaft zur anglo-amerikanischen Welt herauszustellen und zugleich die ebenso vorhandenen Äußerungen Hitlers zum kommunistischen Gegner zu ignorieren. Überhaupt macht Simms zwar deutlich, dass spätestens mit dem Konzept einer Weltverschwörung des Judentums die Unterscheidung zwischen dem westlichen und dem östlichen Gegner für Hitler gänzlich zweitrangig geworden war, ignoriert die Konsequenzen dieser Einsicht für seine eigene Darstellung aber weitgehend.

Von dieser nicht unwesentlichen Einschränkung abgesehen, kann Simms’ Hitler-Biographie durchaus empfohlen werden: Simms’ Darstellung ist klar strukturiert und der Text durchweg gut lesbar. Simms vermeidet die Marotte anderer Biographen, Wissenslücken durch psychologische oder anderweitige Spekulationen zu füllen, die wenig zur Sache beitragen; was unbekannt ist, wird in den meisten Fällen auch so markiert. Simms weist an einigen Stellen auf unlösbare Widersprüche in Hitlers Weltbild hin, macht aber – wie andere seiner Biographen auch – insgesamt den Fehler, Hitlers Wahnsystem als im Großen und Ganzen konsistentes Denkgebäude zu behandeln. Selbst da, wo die Brüchigkeit von Hitlers Wahn offensichtlich wird, geht Simms über das Registrieren des Widerspruchs nicht hinaus.

Das Buch ist insoweit zu begrüßen, als es der einen oder dem anderen bewusst machen wird, dass die westliche Welt und insbesondere die USA in Hitlers Vorstellungen schon sehr früh eine zentrale Rolle spielen, die man nicht unterschätzen sollte. Ob es dafür nötig war, eine komplette Biographie unter diesen Blickwinkel zu stellen, kann sicherlich bezweifelt werden.

Brendan Simms: Hitler. Eine globale Biographie. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2020. Pappband, Lesebändchen, 1050 Seiten. 44,– €.

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger

Am 15. Februar 1959 schreibt Arno Schmidt an Hans Wollschläger:

[…] wir ergo wollen uns, im Interesse einer begierig zuhorchenden Nachwelt, einer schlichten Genauigkeit in Namen, Orten und Daten (der Worte & Werke noch ganz zu geschweigen) befleissigen – das wird ohnehin mal ein schwermütiger Spaß werden, wenn unsere Correspondenz (wie es ja gar nicht ausbleiben kann) gedruckt erscheint, und die bewußten ›Edelmenschen‹ dann, bestürzt die Querhand vor der Stirn, ihr Porträt & das ihres Wirkens ratlos aus (dann wahrscheinlich schon ziemlich schadhaft gewordenen) ›Knopflöchern‹ bestarren.

Nun also ist es endlich soweit – die erste Ankündigung des Briefwechsels liegt gut 30 Jahre zurück –, und es gibt tatsächlich eine, wenn auch wahrscheinlich eher kleine Nachwelt, die begierig zuhorcht. Und es ist schwermütig genug geworden. Ob aber auch ein Spaß? Nunja.

Der erste Kontakt der beiden Schriftsteller findet im September 1957 statt, als Wollschläger mit einem Leserbrief auf einen Schmidt-Text über Karl May  in der FAZ reagiert und der Redaktion eine Erwiderung zukommen lässt, die diese verständlicherweise nicht abdrucken möchte, sondern an Schmidt weiterleitet. Schmidt vermutet in Wollschläger sogleich einen Mitstreiter in der Sache, Karl Mays literarisches Renommee zu heben, und erkennt sehr rasch, dass Wollschläger nicht nur ein May-Kenner ersten Ranges ist, sondern ihm als Mitarbeiter des Karl-May-Verlages (damals unter Ustad-Verlag firmierend) auch einen erneuten, quasi unterirdischen Zugang zu dessen Archiv eröffnen könnte, nachdem es sich Schmidt durch seine undiplomatische Besserwisserei mit der Verlagsleitung bereits verdorben hatte.

Hans Wollschläger ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt (21 Jahre jünger als Schmidt), seiner Ausbildung und seinen Ambitionen nach Musiker, Fachmann für Gustav Mahler, dessen 10. Symphonie er zu rekonstruieren versucht, und verdient sich sein karges Brot als freier Mitarbeiter des Karl-May-Verlages. Schmidt und Wollschläger sind sich wenigstens darin einig, dass May ein unterschätzter Autor sei, wenn auch Schmidt im Wesentlichen nur vier Bücher des Spätwerks gelten lassen will, wohingegen Wollschläger wenigstens zu Anfang an eine breitere Auswahl schätzenswerter Werke zu denken scheint.

Und so ist denn der Großteil des Briefwechsels leider auch geworden: Das Thema Karl May ist durch das ganze Konvolut hindurch dominant. Es werden die Güte bzw. die Mängel verschiedener Ausgaben diskutiert, man weist einander auf antiquarische Angebote hin, Wollschläger schiebt Schmidt Materialien aus dem Verlagsarchiv zu, ist überhaupt eine Quelle für biographische Details, die er aus seiner Lektüre zahlloser Briefe Mays gewinnen konnte. Wen May interessiert, wird hier eine Bonanza von Material und Feinheiten finden; wer allerdings trotz Arno Schmidt und Hans Wollschläger hartnäckig bei der Auffassung verharrt, dass es sich bei May um einen hochgradigen Schwätzer und ausgemachten Hohlkopf handelt, wird sich über weite Strecken durch diesen Briefwechsel durcharbeiten müssen.

Denn eigentlich erfährt man nichts: Weder Schmidts Behauptung, beim Mayschen Alterswerk handele es sich um eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie, wird in irgendeiner Weise reflektiert oder auch nur erläutert, noch wird der Schwenk Schmidts zu einer psychoanalytischen Lesart Mays methodisch oder inhaltlich diskutiert. Als Schmidt das erste Mal gegenüber Wollschläger andeutet, May könne homosexuell gewesen sein, lehnt dieser die Vermutung aus seiner biographischen Kenntnis heraus rundweg ab. Erst als Schmidt die Wendung findet, dass May seine homosexuellen Neigungen unbewusst verarbeitet habe, stimmt Wollschläger sofort und gänzlich unkritisch zu. Danach tritt er Schmidt hier wie auch überall sonst die Brücke.

Für Freunde oder Bewunderer Wollschlägers – inzwischen ist auch bei ihm von einer Gemeinde seiner Leser die Rede, wie es früh schon für die Leser Schmidts üblich geworden war –  ist der Briefwechsel insoweit ergiebig, als er Schmidts Bemühungen um den jungen Autor gut dokumentiert: Schmidt ermutigt Wollschläger immer wieder zur Fertigstellung seines Romans Herzgewächse, empfiehlt das Manuskript bei den Verlagen, zu denen er Kontakt hat, verschafft Wollschläger seine ersten Aufträge als Übersetzer und holt ihn zu dem großen Projekt der Poe-Übersetzung mit ins Boot. Als Schmidt dann in die Niederschrift von Zettel’s Traum abtaucht und der Briefwechsel immer loser wird, ist Wollschläger so weit etabliert, dass er von Suhrkamp – trotz seiner Verbindung zu Arno Schmidt, von dem Verlagschef Unseld nicht viel zu halten scheint – den Auftrag erhält, den Ulysses neu zu übersetzen. Damit schreibt er sich dann endgültig in die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Und trotz der Koketterie des einleitenden Zitats ist es natürlich klug, sich beim Lesen von Briefen fremder Menschen klar zu machen, dass man damit unvermeidlich in einen privaten Bereich vordringt, den zu betreten man ganz eigentlich kein Recht hat. Mich hat die Lektüre dieses Briefwechsels von beiden Autoren weiter entfernt; ein wenig mehr von Schmidt, ein deutliches Stück mehr von Wollschläger, obwohl hier die Distanz ohnehin schon erheblich war. Aber das liegt nun ausschließlich an mir und tut für das Buch weiter nichts zur Sache. Nur einmal mehr hat sich das Wort Schmidts bestätigt, dass sich ein Schriftsteller langsam in seine Werke auflöse; „den zurückbleibenden schäbigen Rest besieht man sich besser nicht“.

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger. Briefe IV. Hg. v. Giesbert Damaschke. Berlin: Suhrkamp, 2018. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1034 Seiten. 68,– €.

Narr oder Weiser

Zu den Dingen, die mit großer Wahr­schein­lich­keit wenig oder gar nicht lustig sind, gehören Witz- und Anek­do­ten­samm­lun­gen. So auch in diesem Fall. Nun ist es bei Shaw wohl so, dass er am längsten in Anekdoten erhalten bleiben wird, auch in solchen, die ursprünglich einmal über Oscar Wilde oder Mark Twain erzählt wurden. In diesem Sinne hat sich die Her­aus­ge­be­rin des Bandes, Ursula Michels-Wenz sehr um Authentizität und Quellentreue bemüht, weshalb man die ein oder andere wirklich witzige Anekdote in dem Band vergeblich suchen wird. Zum Ausgleich dafür findet sich Schamott wie dieser:

Seine Reden hielt Shaw stets sehr deutlich artikuliert, ohne seine Rhetorik durch besondere Lautstärke zu unterstützen. Einmal wurde er auf einer etwas unruhigen Versammlung gleich zu Anfang von einem Rufer unterbrochen: »Lauter!«

Und was vermutet der geneigte Leser nun, was die unglaublich schlagfertige Antwort war?

Shaw hielt inne und schlug vor: »Am besten, Sie sind alle etwas leiser – dann bin ich laut genug.«

Wie gut, dass solches Material der Nachwelt überliefert worden ist!

Narr oder Weiser. Anekdoten um Bernard Shaw. Nacherzählt von Ursula Michels-Wenz. st 3167. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000. Broschur, 125 Seiten. Modernes Antiquariat.

Hermann Stresau: George Bernard Shaw

Die inzwischen eingestellte Reihe der Rowohlt-Bildmonographien war in meiner Schul- und Studienzeit die einzige einigermaßen zuverlässige Quelle kurz gefasster biographischer Portraits, die im Umfang zwischen lexikalischen Einträgen und umfangreichen Biographien lagen. Dabei war die Qualität innerhalb der Reihe sehr unterschiedlich: Um rasch an Breite zu gewinnen, ließ der Herausgeber Kurt Kusenberg zum Teil essayistische Texte übersetzen, die kaum dem Anspruch einer Biographie genügten (Edgar Allan Poe; der frühe Band zu Joyce von Jean Paris); zum Teil waren die Autoren mit der Darstellung des Werkes oder Wirkens so beschäftigt, dass sie kaum zur eigentlichen Biographie kamen (Martin Luther); zum Teil waren die Autoren dem Dargestellten gegenüber so feindlich eingestellt, dass man das Büchlein über den Anhang hinaus kaum gebrauchen konnte (Gustave Flaubert). Aber abgesehen von solchen Einbrüchen war die Reihe für einen breit und historisch interessierten Leser völlig unverzichtbar, und es gab eben auch keine Alternative.

Auch die Shaw-Biographie von Hermann Stresau gehört zu den eher problematischen Fällen: Sie wurde 1962 geschrieben und seitdem nur im bibliographischen Anhang überarbeitet. Sie liefert eine Biographie im eigentlichen Sinne nur im ersten Drittel, wobei sie sich hier durch holzschnittartige Darstellung und undifferenzierte Urteile auszeichnet (Vater: Taugenichts; Mutter: nicht hartherzig, aber herzenskühl und lieblos; Shaw selbst: schüchtern bis zur Menschenscheu, aber aktives Vereinsmitglied und bedeutender öffentlicher Redner, immer gerade so, wie es passt). Anschließend geht der Text in eine weitgehend von Metaphern getragene Interpretation der Stücke Shaws über, die großteils für den Orientierung suchenden Leser unbrauchbar ist, weil bei den allermeisten Stücken eine schlichte Inhaltsangabe fehlt. Ohne Kenntnis der Stücke ist die Interpretation Stresaus aber weder nachvollziehbar noch überprüfbar.

Auch dieses, nur noch antiquarisch greifbare Büchlein steht ohne Alternative da; selbst im Englischen scheint es keine auch nur halbwegs aktuelle Biographie Shaws zu geben. Auch die sogenannte Werkausgabe in Einzelbänden bei Suhrkamp ist nur noch zur Hälfte lieferbar; es scheint nicht gut bestellt zu sein um Shaw und sein Werk.

Hermann Stresau: George Bernard Shaw. rm 50059. Reinbek: Rowohlt, 122001. Broschur, 178 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Norbert Kohl: Oscar Wilde

Die wesentliche biografische Quelle zu Oscar Wilde ist immer noch Richard Ellmanns Buch von 1988 (deutsch 1991). Aber natürlich haben Verlage und Leser das Bedürfnis nach Neuem, so dass zum letzten Wilde-Jubiläumsjahr 2000 die entsprechenden Bücher in Auftrag gegeben wurden. So auch die Biographie von Norbert Kohl bei Insel. Kohls Biographie hat den unbestreitbaren Vorteil, deutlich kürzer ausgefallen zu sein als die beinahe 800 enggedruckten Seiten Ellmanns. Außerdem liest es sich angenehm glatt weg, wenn auch der Autor hier und da zur Phrase neigt, besonders wenn es zur Interpretation einzelner Werke kommt.

Auszukennen scheint er sich recht gut, soweit ich das beurteilen kann, was auch dadurch dokumentiert ist, dass Kohl parallel zur Biographie eine kleine Quellensammlung herausgeben hat (Oscar Wilde im Spiegel des Jahrhunderts). Insbesondere die Darstellung der Prozesse und der letzten Lebensjahre fand ich konzise und überzeugend.

Ein echter Höhepunkt findet sich gegen Ende, als es um die für den öffentlichen Geschmack etwas zu prominent ausgefallenen Geschlechtsteile des Grabmonuments Wildes geht:

Kaum war Epsteins Grabmonument im Jahre 1912 aufgestellt worden, als es auch schon das Mißfallen des »conservateur en chef du Père-Lachaise« erregte, dem die Größe der Genitalien mißfiel. Nachdem alle Bemühungen, die anstößigen Teile mit Gips zu ummanteln bzw. hinter einem bronzenen Feigenblatt als cache-sexe zu verbergen, nichts fruchteten, weil sie immer wieder entfernt wurden, umhüllte man kurzerhand das gesamte Grabmal mit einer Plane. Erst ab 1914 war es wieder zu besichtigen. Noch 1961 nahmen Unbekannte an der ausgeprägten Männlichkeit des geflügelten Wesens Anstoß und schlugen ihm beide Testikel ab, die fortan dem Konservator des Friedhofs als Briefbeschwerer (!) dienten und seit langem verschollen sind.

Ich denke, zumindest dieses Detail der Nachwirkung Oscar Wildes sollte bekannter sein.

Norbert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Werk. Frankfurt/M.: Insel, 2000. Pappband, Fadenheftung, 344 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Johannes Willms: Mirabeau

Mirabeaus Unglück war nicht seine «unmoralische» Vergangenheit, die er mit vielen Größen der Revolution gemeinsam hatte, als vielmehr seine Zukunft, die ihm seine zahlreichen Talente verhießen. Ebendieses Versprechen, das ihn von den meisten Abgeordneten unterschied, wurde ihm zum Verhängnis.

Mit „Mirabeau“ liefert Johannes Willms nach „Tayl­le­rand“ eine weitere französische Biographie der Re­vo­lu­tions­zeit. Mirabeau stirbt allerdings schon am 2. April 1792, so dass er die Phase des revolutionären Terrors nicht mehr miterleben musste. Mirabeau stammte aus provenzalischem Adel, hatte aber den Großteil seines Lebens mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sein Vater, der selbst ständig in Geldnot war, weigerte sich, ausreichend für den Unterhalt seines verheirateten Sohns zu sorgen, ließ ihn im Gegenteil mehrfach wegen Schuldenmachens festsetzen und sah sich zum Ausgleich in späteren Jahren der öffentlichen literarischen Kritik seines Sohnes ausgesetzt. Mirabeaus Ehe scheiterte exemplarisch, eine einzige wirklich empfundene Liebesaffäre brachte ihm ein Todesurteil ein, dessen Vollstreckung er erfolgreich ausweichen konnte, und er sah sich genötigt, sich längere Zeit als politischer Publizist über Wasser zu halten. Kurz vor Ausbruch der Revolution geht er im Auftrag des französischen Hofes als Spion nach Preussen, aber der anschließend angestrebte Wechsel in den offiziellen diplomatischen Dienst scheitert ebenso wie spätere Versuche, in den Staatsdienst übernommen zu werden.

Im Jahr 1789 erkennt Mirabeau in der Einberufung der Generalstände seine Chance, politischen Einfluss zu gewinnen. Er lässt sich als einer von wenigen Adeligen als Abgeordneter des Dritten Standes in die Ver­samm­lung wählen und nimmt mit entscheidenden Einfluss auf die Umwandlung der Generalstände in die Nationalversammlung. Als Abgeordneter vertritt Mirabeau eine Linie, für die er auch schon zuvor in seinen Schriften geworben hatte: Er hatte bis zu seinem Tod die Vorstellung, Frankreich in eine konstitutionelle Monarchie zu verwandeln, in der der König als Kopf der Exekutive agiert, die legislative Gewalt aber dem Volk in Gestalt der Nationalversammlung übertragen hat und auf sie höchstens in Form eines Vetos Einfluss nimmt. Er begreift aber erst sehr spät, dass er sich mit dieser Position je länger je weiter von den realen politischen Mög­lich­kei­ten entfernt: Die Revolutionäre lehen immer eindeutiger die Idee vom König als vollwertigem Akteur im politischen Prozess ab, während der Hof seine weitgehende politische Tatenlosigkeit wohl mit der illusionären Hoffnung verbindet, eine der revolutionären Krisen zur Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen nutzen zu können. Jedenfalls dämmert es Mirabeau erst sehr spät, dass der König keinerlei Interesse daran hat, mit ihm zusammen Frankreich zu retten und dabei seine gesetzgeberische Gewalt endgültig aufzugeben.

Abgesehen von seiner zunehmenden Unfähigkeit, sich den konkreten politischen Umständen anzupassen, scheitert Mirabeau auch mit seinem anderen Plan, als Minister – möglichst ohne Portefeuille – in die Regierung zu wechseln. Sein erster Versuch wird von der Na­tio­nal­ver­samm­lung dadurch abgestraft, dass man Abgeordneten grundsätzlich die Annahme eines Regierungsamtes verbietet; aber auch von der anderen Seite besteht nur wenig Interesse daran, den Revolutionär Mirabeau in das königliche Kabinett zu übernehmen. Erst in seinen letzten Jahren gelingt es Mirabeau, den Hof wenigstens zeitweise von seiner Ver­trau­ens­wür­dig­keit und politischen Aufrichtigkeit zu überzeugen und sich als Berater des Hofes, sprich: geheimer Zuträger, zu verdingen. Mit diesem heimlichen Wechsel der Fronten gelingt es ihm, auf einen Schlag seine Schulden loszuwerden und zum ersten Mal ein beträchtliches Einkommen zu beziehen. Sofort schlägt sich seine Eitelkeit in einem Lebensstil nieder, der ihn dem Verdacht aussetzt, im Sold des Königs zu stehen. Um diesem Verdacht entgegenzuwirken, sieht er sich gezwungen, sich als radikaler Revolutionär zu gerieren, was ihm wiederum das Mißtrauen des Hofes einträgt. An keiner Stelle scheint ihm der Gedanke gekommen zu sein, sich politisch klug oder auch nur geschickt zu verhalten oder wie ein solches Verhalten hätte aussehen können.

Bei allem rhetorischen Talent und machtpolitischem Instinkt beweist Mirabeau an keiner Stelle seiner Karriere eine wirkliche politische Begabung: Weder ist er zu einer realistischen Einschätzung der sehr dynamischen politischen Situation in Frankreich in der Lage, noch kann er bei auch nur einer einzigen Entscheidung von seinen Eitelkeiten, seinen egoistischen Interessen oder seiner Geld- und Machtgier absehen. All dies scheint von seinen Zeitgenossen auch recht gut begriffen worden zu sein, so dass sich Mirabeau in allen Phasen seiner politischen Laufbahn erheblichem Widerstand gegenüber gesehen hat; niemals aber scheint ihm die Ursache dieses Widerstands aufgegangen zu sein. Es ist nicht ohne Reiz, darüber zu spekulieren, wann und durch wen Mirabeau der Guillotine zugeführt worden wäre, wäre er nicht bereits 1792 verstorben.

Abgesehen von ihrem eher unerfreulichen Gegenstand ist die Biographie durchaus zu empfehlen. Wie immer gelingt Willms eine klar struk­tu­rie­rte und gut lesbare Darstellung, die sich weitgehend einer moralischen Wertung ihres Objektes enthält. Die Gewichtung des biographischen Materials ist der historischen Rolle Mirabeaus angemessen: Etwa die Hälfte des Buches ist den letzten knapp 3 Jahren in Mirabeaus Leben gewidmet. Als einzigen Mangel könnte man empfinden, dass man sich von den gesellschaftlichen Lebensumständen Mirabeaus in seinen letzten Jahren ein nur fragmentarisches Bild machen kann und dass seine Erkrankung und sein Tod überraschend kurz abgehandelt werden.

Johannes Willms: Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution. München: C. H. Beck, 2017. Pappband, 397 Seiten. 26,95 €.