Benjamin Stein: Replay

Alles weitere geschieht im Hauptquartier …

978-3-406-63005-7Benjamin Stein beweist sich, wie bereits zuvor mit »Die Leinwand«, einmal mehr als Autor außergewöhnlicher Erzählperspektiven. Und wie dort, so ist es auch hier wieder schwierig, das Buch ohne Spoiler zu rezensieren. Die Handlung spielt in einer nicht so weit entfernten Zukunft, in der zumindest in den USA das Goldene Informationszeitalter Wirklichkeit geworden ist. Im Zentrum der Entwicklung dorthin stand der Ich-Erzähler Ed Rosen, der mit einer körperlichen Behinderung geboren wurde: Er ist auf einem Auge blind, wodurch ihm eine Dimension des Sehens fehlt. Während seiner religiösen Ausbildung von kabbalistischer Zahlenmystik fasziniert, studiert er Informatik und spezialisiert sich auf das Proben der digitalen Repräsentation der Wirklichkeit. Nach dem Studium beginnt er bei der kleinen, aber feinen Silicon-Valley-Firma Juan Matanas, eines Exil-Chilenen, der sich für das Problem der Schnittstelle zwischen biologischen und elektronischen Systemen interessiert. Ed Rosen wird für ihn nicht nur zu einem wertvollen Mitarbeiter, sondern aufgrund seiner Behinderung auch zur ersten Versuchsperson bei dem Experiment, die Daten einer elektronischen Prothese direkt ins menschliche Gehirn einzuspeisen.

Wie man sich leicht denken kann, löst das Gelingen dieses Projekts eine technische und kulturelle Revolution aus: Die Lösung des prinzipiellen Problems der digitalen/biologischen Schnittstelle eröffnet nur zu sehr geahnte Möglichkeiten der heraufziehenden Informationsgesellschaft. Alles weitere muss man selbst nachlesen.

Der Text ist ein kleines Meisterwerk: Nicht nur ist er motivisch beeindruckend dicht gearbeitet, er ist mit seinem naiven Erzähler und seinem harmlos optimistischen Auftakt auch von einer ebenso luziden wie boshaften Ironie, wie sie sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur sehr selten finden lässt. In diesem Sinne sei allen Lesern unbedingt angeraten, sich von der scheinbar ziellos dahintreibenden Geschichte der ersten Hälfte des Buches nicht täuschen zu lassen; sie ist die notwendige Folie für das letztendlich sich ergebende Gesamtbild. Überhaupt kann man die erste Hälfte des Buches erst richtig würdigen, wenn man sie mit dem Wissen um das Ganze zum zweiten Mal liest.

Benjamin Stein ist es mit »Replay« nicht nur gelungen, einen würdigen Nachfolger für »Die Leinwand« zu schreiben, sondern auch ein zeitgemäßes und notwendiges Gegenstück zu Orwells »1984«.

Benjamin Stein: Replay. München: Beck, 2012. Pappband, 173 Seiten. 17,95 €.

 

P.S.: Inzwischen gibt es auch einen Filmtrailer zum Buch:

 

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit

Alfred Denker liefert eine »Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger« als Vorarbeit einer umfassenden, dreibändigen Biografie, deren Erscheinen er bereits auf der ersten Seite der einleitenden Bemerkungen androht. Ob wir darauf sehr gespannt warten sollten, ist angesichts von biographischen Plattitüden wie etwa der folgenden eher fraglich:

Freilich übte er [Martin Heidegger] auf Frauen eine fast magische Anziehungskraft aus. Der Eros war in vielfacher Hinsicht bestimmend für sein Leben und Werk und funkelte aus seinen Augen!

»Und ach! sein Kuß!«

Zum Glück verschont uns das vorliegende Buch über weite Strecken mit solch enthusiastischen Einsichten in das Leben Martin Heideggers und konzentriert sich auf seine Philosophie. Das macht die Sache aber nur bedingt besser. Denn während rein sachlich die Darstellung der Denkentwicklung Heideggers (zumindest mich) zu überzeugen vermag, weist das Buch insgesamt doch schwere Mängel auf, die ich im folgenden etwas ausführlicher ansprechen werde. Hinzukommt die Frage, ob die Darstellung als Einführung geeignet ist. Nun besteht ein grundsätzliches Problem philosophischer Einführungen darin abzuschätzen, welche Voraussetzungen sie beim Leser machen können. Dies wird im Fall Heideggers zusätzlich dadurch erschwert, dass seine Philosophie extrem hohe Zugangshürden setzt: Nicht nur hat sie umfangreiche inhaltliche Voraussetzungen (der Leser Heideggers sollte idealerweise nicht nur gute Kenntnisse der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles mitbringen, sondern sollte sich auch grundlegend in der Scholastik auskennen, umfänglich Nietzsche und Kierkegaard gelesen haben und sowohl mit der Phänomenologie Edmund Husserls als auch dem neukantianischen Ansatz Emil Lasks vertraut sein), sondern der Einstieg wird zudem durch die Terminologie Heideggers erschwert, der nicht nur den Gebrauch traditioneller philosophischer Begriffskonzepte bewusst vermeidet, sondern oft auch einzelne philosophische Begriffe inhaltlich neu fasst oder gleich durch Neologismen ersetzt. Wenn es ohnehin häufig so ist, dass der Laie philosophische Texte erst zu verstehen beginnt, wenn er bereits weiß, was sie sagen, so gelingt ihm das im Falle Heideggers oft nicht einmal dann. Für denjenigen, der eine Einführung in das Denken Martin Heideggers liefern will, kommt als Schwierigkeit hinzu, dass sich Heideggers Gedanken zwar im Ungefähren paraphrasieren lassen, eine exakte Darstellung aber in den meisten Fällen von der Verwendung der heideggerschen Wortwahl abhängig bleibt. Und so ist eine Einführung in Heideggers Denken alles andere als eine einfache Aufgabe.

Angesichts dieser Schwierigkeiten zielt Denkers Darstellung offenbar auf ein akademisch vorgebildetes Publikum. Auch Denker gelingt es nicht, sich vom Jargon Heideggers zu lösen und zu einer terminologisch einfacheren und klareren Formulierung der Position zu gelangen, die nicht nur dem Charakter einer Einführung angemessener wäre, sondern auch die dringend notwendige kritische Durchdringung der heideggerschen Metaphysik ermöglichen würde. Stattdessen liefert er eine – soweit ich das beurteilen kann – zwar sachlich einwandfreie, bis auf Details aber unkritisch bleibende Wiedergabe der heideggerschen Denkentwicklung. Dies wird denn auch programmatisch formuliert:

In der Öffentlichkeit hat sich das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt. […] Es ist meines Erachtens Zeit, endlich Widerspruch einzulegen.

Doch auch wenn der Leser alle diese Voraussetzungen als mehr oder weniger unvermeidlich akzeptiert, bleiben, wie bereits gesagt, schwerwiegende Einwände gegen Denkers Buch: Der grundsätzlichste Einwand dürfte der sein, dass Denker an keiner Stelle versucht, Heideggers Philosophie zur historischen Gesamtentwicklung des 20. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Zwar findet sich Heideggers Auseinandersetzung mit Karl Jaspers in einiger Breite, aber alle anderen philosophischen Ansätze, auf die Heidegger nicht selbst unmittelbar reagiert hat, fehlen. Weder wird Heideggers Denken in den Rahmen der allgemeinen Existenzphilosophie des vergangenen Jahrhunderts eingestellt, noch wird sein Denken in Zusammenhang mit oder Gegensatz zu Positivismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie oder Wissenschaftstheorie gebracht, von nichtphilosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen ganz zu schweigen. An einer einzigen Stelle erscheint einmalig das Wort »Quantenphysik« und dies auch nur, um deren Weltbild als »unvorstellbar« zu qualifizieren. Denkers Einführung bleibt hier ebenso wie ihr Gegenstand in einem wesentlichen Sinne provinziell: Die Welt bleibt außen vor, man bewegt sich nahezu ausschließlich in den selbstgeschaffenen bzw. nachgestellten Beziehungen.

Doch auch in dieser Provinzialität ließe sich von Denker ein deutlich kritischerer Abstand zur heideggerschen Position erwarten: Zwar kann er sich dazu durchringen, Heideggers Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus explizit als »Versagen« zu kennzeichnen, doch sieht er dieses Versagen nicht im vollständig mangelhaften Wirklichkeitsbezug Heideggers oder der Unmenschlichkeit seines Verhaltens, sondern »darin, dass er den eigenen methodischen Ansprüchen nicht gerecht wurde.« Dass dies vielleicht ein schlechtes Licht auf eine Methode werfen könnte, wenn sie in Zeiten der Not und Notwendigkeit zu solchem Verhalten führt, spielt in Denkers Überlegungen keine Rolle. Daher wird Heideggers Antisemitismus zwar nicht verschwiegen, aber er wird auch nicht groß thematisiert. Stattdessen erfahren wir ausführlich von Heidegers »misslungenem Versuch von 1933, das deutsche Volk zu einem metaphysischen Volk zu erziehen«. Weder hier noch an anderen Stellen findet sich ein angemessenes Wort über die Hybris Martin Heideggers.

Absurde Züge nimmt dieser Mangel an Distanz dann bei der Wiedergabe von Heideggers Äußerungen zur Kunst an. Denker scheint jeglicher Sinn dafür zu fehlen, um was für einen hochtrabenden Unfug es sich dabei handelt. Sind Heideggers Interpretationen einzelner Kunstwerke, so willkürlich und sachlich unbedarft sie auch sein mögen, sicherlich diskussionsfähig, so ist die auf diesem ganz schmalen Brett erstellte heideggersche Kunstauffassung von einer Borniertheit und Ignoranz, wie sie selten anderswo zu finden sein wird. Denker scheint Heideggers Gedanken über Kunst ohne jegliche Ironie gelesen zu haben. Dies scheint mir nur möglich zu sein, wenn man vom Phänomen der Kunst, insbesondere der Kunst des 20. Jahrhunderts, ebenso weit entfernt lebt wie der Meßkirchner Meister.

Und selbst bei der Darstellung der Spätphilosophie gelingt es Denker nicht, sich vom Faszinosum Heideggers zu befreien. Statt nach seiner endlich doch noch erreichten Einholung des Denkhorizonts Nietzsches die einzige verbleibende Konsequenz zu ziehen und endlich das Reden dort einzustellen, wo nichts mehr zu sagen ist, berauscht sich Heidegger auch weiterhin am eigenen Wort, um nahtlos zu einer neuen Metaphysik des Seyns überzugehen, die jetzt allerdings den unüberbietbaren Vorteil hat, ihre unausgesprochenen Voraussetzungen nicht mehr rational ausweisen zu müssen, da sich angeblich alle Rationalität im historischen Gang der Metaphysik inzwischen selbst terminiert habe. Die Vollendung der Metaphysik ist zugleich die Befreiung zur Neubegründung des philosophischen Geschwätzes aus dem Geist der Vorsokratik unter der Marke »Besinnung«. Das eine wird von der Erfahrung der Wirklichkeit so wenig berührt wie das andere.

Man muss Denker zugestehen, dass er alles Notwendige bereitstellt, um den Leser zu dieser Einsicht gelangen zu lassen, und sich zugleich glücklich dem Formulieren dieser Einsicht entzieht. Er bleibt in der heideggerschen Provinz und erklärt sie zur Welt des Eigentlichen und damit zur eigentlichen Welt. In diesem Sinne kann Denkers Buch als eine nützliche Hilfestellung zur Erledigung der heideggerschen Philosophie gelesen werden: Es ist gut, dies einmal angeschaut zu haben; kehren wir nun zur Realität zurück.

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Bedruckter Pappband, 238 Seiten. 22,95 €.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation

Ich habe mich daher entschieden, diese ganze Komplexität der Wirklichkeit selbst zuzuschreiben, obwohl es natürlich gut möglich ist, daß wir einfach nicht alles hinreichend gut verstehen, um die verborgene Einfachheit zu entdecken.

Überzeugender Entwurf einer evolutionären Genese der menschlichen Sprache: Tomasello geht von Beobachtungen an Schimpansen aus, die sowohl hinweisende Gesten verwenden als auch ein Verständnis dafür zu haben scheinen, dass es sich bei anderen Artgenossen um Wesen mit Intentionen und Wahrnehmungen handelt. Sie scheinen in Gefangenschaft außerdem einen Sinn dafür zu entwickeln, dass Menschen im Gegensatz zu ihren Artgenossen bereit sind, ihnen in altruistischer Absicht zu helfen. Was Schimpansen aber offenbar im Vergleich zum Menschen fehlt, ist die Fähigkeit zusammen mit anderen Individuen gemeinsame Ziele zu entwickeln und zu verfolgen. Kooperationen zwischen Schimpansen basieren demnach nur auf der Verfolgung individualistischer Ziele der Kooperierenden, während bereits menschliche Kleinkinder nicht nur die Fähigkeit zeigen, mit Erwachsenen und anderen Kleinkindern echte gemeinsame Ziele zu verfolgen, sondern ihnen in einigen Fällen die Kooperation selbst wichtiger zu sein scheint als die Erreichung des Zieles.

Tomasello argumentiert dafür, dass die Verwendung von Zeigegesten, die in der kindlichen Entwicklung der Sprache allem Anschein nach als früheste Stufe auftritt, nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch den Übergang zwischen der beschränkten Kommunikation der Schimpansen und der Kommunikation des Menschen markiert. Er vermutet, dass das relativ späte Auftreten des für die differenzierte Lautbildungsfähigkeit des Menschen verantwortliche Gens vor ca. 150.000 Jahren ein Indikator dafür ist, dass der gesprochenen Sprache eine lange Phase der Evolution gestischer Verständigung vorausgegangen ist. Er macht die Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit gestischer Kommunikation an der spontanen Entwicklung differenzierter gestischer Kommunikationssysteme bei gehörlosen Kindern einsichtig.

Tomasellos ergänzende Ausführungen zur Entstehung komplexer Grammatiken und zum Erzählen sind bewusst skizzenhaft gehalten und alles in allem weniger überzeugend als die Darstellung seiner Theorie der Sprachentstehung, was für den eigentlichen Gehalt des Buches aber nur wenig zur Sache tut. Der Hauptteil ist für den Laien verständlich und stilistisch gut geschrieben, wenn auch nicht frei von Redundanzen, was aber sicherlich ein Teil der Leserschaft bei der Differenziertheit mancher Argumentationsstränge nicht als nachteilig empfinden wird.

Spannend fände ich eine Anbindung dieser Theorie an die philosophische Ethik: Sollte sich tatsächlich aus evolutionsbiologischer Sicht argumentieren lassen, dass einer der grundlegenden Schritte der Menschwerdung in der Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung altruistischer Konzepte und Zielsetzungen besteht, ließe sich damit wirkungsvoll gegen das Menschenbild aller sogenannten egoistischen bzw. egozentrischen Ethiken argumentieren.

Eine höchst fruchtbare Lektüre und die erste tatsächlich überzeugende Theorie der Sprachentstehung, die ich kennengelernt habe.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. stw 2004. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 410 Seiten. 15,– €.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter

Ich denke, dass der Wandel der Einstellung gegenüber dem Kaufmann der wichtigste Ausgangspunkt für diese psychische wie kulturelle Wende war.

978-3-608-94693-2Es ist immer angenehm, wenn Historiker unumwunden zugeben, dass für eine ausreichende Darstellung der verhandelten Sache keine ausreichende Quellenlage vorhanden ist, so auch für einen bedeutenden Teil des von Jacques Le Goff in diesem Buch abgedeckten Zeitraums. Zumindest während des Früh- und weiten Teilen des Hochmittelalters hat Geld – sowohl Münzgeld als auch Buchgeld – keine bedeutende Rolle gespielt, ja der exzessive Umgang mit Geld wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Abscheu betrachtet. Zinsnahme galt als unchristlich und moralisch verwerflich, wobei wirtschaftlicher Gewinn im neuzeitlichen Sinne überhaupt unter dem Generalverdacht stand, nur eine Form von Wucher zu sein.

Worauf Le Goffs kurze, bis zum 14. Jahrhundert aber wohl dennoch erschöpfende Darstellung der Geschichte des Geldes im Mittelalter wesentlich abzielt, ist der Nachweis, dass sich von einem mittelalterlichen Kapitalismus nicht sprechen lässt. Dazu stellt er im letzten Teil des Buchs ausführliche den Gedanken der Caritas dar, der im Zentrum mittelalterlich-wirtschaftlichen Denkens gestanden hat. Was Le Goffs Buch sehr deutlich werden lässt, ist, dass neuzeitliche Konzeptionen von Ökonomie im Mittelalter höchstens rudimentär vorhanden waren und im gesellschaftlichen Selbstverständnis eine diametral andere Wertung erfahren haben. Vielleicht ist deshalb gerade das Paradigma des Geldes gut geeignet, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gänzlich anders mittelalterliche Menschen sich und die Welt begriffen haben.

Ein knappes, informatives und zuverlässiges Buch, das allerdings gerade in den frühen darstellenden Passagen aufgrund der dünnen Quellenlage etwas sprunghaft wirkt. Man sollte daher etwas Geduld mit ihm haben.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Pappband, 279 Seiten. 22,95 €.

Colin Crouch: Postdemokratie

Die Demokratie hat einfach nicht mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus Schritt halten können.

978-3-518-12540-3Crouchs Schlagwort von der Postdemokratie wird gerade verstärkt genutzt, was Anlass war, mir den zugehörigen theoretischen Ansatz anzuschauen. Crouch geht von einem Lebenszyklus einer Demokratie aus, der einer nach unten offenen Parabel gleicht. Die westlichen demokratischen Gesellschaften hätten den Höhepunkt dieser Parabel bereits seit langem überschritten und näherten sich daher wieder un- bzw. vordemokratischen Verhältnissen, ohne zu diesen tatsächlich vollständig zurückzukehren. Der Durchgang durch die wahrhaft demokratische Phase hinterlasse untilgbare Spuren, die in der Phase des Verfalls scheindemokratische Strukturen erzeugen, die den Mangel an wirklicher Demokratie überdecken.

Nach Crouchs Auffassung sind die postdemokratischen Verhältnisse dadurch geprägt, dass globale Wirtschaftsunternehmen einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen, nicht nur in dem Sinne, dass sie durch Lobbyarbeit der Politik ihre Ziele vorgeben können, sondern auch in dem, dass Politik sich Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des industriellen Bereichs aneignet und ursprünglich originär politische oder administrative Aufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich auslagert. Dies gehe einher mit einem wachsenden Desinteresse eines Großteils der Bürger an Politik, was sich in schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien niederschlage. Außerdem sei eine fortschreitende Entmachtung der Gewerkschaften festzustellen, so dass der reale Einfluss der breiten Masse der Bevölkerung auf die Politik immer weiter zurückgehe. Die Parteien wiederum unterschieden sich programmatisch immer weniger und setzten in ihren Wahlkämpfen auf eine stärkere Personalisierung. Das Beispiel der Forza Italia, die in ihren Anfängen über die Person ihres Parteiführers Berlusconi hinaus kein weiteres konkretes politisches Programm aufgewiesen und zudem eine erfolgreiche Verbindung von Medienmacht und Parteiarbeit demonstriert habe, stellt für Crouch eine typische Erscheinung postdemokratischer Verhältnisse dar. Crouch setzt an mehreren Stellen als den Umschlagspunkt zwischen demokratischen und postdemokratischen Verhältnissen die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts an.

Ganz unabhängig davon, für wie einleuchtend oder zutreffend man Crouchs Analysen hält, ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dass es sehr prägnant die politische Position eines Sozialisten in postkommunistischer Zeit darstellt. Da Crouch ein vertretbares gesellschaftliches Ideal abhanden gekommen ist, setzt er auf einen relativ vagen Begriff wie Demokratie und identifiziert ihn mit all dem, was er gesellschaftspolitisch für erstrebenswert hält: starke Macht der Gewerkschaften, eine von der globalen Wirtschaft unabhängige politische Ebene, den aufgeklärten, mündigen Bürger, der sich in Parteien und gesellschaftlich engagiert. Ohne nachzuweisen, dass solche Verhältnisse jemals tatsächlich irgendwo existiert haben, wird aus ihrem Nichtvorhandensein eine gesellschaftliche und politische Entwicklung konstruiert, aus der sich ein dringender Handlungsbedarf ableiten lässt. Denn natürlich hat Crouch wenn schon keine Lösung, doch zumindest einen Ausweg aus dem Desaster der Gegenwart (was allerdings sein Modell vom parabelförmigen Lebenszyklus der Demokratie etwas konterkariert): Aktive Bürgerbeteiligung auf zahlreichen politischen Ebenen (so etwa der – Entschuldigung! – schwachsinnige Vorschlag, eine Kommission zufällig ausgewählter Bürger solle einen Monat lang Gesetzentwürfe diskutieren und anschließend rechtskräftig verabschieden) und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den jetzigen demokratischen Parteien und Institutionen und den rezenten Protestbewegungen. Natürlich verrät uns Crouch nicht, wie dies angesichts des von ihm diagnostizierten postdemokratischen Desinteresses der Bürger an der Politik und der grundlegenden Verflechtung von Wirtschaft und Politik realisiert werden soll.

Als Analyse der derzeitigen politischen Verhältnisse etwas grobschlächtig, aber durchaus anregend. In seinem kritischen Potenzial letztlich naiv und nicht ernst zu nehmen.

Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. edition suhrkamp 2540. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschiert, 160 Seiten. 10,– €.

Jahresrückblick 2011

In news:de.rec.buecher wird zum Jahresende regelmäßig die Frage nach den drei besten und drei schlechtesten Büchern gestellt, die man im vergangenen Jahr gelesen habe. Da ich drb inzwischen nicht mehr verfolge, werde ich von nun an meinen Jahresrückblick hier publizieren.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe – solche Bücher erscheinen einmal in zehn, vielleicht auch nur einmal in zwanzig Jahren.
  2. Wolfgang Koeppen: Trilogie des Scheiterns – eine der wenigen gelungenen deutschsprachigen Fortsetzungen der frühen europäischen Moderne nach dem zweiten Weltkrieg.
  3. Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe – ein erstaunlich vielfältiges Buch auf gewollt reduzierter Basis.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Michel Onfray: Anti-Freud – redundante und dumme Polemik gegen eine missverstandene Vaterfigur.
  2. Matthias Matussek: Wir Deutschen – »Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte.«
  3. Janne Teller: Nichts – hybrider und banaler Versuch über den Nihilismus.

 

Stephen King: 11/22/63

king-11-22-63Nach sicherlich mehr als 20 Jahren der erste Stephen King, der mich wieder interessiert hat. Wie der Titel und noch mehr das Cover des Buches klar machen, geht es um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas. Gemäß dem Nachwort des Autors ist das Roman-Projekt etwa 40 Jahre alt, erschien King Anfang der 70er Jahre aber als zu aufwändig. Inzwischen ist King Inhaber einer gut laufenden Literatur-Werkstatt, die ihm in solchen Fällen zuarbeiten kann. Wer allerdings damit rechnet, in diesem Buch irgendwelche Einsichten zum Kennedy-Attentat zu finden, die über jede beliebige populäre Darstellung der Ereignisse hinausgeht, ja sie auch nur einholt, wird sich enttäuscht sehen. Das Buch ist in jeder Hinsicht banal.

Erzählt wird es von einem etwa 30 Jahre alten Englischlehrer, Jake Epping, der vom Besitzer eines Schnellrestaurants seiner Kleinstadt in ein Geheimnis eingeweiht wird: Im Hinterraum des Restaurants findet sich eine unsichtbare Treppe, die hinunter ins Jahr 1958 führt. Diese Tür in die Vergangenheit folgt einigen merkwürdigen Gesetzen: Jeder Gang in das Jahr 1958 führt immer an denselben Zeitpunkt und wenigstens auf den ersten Blick immer zu derselben Ausgangskonstellation. Jede Veränderung, die der Zeitreisende an der Vergangenheit vornimmt, wird durch seinen nächsten Besuch also wieder aufgehoben. Zum anderen vergehen in der Gegenwart immer nur zwei Minuten zwischen dem Beginn und dem Ende der Zeitreise, ganz gleich wie lange der Zeitreisende in der Vergangenheit bleibt.

Der Restaurantbesitzer, Al, hat diesen Zugang jahrelang dazu genutzt, um im Jahr 1958 preiswert Fleisch für sein Restaurant einzukaufen, bis er auf den Einfall gekommen ist, ihn für etwas Sinnvolleres zu gebrauchen. Sein Plan war es, das Kennedy-Attentat zu verhindern, auch hat er einige Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet, wurde dann aber mit Krebs diagnostiziert und ist nun auf den Tod erkrankt und vererbt Jake sein großes Projekt zur Verbesserung der Gegenwart. Seiner Idee liegen folgende Annahmen zugrunde: Lee Harvey Oswald war als Einzeltäter verantwortlich für die Ermordung Kennedys, und Kennedys Überleben verhindert die Ausweitung des Vietnam-Krieges, die Ermordung Martin Luther Kings und die Rassenunruhen in den USA.

Nach einem Probelauf, der nur halbwegs erfolgreich verläuft, entschließt sich Epping, den Plan auszuführen. Offensichtlich muss er zu diesem Zweck mehr als fünf Jahre in der Vergangenheit verbringen, was King die Chance gibt, ein Zeitporträt der USA dieser Jahre zu liefern. Dieser Teil des Romans ist ordentlich recherchiert, zielt aber offenbar auf Leser ab, die sich nicht für die anderen Romane, die diese Zeit beschreiben, interessieren und das alles nur deshalb lesen, weil es in einem King-Roman vorkommt. Weder ist Kings Bild der Zeit irgendwie überraschend, noch von originellen Perspektiven oder Einsichten getragen. Um das ganze ein wenig interessanter zu machen, erfindet King für seinen Protagonisten eine etwas schmalzige Liebesgeschichte, die ihre Energie aus der sexuellen Verklemmtheit der 50er Jahre bezieht, der man aber immerhin zugestehen muss, dass King auf die in der Trivialliteratur inzwischen weit verbreitete exzessive Darstellung des Geschlechtsaktes verzichtet. Dies wird durch mehrere explizit gewalttätige Szenen mehr als ausgeglichen.

King braucht immerhin bis zur Hälfte des Romans, bis Oswald zum ersten Mal auftritt, und er braucht weitere hunderte, endlose Seiten bis es endlich zum entscheidenden Punkt kommt: Epping schafft es gegen nahezu überwältigende Widerstände der Vergangenheit gerade so, das Attentat zu verhindern, doch kommt dabei natürlich seine große Liebe ums Leben. In die Gegenwart zurückgekehrt, muss er allerdings einsehen, dass sein Eingreifen in den Ablauf der Geschichte zu katastrophalen Zuständen geführt hat: Die gesamte Welt wird von tektonischen Unruhen erschüttert, die den Planeten zu vernichten drohen (die schlechthin nur als blödsinnig zu bezeichnende Erklärung hierfür erspare ich mir nachzuerzählen), die alltäglichen Verhältnisse in den USA sind weit mehr als zuvor von Armut, Gewalt und offenem Rassismus gekennzeichnet, und überhaupt hat sich, wie ihm in einem auf wenige Seiten zusammengedrängter Überblick über die Geschichte nach 1963 zeigt, alles zum Schlimmeren gewendet. Wie gut also, dass er alles wieder rückgängig machen kann; und so geschieht es denn auch. – Puh! Gerade noch einmal gut gegangen.

Erzählerisch wird hier ein sehr dünnes Brett gebohrt. Man mag King die grundsätzliche Schwäche verzeihen, die jegliche Zeitreise-Erzählung unausweichlich mit sich bringt. Zwar versucht er den schlimmsten Paradoxien durch seine merkwürdige Konstruktion zu entgehen, das erklärt aber nicht, warum sein Protagonist tatsächlich fünf Jahre warten muss, um das Attentat zu hindern: Er könnte Oswald auch bei erstbester Gelegenheit ermorden (dass er mit einer solchen Lösung nur wenig Schwierigkeiten hat, stellt er zuvor bereits unter Beweis), in die Gegenwart zurückkehren, schauen, ob sich der gewünschte Effekt eingestellt hat und im Fall des Nichtgelinges einfach den nächsten Versuch starten. Aber das taugt natürlich nicht für einen Hollywood-Showdown, wie King ihn offensichtlich beabsichtigt und seine Leser erwarten.

Viel ärger dagegen ist, dass King rücksichtslos Seiten schindet: Der Roman hat fürchterlichen Leerlauf, in dem nur Dinge und Ereignisse erzählt werden, die für die Fabel vollständig unerheblich und auch gänzlich beliebig sind und im besten Falle nur dazu dienen, die unvermeidlichen Ereignisse um nochmals zehn, zwanzig Seiten zu verzögern. Die wirklich interessanten Seiten des Stoffes bleiben dagegen komplett unterentwickelt: Weder erfährt der Leser auch nur ein neues oder originelles Detail zum Kennedy-Attentat, noch, und das ist das eigentliche Versäumnis des Buches, werden die politischen und historischen Folgen der Verhinderung des Kennedy-Attentats, also eine alternative Historie der USA und der Welt auch nur ansatzweise angemessen ausgeführt. Ich will einmal ganz davon absehen, dass die sogenannten Tatsachen des Kennedy-Attentats augenscheinlich  gegen die These des Einzeltäters sprechen, ohne dass damit gesagt sein soll, dass irgendeine der diskutierten Verschwörungstheorien diese Tatsachen besser zu erklären vermag.

Eine durch und durch enttäuschende Lektüre.

Stephen King: 11/22/63. Kindle-Edition, 2011. 1759 KB (853 Seiten). 11,99 €.

Drei Symposien

… und sie seien genötigt worden, ohne jede Ordnung Unmengen von Wein zu trinken.

Bei der sogenannten Symposienliteratur handelt es sich um das antike Pendant zur Talkshow: Der Autor lässt mehr oder weniger berühmte Zeitgenossen zusammenkommen, die sich bei Gelegenheit eines abendlichen Festes mehr oder weniger intelligent über philosophische, politische oder auch einfach nur tagesaktuelle Themen unterhalten. Dabei tut es in der Antike wenig zur Sache, ob diese Gespräche tatsächlich so stattgefunden haben, so wie es heute wenig zur Sache tut, ob die Politiker das tatsächlich glauben, was sie von sich geben, oder ob irgend etwas von dem Gesagten richtig ist.

Urmuster aller Symposienliteratur sind – wenigstens aus unserer Sicht – zwei Texte: Das Platonische »Gastmahl« und das sich offensichtlich auf diesen Text beziehende Buch Xenophons mit demselben Titel. Allerdings sind diese beiden Vorlagen von höchst unterschiedlichem literarischen Gewicht, was man besonders deutlich spürt, wenn man beide unmittelbar nacheinander liest. In beiden tritt als zentrale Figur der Philosoph Sokrates auf, der aber von beiden Autoren, die beide das lebende Vorbild persönlich gekannt haben, sehr unterschiedlich geschildert wird; doch dazu später noch ein paar Sätze.

978-3-15-018435-6Platons »Symposion« nimmt den Sieg des Philosophen und Schriftstellers Agathon, eines der Schüler des Sokrates, mit seiner ersten Tragödie bei einem der Feste zu Ehren des Dionysos (wahrscheinlich im Jahr 416 v. u. Z.) zum Anlass für ein abendliches Gelage. Es ist der Tag nach dem Sieg; bereits am Vorabend haben der Dichter und einige seiner Freunde ein ausschweifendes Fest gefeiert, von dem die nun im Hause des Agathon zusammenkommenden Freunde noch gezeichnet sind. Man beschließt deshalb gleich zu Anfang des Festes, heute Mäßigkeit walten zu lassen und sich nicht wieder so zu besaufen wie am Vortag. Stattdessen will man lieber ein kultiviertes Gespräch pflegen, wozu der Sokrates-Schüler Phaidros das Thema vorgibt: den Gott Eros, dessen Kult unverständlicher Weise nicht seiner umfassenden Stellung im Kosmos entspreche.

Am Fest nehmen vorerst außer dem Gastgeber und den schon erwähnten, Sokrates und Phaidros, drei weitere Gäste teil: der Adelige Pausanias, der Arzt Eryximachos und der Komödienautor Aristophanes. Es wird beschlossen, dass jeder der Anwesenden reihum eine Rede auf den Eros halten solle, wobei der Gott Dionysos selbst als Schiedsrichter angerufen wird, der am Ende entscheiden solle, wer die beste Rede gehalten habe.

Phaidros, der das Thema vorgeschlagen hat, beginnt: Er erklärt Eros für die älteste aller Gottheiten, der es zu verdanken ist, dass überhaupt Ordnung (κόσμος) aus dem ursprünglichen Chaos entstanden sei. Insofern sei Eros der Ursprung aller anderen Götter und ihm sollte als alles durchdringendes Prinzip gehuldigt werden. Phaidros’ sehr allgemein gehaltenen Ausführungen folgt die Rede des Pausanias, der zwischen zwei Formen des Eros unterscheiden möchte: Ebenso wie sich die himmlische Aphrodite (A. urania) von der gewöhnlichen Aphrodite (A. pandemos) unterscheide, so auch der sie jeweils begleitende Eros. Der himmlische Eros verkörpere im Gegensatz zum gewöhnlichen eine reine, sexuelle Befriedigung verachtende Liebe, wie sie vorzüglich im Verhältnis von Männern und Knaben zueinander vorkomme. Diese Ausführungen dienen im wesentlichen als propädeutische Hinführung zu den Gedanken des Arztes Eryximachos, der berufsbedingt grundsätzlich physiologisch argumentiert: Für ihn ist der wahre Eros eine Frage der Harmonie von einander widerstrebenden Prinzipien. In allem gelte es das rechte Maß zu finden, um, wie in der Musik, das Auseinanderstrebende in Einklang zu bringen.

Auch dies erweist sich letztlich nur als eine Hinführung zur Erzählung des Aristophanes: Der Komödiendichter erfindet ad hoc eine Mythologie der Sexualität, die sicherlich zu den meist rezipierten Stellen der antiken Literatur gehört: Der Mensch habe in prähistorischer Zeit in drei Geschlechtern existiert, einem weiblichen, einem männlichen und einem androgynen. Um die Menschen für ihren Übermut gegen die Göttern zu bestrafen und sie daran zu hindern, den Himmel zu stürmen, habe Zeus sie geteilt. Aus ihrer vierbeinigen, runden Form habe er sie zu zweibeinigen Wesen gemacht, die nun unter der Drohung einer nochmaligen Teilung in Furcht vor den Göttern existieren. Aus dieser Teilung resultiert die Leidenschaft des Eros, da alle Menschen nun auf der Suche nach ihrem fehlenden Gegenpart sind, mit dem sie sich wieder zu vereinigen suchen. Diejenigen deren Ursprung ein männlicher Vierbeiner gewesen sei, suchten ihre Ergänzung als Mann bei Männern, so wie die Frauen von rein weiblichem Ursprung die Liebe der Frauen suchten; die Androgynen neigen verständlicher Weise zum jeweils anderen Geschlecht. Hier werden nicht nur homo- und heterosexuelle Liebe als gleichwertig und aus gleichem Ursprung stammend begriffen, sondern dies ist auch die erste Stelle der Weltliteratur an der weibliche und männliche Homosexualität als wesenhaft identisch beschrieben werden. Diese schlichte Fabel ist von erstaunlicher Klarheit und öffnet sich leicht zahlreichen deutenden Zugriffen.

Den Abschluss des rhetorischen Vorspiels bildet eine Lobrede des Agathon auf den Eros als jüngsten, schönsten und glückseligsten Gott, der sogar als König der Götter bezeichnet wird. Besonders die Charakterisierung des Eros als Jüngstem unter den Göttern, die in direktem Widerspruch zu der anfänglichen Rede des Phaidros steht, macht klar, dass die Reden in ihrer Gesamtheit einen kompletten dialektischen Zyklus durchlaufen haben und als eine durchkomponierte Einheit aufgefasst werden sollen. Es folgt als nächster Schritt die Rede des Sokrates, der Eros nicht als Gott, sondern als Dämon (δαίμων) definiert. Wie sooft bei Platon macht Sokrates dezidierte inhaltliche Aussagen nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern er zitiert, was andere gesagt haben. In diesem Fall handelt es sich um eine der wirkungsmächtigsten Frauenfiguren der Antike: die Priesterin Diotima, die angeblich den jungen Sokrates über die Mysterien des Eros belehrt habe.

Eros, so lehrt sie, ist ein Sohn von Mangel (Πενία) und Ausweg (Πόρος), von daher schon in seinem Ursprung als ein Mangelwesen bestimmt. Gerade weil es ihm an all dem mangelt, was ihm Agathon gerade als wesenhaft zugeschrieben hat, strebt er beständig danach, es zu erreichen: Er ist nicht schön, nicht vollkommen, nicht glückselig und besonders nicht unsterblich und daher auch nicht göttlich, sondern ein Zwischenwesen zwischen den sterblichen Menschen und unsterblichen Göttern. Aus dem Streben des Eros nach der Unsterblichkeit folgt auch das Bedürfnis der ihm verwandten Sterblichen nach Ruhm und ihr Verlangen, sich in ihren Kindern und Kindeskindern fortzuzeugen. Auch der platonische Aufstieg des Philosophen von der Schönheit der Körper über die Schönheit der Seelen und der Schönheit der Erkenntnis schließlich zur Erkenntnis der Idee der Schönheit selbst folgt direkt aus dem dem Eros verdankten Streben nach der Aufhebung des prinzipiellen Mangels der körperlichen, endlichen Existenz.

Sokrates wird in seinen Ausführungen unterbrochen durch die unerwartete Ankunft des volltrunkenen Alkibiades. Alkibiades tritt geschmückt mit allen Attributen des Gottes Dionysos auf, und er ist enthusiasmiert vom Wein. Seine Aufgabe ist es, die abschließende Rede des Symposions zu halten, in der durch ihn hindurch der Gott Dionysos selbst Sokrates als die ideale Verkörperung des Eros auszeichnet: Auch er ermangelt der Schönheit und Weisheit, strebt aber in jedem Moment seines Lebens nach ihnen. Er sucht Erkenntnis zu erlangen, verachtet die Genüsse und Anfechtungen der körperlichen Existenz, wie sein Verhalten in Liebesdingen und unter den harten Anforderungen des Krieges unter Beweis gestellt hat. Nach dieser Lobrede geht das Symposion in ein allgemeines Besäufnis über, in dem sich Sokrates einmal mehr als der einzige beweist, der dem Gott Dionysos nicht unterliegt. Als alle schon schwer betrunken mit Schlaf kämpfen oder ihm bereits erlegen sind, ist er noch immer munter:

Die Hauptsache sei jedoch gewesen, dass Sokrates sie genötigt habe zuzugeben, dass es die Aufgabe ein und desselben Mannes sei, sich auf die Dichtung von Komödien und Tragödien zu verstehen, und dass der professionelle Tragödiendichter auch Komödiendichter sei. Zu diesem Eingeständnis genötigt, seien sie – nicht richtig in der Lage zu folgen – eingenickt.

Diese letzte Bemerkung allein, die noch einmal das den ganzen Text bestimmende Spiel von Ernsthaftigkeit und ironischer Distanzierung, von Scherz und Philosophie, von hohler Rhetorik und tiefsinniger Allegorie zusammenfasst, ist eine der wundervollsten Stellen der antiken Literatur. Das ganze Stück ist von einer Ausgewogenheit der Komposition, von einer zugleich formalen Strenge und inhaltlichen Leichtigkeit, dass man lange suchen muss, um ihm etwas literarisch annähernd gleichrangiges an die Seite zu stellen.

978-3-15-002056-2Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt dagegen das »Gastmahl« Xenophons. Seine in Teilen gewollt wirkende Kunst- und Anspruchslosigkeit ist seit der Antike immer wieder als Indiz für den Realismus des Stücks gedeutet worden. Noch eine der neueren, populären Editionen der sokratischen Schriften Xenophons (Eichborn, 1998) will die Frage, ob es sich dabei um ein getreues Abbild der athenischen Gesellschaft und besonders des Sokrates handelt, zumindest unentschieden lassen. Dabei wurde bereits in der Spätantike der Nachweis geführt, dass es sich beim »Gastmahl« Xenophons um eine ebensolche Fiktion handelt wie beim platonischen. Im Gegensatz zum platonischen Text fehlt jeder Versuch einer durchgängigen Komposition, ja, literarische Härten werden der realistischen Wirkung halber bewusst im Kauf genommen.

Das Gastmahl findet in diesem Fall im Hause des reichen Kallias statt, dessen Hauptlebensinhalt es war, das väterliche Erbe durchzubringen, was ihm wohl auch mehr oder weniger gelungen zu sein scheint. Kallias befindet sich mit dem jungen Autolykos, einem erfolgreichen Sportler, in den er verliebt ist, und dessen Vater auf dem Weg von einem Pferderennen nach Hause, als er unterwegs zufällig auf Sokrates und eine Gruppe seiner Begleiter trifft und sie zu einer Feier in seinem Hause einlädt. Sokrates ziert sich ein wenig, da Kallias sonst ausgiebig Umgang mit den Sophisten pflegt, will ihn aber letztlich nicht vor den Kopf stoßen und nimmt die Einladung daher an. Dort angekommen werden erst einmal Tanz und Flötenspiel der herbeigeholten Unterhaltungskünstler rezensiert, bevor man eine allgemeine Gesprächsrunde darüber eröffnet, auf welche seiner Fähigkeiten oder Eigenschaften jeder Gast besonders stolz ist. Dabei zeichnet sich Sokrates vor allen anderen durch seine auf den ersten Blick paradoxe Antwort aus, er sei auf seine Fähigkeiten als Kuppler besonders stolz. Die Erklärungen der einzelnen Gäste zu ihren Fähigkeiten werden von den anderen durch zahlreiche teils witzige, teils spöttische Anmerkungen kommentiert. Bei den Ausführungen des Sokrates versucht sich Xenophon dann in einer Parodie der platonischen Dialoge, indem er den Sokrates in der üblichen Manier Fragen stellen lässt, die die anderen Gäste stur immer erneut nur mit der einzigen Phrase πάνυ μὲν οὖν – einer im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Häufung dreier bestätigender Wörter, ungefähr wie aber selbst doch freilich – beantworten.

Nach einem weiteren Zwischenspiel der kleinen Animationstruppe versucht Xenophon, sein »Symposion« in unmittelbare Konkurrenz zum platonischen zu stellen, indem er Sokrates eine ausführliche  und gelehrte Rede zum Lobe des Gottes Eros halten lässt, die nicht nur inhaltlich, sondern auch ihrem Grundcharakter nach allem widerspricht, was wir aus den platonischen Frühschriften an Darstellungen des Sokrates kennen. Diese Rede führt zudem die gesamte Anlage der Erzählung als eine über ein geselliges Zusammensein derartig in eine Sackgasse, dass Xenophon sich nur mit einer höchst hölzernen Wendung aus ihr zu retten weiß:

Damit endete diese Gespräch. Autolykos – es war bereits Zeit für ihn – stand zu einem Spaziergang auf, und sein Vater Lyon wollte mit ihm hinausgehen, als er sich noch einmal umdrehte  und sagte: »Bei der Hera, Sokrates, du scheinst mir ein Mensch von sittlichem Adel zu sein!«

Nichts in diesem »Gastmahl« kann auch nur für einen Moment ernsthaft mit dem konkurrieren, was das platonische Vorbild bietet. Sein Witz ist vergleichsweise platt, seine Figurengestaltung mehrheitlich eindimensional, wenn nicht gar einfältig, sein Moralisieren naiv und ohne jeden Esprit. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Schriftsteller deutlich überhebt, indem er versucht mit einem Autor in Konkurrenz zu treten, dem er weder literarisch noch inhaltlich das sprichwörtliche Wasser reichen kann. Über eine rein historische Ebene hinaus ist dieser Text schlicht eine Enttäuschung.

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Vergleichsweise erfrischend ist Lukians Parodie auf die Symposienliteratur: Bei ihm kommen die vortrefflichsten Vertreter diverser philosophischer Schulen bei der Hochzeit der Kinder zweier Geldadliger zusammen. Diese führenden Köpfe der Stadt sind während des Festes in der Hauptsache damit beschäftigt, einander gegenseitig schlecht zu machen und sich nach Möglichkeit die besten Stücke auf der Tafel wegzuschnappen. Das ganze endet denn auch konsequent in einer großen Schlägerei, aus der fast alle Beteiligten mit erheblichen Blessuren hervorgehen: einem der Philosophen fehlen am Ende die Nase und ein Auge, die er in der Hand vom Schlachtfeld des Symposions trägt, was einen seiner philosophischen Kollegen nur zu einer höhnischen Bemerkung mehr veranlasst. Lukians Erzähler wenigstens zieht eine nützliche Lehre aus dem Geschehen:

Ich für meinen Teil habe mir diese Moral daraus gezogen: daß es für einen, der kein Freund von bösen Händeln ist, eine gefährliche Sache sei, sich mit Philosophen dieses Schlages zu Gast bitten zu lassen. [Übers. v. Christoph Martin Wieland]

Vielleicht sollte man doch dem ein oder anderen heutigen Talkshow-Gast die Lektüre wenigstens des lukianschen »Gastmahls« ans Herz legen …

Platon: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. RUB 18435. Stuttgart: Reclam, 2006. Broschur, 215 Seiten. 5,– €.

Xenophon: Das Gastmahl. Griechisch/Deutsch. Hrsg. u. übers. von Ekkehard Stärk. RUB 2056. Stuttgart: Reclam, 1986. Broschur, 127 Seiten. 4,– €.

Lukian: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Julia Wildberger. RUB 18377. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 95 Seiten. 3,– €.